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Long Covid: Von der Leistungssportlerin zum Pflegefall

Long Covid

Fünf Jahre Corona: Einblicke in das Leben einer Long-Covid-Patientin

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    An schlechten Tagen kann Long Covid-Patientin Sophie Binck ihr Sofa nicht verlassen.
    An schlechten Tagen kann Long Covid-Patientin Sophie Binck ihr Sofa nicht verlassen. Foto: Marcus Merk

    Wenn Sophie Binck gesund wäre, würde sie mit ihrem Sohn in die Kletterhalle gehen. Oder draußen mit ihm herumtoben. Oder sich mit ihm aufs Sofa kuscheln, ihm ein Buch vorlesen. Bincks Sohn ist sieben Jahre alt, er besucht die erste Klasse. „Komplett gesund hat er mich kaum noch in Erinnerung“, sagt die 37-Jährige. Sie ist ME/CFS-Patientin. Die Krankheit bestimmt ihr Leben – und das der Menschen um sie herum. „Am Familienleben kann ich nur minimal teilnehmen“, sagt sie. Obwohl ihr das Kraft geben würde, da sei sie sich sicher. „Mein Zustand ist eine wahnsinnige Belastung für alle.“

    Binck hat eine Reihe von Symptomen, die mit der Diagnose ME/CFS in Verbindung stehen. Es ist die Abkürzung für „Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom“. Diese neuroimmunologische Erkrankung gilt als eine der schwersten Langzeitfolgen einer Coronainfektion und führt nicht selten zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung. Die Pandemie ist vorüber, doch nach wie vor gibt es zahlreiche Betroffene, die noch immer leiden. Abzusehen war das nicht, als am 27. Januar vor fünf Jahren das bayerische Gesundheitsministerium den ersten bestätigten Coronafall Deutschlands meldete. Ein 33 Jahre alter Mitarbeiter des oberbayerischen Autozulieferers Webasto ging als „Patient 1“ in die Geschichte ein. Der Mann aus Kaufering hatte mit einer chinesischen Kollegin an einem Firmenseminar teilgenommen.

    Krankhafte Erschöpfung tritt bei fast allen Long Covid-Erkrankten auf

    ME/CFS ist eine komplexe Erkrankung. Bei Betroffenen spielen meist mehrere Faktoren zusammen, sagt Kristina Schultheiß, die sich als Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie auf die Behandlung von Long-Covid-Patienten spezialisiert hat. Fast immer, sagt Schultheiß, tritt bei ihren Patientinnen und Patienten Fatigue auf: eine pathologische, also krankhafte Erschöpfung. „Schon Kleinigkeiten führen zu dieser enormen Erschöpfung“, sagt Schultheiß.

    Die Fatigue ist Sophie Bincks ständige Begleiterin. Sie wohnt mit Mann und Kind in Augsburg, das Haus verlässt sie wegen ihres Gesundheitszustands nur selten. Wie es um sie steht, wird immer wieder auch während der Entstehungsphase dieses Artikels deutlich. Nach einem ersten Telefonat im Mai 2023 entscheidet sie sich gegen ein längeres Interview, sie sei zu instabil. Und: „Es wäre ja auch schöner, wenn der Artikel etwas Hoffnung geben kann“, schreibt sie damals in einer Mail. Dann, im vergangenen Sommer, kommt die Hochwasserkatastrophe auch über den Großraum Augsburg, der Keller der Bincks läuft voll. „Wir müssen warten, bis wieder Ruhe eingekehrt ist und mein Körper den Stress verkraftet hat“, sagt sie.

    Von der ehemaligen Leistungssportlerin zum dauermüden Pflegefall

    Dass es häufig nicht gelingt, Dinge im Voraus zu planen, gehört zu ME/CFS und damit auch zu Bincks Leben. Ihre Krankengeschichte ist lang. Als junge Erwachsene bekam sie die Diagnose Hashimoto, eine Autoimmunerkrankung. Trotzdem war sie in ihren Zwanzigern leistungsorientierte Ausdauersportlerin. Sie legte großen Wert auf einen gesunden Lebensstil, fand im Triathlon ihre sportliche Heimat und immer neue Herausforderungen. Mit 30 Jahren brachte sie ihren Sohn auf die Welt, eine stressige Phase. „Ich habe gemerkt, irgendetwas passiert da in meinem Körper.“ Die Diagnose ihres Arztes: eine Mischform aus systemischem Lupus, das ist eine seltene Autoimmunkrankheit, und rheumatischer Arthritis.

    Aber da muss noch etwas anderes sein, spürte Binck später. Diese ständige Erschöpfung! Ihr Arzt habe ihre Sorgen nicht ernst genommen. „Viele haben Fatigue“, habe er gesagt. Vom Rheuma hat sie sich inzwischen erholt, die Müdigkeit ist ihr geblieben.

