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München: Wie geht es jetzt weiter in der Affäre um Hubert Aiwanger?

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Wie geht es jetzt weiter in der Affäre um Hubert Aiwanger?

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    Aiwanger am Donnerstagabend bei der Eröffnung des Aschauer Marktes im Chiemgau. „Habe in meiner Jugend Scheiß’ gemacht“, sagte er – und wurde bejubelt.
    Aiwanger am Donnerstagabend bei der Eröffnung des Aschauer Marktes im Chiemgau. „Habe in meiner Jugend Scheiß’ gemacht“, sagte er – und wurde bejubelt. Foto: Uwe Lein, dpa

    Wo soll das enden? Die harte Wahrheit ist: Niemand weiß es wirklich. Niemand weiß, welche Folgen die verbissene, längst in unzählige Nebenkriegsschauplätze zerfledderte Debatte um Hubert Aiwangers Flugblatt-Affäre für Bayern haben wird – kurzfristig bei der Landtagswahl am 8. Oktober, mittelfristig für die Zeit danach, langfristig für das politische Machtgefüge im Freistaat. Es kursieren wilde Spekulationen. Aberwitzige Verschwörungserzählungen feiern fröhliche Urständ. In den Strategie-Abteilungen der Regierungsparteien herrscht weitgehend Ratlosigkeit – und das hat gute Gründe.

    Die Causa Aiwanger: Wie geht es weiter?

    Normalerweise ist diese Frage einfach zu beantworten. Ein Skandal hat mindestens zwei, manchmal drei Elemente: Es gibt (1.) ein Fehlverhalten und in der Folge (2.) eine öffentliche Empörung, die im Ergebnis manchmal dazu führt, dass ein Politiker zurücktreten oder entlassen werden muss (3.).

    Ein antisemitisches Pamphlet zu verfassen und zu verteilen, ist in Deutschland ein derart krasses Fehlverhalten, dass der Verlust eines Staatsamtes unausweichlich erscheint – und zwar sehr wahrscheinlich selbst dann, wenn der Vorfall Jahrzehnte zurückliegt. Im konkreten Fall bestreitet Aiwanger, das Flugblatt verfasst zu haben, und er sagt, dass er sich nicht daran erinnern könne, es verteilt zu haben.

    Aiwanger spricht von „Schmutzkampagne“ gegen sich

    Gleichzeitig spricht er von einer „Schmutzkampagne“, die darauf abziele, ihn politisch zu zerstören. Das heißt: Er versucht, die Enthüllungen über seine Vergangenheit in eine falsche Anschuldigung umzudeuten und die Empörung auf die Enthüller umzulenken. Bei seiner Anhängerschaft und auch darüber hinaus scheint ihm das, wie erste Umfragen zeigen, zu gelingen – zumindest im Moment noch.

    Immer dann, wenn die Welt zu kompliziert erscheint und nach einfachen Antworten gesucht wird, tauchen Verschwörungserzählungen auf. Sie beginnen stets mit der klassischen Frage der Kriminalisten nach dem Motiv: Wer profitiert?

    Wenn es dann, wie offensichtlich in diesem Fall, ein linker Lehrer war, der die Enthüllung ins Rollen brachte, dann ist die Erzählung von der großen Verschwörung schnell konstruiert: SPD, Grüne und die linksliberale Süddeutsche Zeitung – sie alle stecken unter einer Decke. Dass der Lehrer vielleicht einfach nur seinem Gewissen folgte, weil er Aiwangers seltsame Parolen bei der Demo in Erding und in einer Talkshow als antidemokratisch empfunden hat und Journalisten einfach nur ihrer Pflicht zur Aufklärung nachgekommen sind, wird da gar nicht erst in Erwägung gezogen.

