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Multimedia-Tipp: Ortsbesuch im Matsch: Udo entfacht Wissenschaftler-Streit

Doktorandin Josi Hartung arbeitet im Grabungslager in der Hammerschmiede. Sie steht direkt an der Stelle, an der die Überreste von Udo gefunden wurden.
Foto: Ida König
Multimedia-Tipp

Ortsbesuch im Matsch: Udo entfacht Wissenschaftler-Streit

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    Im Jahr 2020 waren wir für Sie in Bunkern und Kanälen, auf Autobahnen und in Supermärkten unterwegs. Unsere Eindrücke haben wir nicht nur aufgeschrieben – sondern auch in Videos oder 360-Grad-Fotos festgehalten. Diese Multimedia-Reportage interessierte besonders viele Menschen. Viel Spaß beim Lesen und Anschauen!

    Der Arbeitsplatz in der Hammerschmiede ist nicht unbedingt etwas für jeden Geschmack. Der Untergrund der Tongrube ist extrem matschig, und der Ratschlag der Paläontologin Professor Madelaine Böhme am Vortag am Telefon – „Nehmen Sie Gummistiefel mit! Nein, Bergschuhe reichen nicht, wirklich nicht“ – erweist sich als überaus segensreich. Man kommt sich fast vor wie ein Astronaut auf einem fremden Planeten, weil man sich so vorsichtig bewegen muss. Jederzeit auf der Hut sein, dass einem der klebrige Matsch beim Gehen die Gummistiefel nicht entreißt.

    Die Hammerschmiede, ein Ortsteil der Gemeinde Pforzen im Ostallgäu. Das ist also der Ort einer wissenschaftlichen Weltsensation. Hier, mitten im Wald, nur ein paar Kilometer nördlich von Kaufbeuren, soll vor 11,6 Millionen Jahren Udo herumgelaufen sein.

    An Udos Fundort in der Hammerschmiede wird immer noch gegraben

    Gelaufen! Und zwar aufrecht, als möglicherweise einer der ersten Vorfahren des Homo sapiens – so die These von Madelaine Böhme. Und damit etliche Millionen Jahre vor jenem Zeitraum, der bislang in der Wissenschaft als erste Phase des aufrechten Ganges gilt. Worüber nun auch noch ein Gelehrtenstreit entstanden ist, über den Atlantik hinweg. Doch davon später. Interessierte Bürger bekommen Udo – zumindest ein lebensgroßes Modell von ihm – übrigens bald zu sehen. Eine Wanderausstellung startet am 24. Oktober in Pforzen.

    „An dieser Stelle haben wir am 17. Mai 2016 die Überreste von Udo gefunden“, sagt Josi Hartung und zeigt auf ein Areal etwas unterhalb von Ham 5. Hammerschmiede 5, so lautet die Bezeichnung eines der Grabungslager in der riesigen Tongrube. Die 25-jährige Doktorandin der Paläontologie hat an diesem Tag die Leitung der Grabungsarbeiten inne, weil Madelaine Böhme gerade am heimischen Lehrstuhl in Tübingen beschäftigt ist.

    Die schlanke, junge Frau hat so gar nichts vom (Film-)Klischee einer oder eines vergeistigten und womöglich in Hieroglyphen versunkenen Archäologen. Sie führt die Besucher flink durch den Matsch hinauf zu Ham 4, wo an diesem Tag aktiv weitergegraben wird. „Wenn man nicht aufpasst, rutscht man plötzlich bis zu den Hüften in tiefe Wasserlöcher“, sagt sie. Darum ist die Tongrube, die schon lange von einer Baufirma genutzt wird, für die Öffentlichkeit nicht frei zugänglich – aus Sicherheitsgründen.