    Wie viele Menschen infizierte sie sich mit dem Coronavirus. Trotz erhöhter Vorsicht erwischte es sie gleich mehrere Male, die Infektionen provozierten weitere Symptome. Ihre Gelenke schwollen an, im Gesicht breitete sich ein Ausschlag aus. Ein sogenannter Lupus-Schub. Der Hausarzt diagnostizierte schließlich Long Covid.

    Im Februar 2023 ging Binck deswegen auf eigene Kosten in eine umweltmedizinische Klinik. Vitamininfusionen und Schonkost sollten ihr Immunsystem auf Vordermann bringen. Eine erneute Coronainfektion jedoch brachte Fieber und Mattheit. „Und das ist einfach nicht mehr weggegangen“, erzählt sie bei einem Telefonat. Ende März 2023 infizierte sie sich, Ende April konnte sie das Bett nicht mehr verlassen. „Ich war so schwach, ich konnte mir kein Essen mehr zubereiten. Ich konnte mich kaum mehr selbst anziehen“, sagt sie.

    Ärztin: „Viele Patienten durchlaufen eine regelrechte Odyssee“

    Die ehemalige Triathletin und junge Mutter war nach eigener Aussage von einem auf den anderen Tag ein Pflegefall. Sie rief einen Rettungswagen. Der fuhr sie ins Uniklinikum in Augsburg. Dort verbrachte sie zehn Tage. Zu dem Zeitpunkt habe sie kaum mehr sprechen können. Binck erinnert sich an Übelkeit und „Brain Fog“, ihr Gehirn kam ihr wie vernebelt vor. Beim angeordneten Lungenfunktionstest sei sie zusammengeklappt. Trotz dieser klaren Signale: Das Krankenhaus verlegte sich nicht auf die Long Covid-Station. Den Ärzten habe es an Verständnis für ME/CFS gefehlt, sagt Binck. „Diese Erfahrung ist kein Einzelfall“, sagt Long Covid-Spezialistin Schultheiß. „Viele Patientinnen und Patienten durchlaufen eine regelrechte Odyssee.“ Dabei begegne auch Schultheiß bei ihren Kolleginnen und Kollegen viel Unwissenheit, teilweise sogar Ablehnung. Ein entscheidender Grund dafür: „Man lernt von der Krankheit nicht im Studium.“

    Sophie Binck verließ das Krankenhaus. Ihr Mann sei plötzlich alleinerziehend gewesen und pflegend, sagt sie. Die Schwiegermutter, eine Nachbarin und eine enge Freundin halfen der jungen Familie. Binck lag den ganzen Tag in einem abgedunkelten Zimmer, denn ihr Körper nahm jeden Reiz als Gefahr wahr. Das Licht der Aprilsonne, laute Geräusche, „selbst Gespräche waren kaum mehr möglich“.

    Fachleute monieren die schlechte Versorgungssituation von Long Covid-Erkrankten

    In diesem Zustand Arztbesuche? Schwer denkbar. Die Versorgungssituation für ME/CFS- Patientinnen und -Patienten ist sehr schlecht, sagt Ärztin Kristina Schultheiß. Die Strukturen sind nicht auf deren Bedürfnisse ausgelegt. Daher fordert sie zum Beispiel mehr Telemedizin, also medizinische Versorgung – sei es Diagnostik oder Monitoring – über Videotelefonie. Gleichzeitig kritisiert sie Pflegedienste. „Die sehen bei ihrer Visite junge Leute und sagen: ‚Die simulieren.‘“ Der medizinische Notdienst stellt ME/CFS-Patientin Binck keine Pflegestufe aus. „Die sagen, ich würde mir das nur einbilden.“ Das Urteil trifft sie hart. „Die Sache wird derzeit vor dem Sozialgericht verhandelt.“

    Binck nimmt jeden Tag, wie er kommt. Sie sagt ein Gespräch zu, doch dann verschlechtert sich ihr Zustand, das Gespräch muss abgebrochen werden. Jegliche Kontakte sind schwierig, schreibt Binck in einer Mail Ende des vergangenen Jahres. Sie beantwortet Fragen für diesen Artikel schließlich mit Sprachnachrichten und gibt so auch Updates über ihren Zustand.

    Sophie Binck muss strikt mit ihrer Energie haushalten. „Pacing“ nennen Fachleute das. „Die ME/CFS-Erkrankten müssen ihr Aktivitätsniveau finden“, erklärt Long-Covid Spezialistin Schultheiß. Wer an der Krankheit leide, müsse ein gutes Körpergefühl entwickeln, Achtsamkeit üben, lernen, das Nervensystem zu regulieren. „Nur so können Crashes, Zusammenbrüche, vermieden werden.“

    Jeden Morgen fragt sich ME/CFS-Patientin Binck: Wie viel Energie habe ich? Kann ich Dinge tun, die über das Alltägliche hinausgehen? Ihre Belastungsgrenze verschiebe sich jeden Tag. Zu häufig komme es trotzdem zu einer Überlastung. Crashes können auch zeitverzögert auftreten. Expertin Schultheiß sagt: „Das kann man sich vorstellen wie Muskelkater.“ Man halte sich nicht an persönliche Grenzen – und Stunden oder gar erst Tage später fahre es einem in den Körper.