    Markus Söder will Fortsetzung der „Bayern-Koalition“ mit den Freien Wählern

    Noch abenteuerlicher ist das Konstrukt, das die CSU schon lange von den dunklen Flecken in Aiwangers Vergangenheit wusste und kurz vor der Wahl die Enthüllungen lancierte, um den Frontmann der Freien Wähler kleinzukriegen. Das ist schon allein deshalb absurd, weil nichts darauf hindeutet, dass die

    Das strikte Nein zu jeder Form von Antisemitismus und das klare Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie gehören zum Fundament der CSU. Einen Minister, der in diesen Fragen nicht über jeden Verdacht erhaben ist, kann sie in einer von ihr geführten Regierung nicht dulden.

    Gleichzeitig steht die Partei, die in Bayern über Jahrzehnte das Vertrauen der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler genoss, kurz vor einer schwierigen Wahl. CSU-Chef Markus Söder hat nach dem Wahldebakel vor fünf Jahren das Ziel einer absoluten Mehrheit der Sitze im Landtag offiziell aufgegeben und sich auf eine Fortsetzung der selbst ernannten „Bayern-Koalition“ mit den Freien Wählern festgelegt. Aiwanger als Minister zu entlassen, ist für Söder ein unkalkulierbares Risiko. Es besteht die Gefahr, dass er ihn damit in den Augen rechtskonservativer Wählerinnen und Wähler zum Märtyrer macht. Die CSU, die zuletzt nur noch 37,2 Prozent schaffte, könnte weitere Stimmen verlieren.

    Aiwanger gilt in der Partei als „Narzisst“ und als „nahezu völlig beratungsresistent“

    Auch Söders zweischneidiges „Angebot“, er könne sich eine Koalition mit den Freien auch ohne Aiwanger vorstellen, birgt Risiken für die CSU. Selbst wenn die Freien sich darauf einlassen würden, bliebe Aiwanger ihr Parteichef und Spitzenkandidat. Sie könnten ihn nach der Wahl zum Fraktionschef wählen – ein mächtiges Amt für einen, der es zu nutzen weiß. Aiwanger könnte dann – frei von jeder Kabinettsdisziplin – das tun, was er am besten kann: Opposition in der Regierung machen. Das wären mittel- und langfristig keine schönen Aussichten für die CSU.

    Einst verstanden sich die Freien Wähler als eine bürgerliche Gruppierung unabhängiger, pragmatischer Politikerinnen und Politiker und als Gegenentwurf zur CSU. Anders als in der CSU sollte es keine straffe Hierarchie geben. Dass sie im Jahr 2008 den Einzug in den Landtag schafften, verdanken sie aber einzig und allein dem starken Mann an ihrer Spitze – Hubert Aiwanger. Das gilt auch für den Aufstieg in die Regierung im Jahr 2018. Die aktuelle Nibelungentreue zu ihrem Parteichef resultiert zum Teil aus dieser Vorgeschichte, zum Teil aber auch daraus, dass Aiwanger, seit er bei den Freien aktiv ist, nie mit rechtsextremen Äußerungen aufgefallen sei.

    Mit dem Wechsel von der Opposition in die Regierung lernten die Freien Wähler auch die Erotik der Macht kennen. Wie weit die Treue zu Aiwanger da reicht, ist die Frage. Einen völligen Bruch mit der CSU, der auch einen Verlust von Minister- und Staatssekretärsposten sowie weiterer Ämter und Annehmlichkeiten zur Folge hätte, will beim kleineren Koalitionspartner kaum jemand riskieren – auch wenn dort niemand in Sicht ist, der eine ähnliche Popularität und politische Zugkraft hätte wie Aiwanger. Außerdem dürfen die Treueschwüre nicht darüber hinwegtäuschen, dass er einigen in der Partei gehörig auf die Nerven geht. Er gilt als „Narzisst“ und als „nahezu völlig beratungsresistent“.

    Wie für die CSU so wird auch für die Freien Wähler entscheidend sein, welches Bild von Aiwanger sich in der Öffentlichkeit durchsetzt. Applaus von der falschen Seite, also von Rechtsaußen, will man auch dort erklärtermaßen nicht. Der aktuelle Zuspruch, die Solidarität mit Aiwanger könnte schnell ins Gegenteil umschlagen.

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