    Korrekt heißt Udo "Danuvius guggenmosi"

    Es ist also schon viereinhalb Jahre her, dass Madelaine Böhme und ihr Team insgesamt 21 Knochen des Skeletts von Udo fanden. Ein in verhältnismäßig sehr großen Teilen erhaltenes Skelett, denn normalerweise „überleben“ viele Knochen die Jahrmillionen nicht. Im Gegensatz zu Zähnen, der härtesten Substanz eines Organismus. Böhme taufte den Fund auf den Namen Udo, weil Udo Lindenberg an diesem Tag 70 Jahre alt wurde. Udos korrekter Name lautet Danuvius guggenmosi. Danuvius nach dem keltisch-römischen Flussgott Danuvius und dem Bezug zur – relativ – nahe gelegenen Donau. Und Guggenmosi nach dem Hobbyarchäologen und gebürtigen Kaufbeurer Sigulf Guggenmos, der bereits in den siebziger Jahren in der Hammerschmiede gegraben und die Bedeutung der Fundstätte erkannt hatte. Er erlebte den Sensationsfund zwar noch mit, starb aber 2018.

    Die Grabungsstätte ist eine Tongrube in der Hammerschmiede bei Pforzen im Ostallgäu.
    Die Grabungsstätte ist eine Tongrube in der Hammerschmiede bei Pforzen im Ostallgäu. Foto: Ida König

    Was ist nun so besonders an Udo? So besonders, dass sogar ein amerikanischer Anthropologe in Nature, dem renommierten Wissenschaftsmagazin schlechthin, die Thesen anzweifelt? Und Madelaine Böhme gleich noch für die gleiche Ausgabe eine Replik schreiben durfte?

    Um dies zu erläutern, muss man etwas ausholen. Von der zoologischen Einteilung her gibt es auf der Welt derzeit vier Menschenaffengruppen: Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und – uns. Der Homo sapiens ist aktuell und formal die vierte Menschenaffengattung auf der Erde. Das offensichtlichste Kennzeichen des Menschen als Unterscheidungsmerkmal zu den anderen drei Gattungen ist sein aufrechter Gang. Auch wenn wir uns natürlich nicht als Affen verstehen, sind wir genetisch eng mit den anderen Arten verwandt. So deckt sich das Erbgut des Menschen mit Gorillas zu 98,3 Prozent, mit Schimpansen gar zu 98,7 Prozent.

    Die strittige Frage lautet nun: Wann begann der aufrechte Gang? Zwar können Schimpansen oder Gorillas auch aufrecht gehen. Aber nur wenige Meter. Dann wird es ihnen zu anstrengend. So, wie es uns nicht einfallen würde, auf allen Vieren durch die Stadt zu laufen.

    Udo ist wohl bereits vor 11,6 Millionen Jahren aufrecht gegangen

    Der aufrechte Gang befähigte den Menschen, kilometerweit auf zwei Beinen zu gehen. Er war so in der Lage, zu einem erbarmungslosen Jäger zu werden, der seine Beute regelrecht zu Tode hetzen konnte. Die zwar meist schneller war, aber nicht so ausdauernd. Wie jeder weiß, können Menschen mit gewissem Trainingsaufwand die 42 Kilometer eines Marathonlaufes noch heute am Stück rennen.

    Um aufrecht gehen zu können, musste die eigentlich gerade Wirbelsäule S-förmig werden, um die Stöße des Laufens abfedern zu können. Längere Ober- und Unterschenkelknochen waren nötig. Statt einer stabilen, eher starren Hüfte, sinnvoll beim Klettern in Bäumen, brauchte der Aufrechtgehende eine flexible Hüfte. Die Folge sind völlig andere Knochenstrukturen.

    Repliken der gefundenen Knochenfossilien sind in die Udo-Nachbildung aus Lehm integriert.
    Repliken der gefundenen Knochenfossilien sind in die Udo-Nachbildung aus Lehm integriert. Foto: Marijan Murat, dpa

    Bislang nahm die Wissenschaft an, aufgrund von eben solchen bestimmten Knochenfunden, dass der aufrechte Gang vor sieben bis drei Millionen Jahren entstand. Und zwar in Afrika. Die Kandidaten dafür weisen Namen auf, die man sich kaum merken kann: Sahelanthropus tchadensis, Orrorin tugenenis und Australopithecus afarensis.