    In der Behandlung von ME/CFS gibt es Strategien, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Eine davon, die Schultheiß mit ihren Patientinnen und Patienten praktiziert, ist die Löffeltheorie. Dabei wird jeder Aktivität, körperlich wie kognitiv, eine bestimmte Anzahl an Löffeln zugewiesen. Die Person mit Fatigue hat jeden Tag eine bestimmte, aber wechselnde Anzahl dieser Löffel zur Verfügung. Duschen? Kostet zwei Löffel. Ein Essen kochen? Drei Löffel. Ein Telefonat führen? Ein Löffel. Ähnlich dem Punktezählen bei Abnehmprogrammen soll die Löffeltheorie das Bewusstsein schärfen für die Belastung im Täglichen.

    Deutschlandweit werden Long Covid-Zentren gegründet

    „Corona“ ist nicht vorbei. Nach wie vor infizieren sich Menschen mit dem Virus, nach wie vor erkranken Menschen an ME/CFS und Long Covid. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS geht von etwa 250.000 Betroffenen aus. Die Forschung dazu steht erst am Anfang. Deutschlandweit tun sich Kliniken zu Forschungsverbunden zusammen, Bund und Länder investieren große Geldsummen. Zuletzt etwa erhielten Universitätskliniken und Institute in Jena, Kiel, Berlin und München eine Geldspritze des Bundesforschungsministeriums von 2,5 Millionen Euro.

    Jeder fünfte Mensch, der am Post-Covid-Zentrum der Uniklinik Jena behandelt wird, leidet an Spätfolgen einer Coronainfektion, die als ME/CFS eingestuft werden. „Über die Ursachen und die Entstehung der Erkrankung wissen wir kaum etwas“, sagte der Leiter des Zentrums, Andreas Stallmach, nun. Mithilfe von Fitness-Trackern wollen die Forschenden analysieren, wie sich körperliche Belastung auf das Immunsystem, die Blutzellen oder den Stoffwechsel auswirkt.

    Ärztin Schultheiß hält Long Covid-Ambulanzen für grundsätzlich gut. Jedoch helfe die Forschung den betroffenen Menschen wenig. Was Menschen wie Sophie Binck ihrer Meinung nach benötigen: „Mehr staatliche Unterstützung, die Zulassung von Off Label-Medikamenten, die sich etabliert haben – und schlicht mehr Zeit mit medizinischem Fachpersonal.“ Sie zum Beispiel verwende rund 90 Minuten für die Anamnese eines an Long Covid-Erkrankten. Denn jeder habe andere Bedürfnisse.

    In dieser Woche, in der dieser Artikel veröffentlicht wird, hat Sophie Binck besonders wenig Energie. Ihre Stimme klingt dünner als zuvor. An guten Tagen könne sie sich etwas zu Essen zubereiten, an schlechten Tagen sei sie komplett auf Hilfe angewiesen und könne nur liegen, sagt sie. „Ich bin außerdem kognitiv zurzeit sehr stark betroffen.“ Bildschirme etwa seien ihr zu grell, was den sozialen Kontakt sehr schwer mache.

    „Ich habe absolut den Glauben, dass ich wieder gesund werde“, sagt Binck. Daran halte sie sich fest. Dass ihr siebenjähriger Sohn Rücksicht nehmen und auf manche normalen Familiendinge verzichten muss, erträgt sie kaum. „Er ist sehr tapfer“, sagt sie und ergänzt: „Man kann sich an vieles gewöhnen. Aber an manche Dinge gewöhnt man sich einfach nicht.“

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    1 Kommentar
    Lothar Bock

    Natürlich ein Schicksal für die Frau und man kann ihr nur gute Besserung wünschen. Ob es bei der hier erzählten Krankenvorgeschichte mit Hashimoto, systemischem Lupus und rheumatischer Arthritis (alles vor der Pandemie diagnostiziert) wirklich um das unspezifische "Long Covid" oder etwas anderem handelt, sei aber dahingestellt. Interessant, dass in diesem Bericht kein Wort zur Impfung fällt. Einerseits kann diese - je nach Studie - Autoimmunerkrankungen abschwächen, andererseits aber auch ("in sehr seltenen Fällen") entsprechende Reaktionen auslösen: https://www.bayerisches-aerzteblatt.de/inhalte/details/news/detail/News/post-vac-syndrom-langfristig-krank-nach-covid-19-impfung.html

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