    Das Sensationelle an den Fundstücken aus der Hammerschmiede ist nun: Der Fund ist 11,6 Millionen Jahre alt. Er verweist auf aufrechten Gang (unter anderem mit einer verlängerten Lendenwirbelsäule und Merkmalen einer X-Beinstellung) und liegt auch noch außerhalb Afrikas. Besonders Letzteres hat eine wissenschaftspolitische Brisanz, wie sich noch zeigen wird.

    Über Udos aufrechten Gang ist ein Streit unter Wissenschaftlern entbrannt

    2019 veröffentlichte Madelaine Böhme ihre Erkenntnisse – natürlich in Nature. Mit dem bekannten weltweiten Echo. „Am 7. November 2019 erhielt ich von einem amerikanischen Paläontologen namens Scott Williams eine E-Mail mit Fragen zu meinem Fund“, berichtet Böhme nun unserer Redaktion. „Ich teilte ihm mit: Lassen Sie uns am Original diskutieren. Und lud ihn hierher nach Tübingen ein.“

    Ein US-Kollege von Williams, der Paläontologe Jeremy DeSilva, war einer solchen Einladung gefolgt – und folgte nach dem Besuch in Deutschland auch Böhmes Thesen. „Das ist wichtig in der Paläontologie. Man muss am Objekt sein, es haptisch erleben können“, erzählt Böhme. Stattdessen hörte sie von Williams erst einmal nichts mehr.

    Bis sie dann von Nature erfuhr, dass Williams ihre Thesen anzweifelt. Und in einem für Laien unverständlichen, englischsprachigen Artikel sagt, dass die Knochenfunde aus der Hammerschmiede nicht ausreichen, den aufrechten Gang in der Ebene zu belegen.

    Prof. Dr. Madelaine Böhme im Ausstellungsraum der Universität Tübingen. Links im Bild die Elle und das Schienbein von Udo.
    Prof. Dr. Madelaine Böhme im Ausstellungsraum der Universität Tübingen. Links im Bild die Elle und das Schienbein von Udo. Foto: Christoph Jäckle

    „Da war ich etwas enttäuscht“, sagt Madelaine Böhme. „Zumal ich nie geschrieben habe, dass sich Udo aufrecht am Boden bewegt hat, sondern als erster aufrecht in den Bäumen unterwegs war.“ Flugs widersprach sie in Nature den Vorwürfen und formulierte ihre Argumente erneut. „Eigentlich ist es normal in der Wissenschaft, dass man eine These veröffentlicht – und diese dem Wechselspiel der Gegenthese aussetzt. Das ist halt so. Das muss man aushalten.“

    Sie vermutet hinter dem Vorgang noch andere Gründe. „Ich hatte Williams nach Tübingen eingeladen, da war von Corona noch gar nicht die Rede. Er hätte also kommen können.“ Aber auch in der Wissenschaft gebe es Eitelkeiten. Und in der Paläontologie eine Besonderheit: Funde von möglichen Vorfahren des Menschen gibt es nur in der Alten Welt.

    Das sind in diesem Zusammenhang alle Erdteile außer dem amerikanischen Doppelkontinent. Dieser wurde erst vor 13.000 Jahren von Menschen besiedelt. Darum kann man dort nicht besonders viel Altes vom Menschen finden.

    Da aber etwa die Deutschen vor allem in Deutschland graben, Franzosen in Frankreich und so weiter, haben sich die Amerikaner schon lange auf den afrikanischen Kontinent fokussiert. Denn die dortigen Länder graben selbst oftmals nicht. „Aus diesem Grund ist die These, dass die menschliche Evolution ausschließlich in Afrika stattfand, eine These, die natürlich gern von Amerikanern verteidigt wird, weil sie dort eben forschen.“ Neue Hinweise, die menschliche Vorfahren etwa in Europa verorten, passen da nicht ins Bild. Wie gesagt: Eitelkeiten.

    „Das Thema frühe Hominiden ist sozusagen sexy“

    Das bestätigt der Vorsitzende der Paläontologischen Gesellschaft Deutschlands, der Münsteraner Paläontologe Professor Hans Kerp. „Das Thema frühe Hominiden ist sozusagen sexy, das interessiert jeden. Das war schon vor 50 oder 100 Jahren so.“ Und überdies gehöre das Klappern zum Geschäft. Paläontologie ist natürlich in der Regel steuerfinanziert. Nicht nur in Europa, auch etwa in Amerika. „Wer Aufmerksamkeit auf sich zieht, erhält leichter Mittel für seine Forschungsarbeiten“, sagt Kerp unserer Redaktion. So könne es sein, dass Williams mit einem aufsehenerregenden Artikel in Nature auf sich aufmerksam machen wollte. Wobei das nur Spekulation ist. Es sei sein gutes Recht, eine Gegenthese zu formulieren, sagt Kerp.

    Der Gelehrtenstreit um Udo also als Zwist zwischen der amerikanischen und der europäischen Paläontologietradition- und -kultur? In Pforzen wird Udo jedenfalls im Rahmen einer Wanderausstellung vom 24. Oktober bis zum 22. November zu sehen sein. Zu Beginn des Jahres 2021 wird er dann im Landratsamt Ostallgäu in Marktoberdorf gezeigt. Landrätin Maria Rita Zinnecker geht davon aus, dass er anschließend weiterwandert, Füssen zum Beispiel habe Interesse signalisiert. „Vielleicht ist danach Bad Wörishofen, gar Augsburg oder München an der Reihe.“

    So wird man Udo ab Ende kommender Woche in Pforzen bei Kaufbeuren sehen können – bevor er auf „Wanderschaft“ durchs Allgäu und vielleicht auch darüber hinaus geht.
    So wird man Udo ab Ende kommender Woche in Pforzen bei Kaufbeuren sehen können – bevor er auf „Wanderschaft“ durchs Allgäu und vielleicht auch darüber hinaus geht. Foto: Markus Bär

    Zugleich gibt es eine Machbarkeitsstudie, die im Mai 2021 Ergebnisse bringen soll. Ob nämlich Udo nach seiner Wanderung dauerhaft in Pforzen zu sehen sein wird. Beispielsweise in einem noch zu schaffenden Informationszentrum. Von dem Fundort erhofft sich das Ostallgäu großes überregionales Interesse. Womöglich in einer Dimension, wie es etwa das weltberühmte Neandertal bei Düsseldorf hat.

    Der Freistaat Bayern hat Zinnecker zufolge inzwischen die Hoheit über das Fundareal in der Hammerschmiede, es ist besonders geschützt. „Es ist wirklich ein Fundort von weltweiter Bedeutung“, sagt Josi Hartung, während sie ein Petrosum beurteilt, das eine junge Mitarbeiterin gerade gefunden hat. Ein Petrosum ist ein Innenohr. Aber nicht eines Menschen, sondern eines 11,4 Millionen Jahre alten Hirschferkels. „Jeden Tag finden wir hier in der Tongrube im Schnitt 100 Exponate.“ Der Ton konserviert die Überbleibsel eben sehr gut.

    So sieht das 11,4 Millionen Jahre alte Sprunggelenk einer Antilope aus.
    So sieht das 11,4 Millionen Jahre alte Sprunggelenk einer Antilope aus. Foto: Ida König

    Madelaine Böhme sieht das genauso. „Die Hammerschmiede ist ein fantastischer Fundort. Ich möchte noch Jahre hier graben.“ Wie lange? „Noch lange“, sagt die 53-Jährige. „Wenn es geht, bis zur Rente.“ Was sie noch zu finden hofft? „Wichtig wären zum Beispiel weitere Knochen aus dem Fußskelett – denn die Anatomie der Füße ist essenziell zur Beurteilung von Zweibeinern“, sagt sie. „Und, na klar, weitere Mitglieder von Udos Familie wären toll ...“

    „Udo“ ist in den ehemaligen Feuerwehrgebäuden der Gemeinde Pforzen (Ostallgäu) vom 24. Oktober bis 22. November zu sehen, jeweils donnerstags von 17 bis 20 Uhr, freitags von 15 bis 19 Uhr, samstags und sonntags von 10 bis 17 Uhr sowie nach Vereinbarung unter Telefon 08346/560 oder E-Mail: j.freuding@live.de

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