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Lesetipp: 684 Gramm Leben: Simon kam drei Monate zu früh zur Welt

Lesetipp

684 Gramm Leben: Simon kam drei Monate zu früh zur Welt

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    Eine Frühchengeburt während Corona: So erlebte eine 27-Jährige den Notkaiserschnitt.
    Eine Frühchengeburt während Corona: So erlebte eine 27-Jährige den Notkaiserschnitt. Foto: Britta Pedersen, dpa (Symbolbild)

    Auf dem Foto ist das Baby kaum zu erkennen. Es verschwindet im Inkubator, umgangssprachlich auch Brutkasten genannt. Kabel und Schläuche ragen heraus, an Monitoren blinken bunte Lichter. Eine Karte mit "Hello World" hängt an der Plastikscheibe. Dahinter, zwischen Kissen und Stofftüchern: ein kleiner Kopf. Simon kam an Weihnachten auf die Welt, 32 Zentimeter groß, 684 Gramm leicht. Seine Mutter Laura S. (Name von der Redaktion geändert) litt an einer Schwangerschaftsvergiftung, die ihr eigenes Leben und das ihres Babys gefährdete. Corona, Lockdown und ein plötzlicher Kaiserschnitt: Die 27-Jährige und ihr Freund erlebten eine nervenaufreibende Geburt.

    Küssen konnten die jungen Eltern ihren Sohn bis heute nicht. Bei ihren Besuchen auf der Intensivstation im Universitätsklinikum in Augsburg tragen Laura und ihr Freund FFP2-Masken, die sie auch im Zimmer nicht abnehmen dürfen. Die Großeltern des Babys kennen Simon bisher nur von Fotos. Laura freut sich auf die Zeit, wenn sie ihren Sohn mit nach Hause nehmen darf: "Darauf fiebern wir hin. Wenn wir zusammen auf unserer Couch kuscheln können, meine Eltern ihn sehen können und er einfach daheim ist." Simon wiegt sechs Wochen nach seiner Geburt etwa 1100 Gramm. Er ist ein Frühchen, also ein Baby, das zu früh zur Welt gekommen ist - und ohne medizinische Hilfe vielleicht nicht mehr leben würde.

    Frühchengeburt während Corona: Eine große Belastung für die junge Familie

    Werdende Eltern haben in der Regel klare Vorstellungen von der Schwangerschaft. Neun Monate Vorfreude, vielleicht verspürt die Schwangere etwas Übelkeit am Morgen, hat schwere Beine und Dehnungsstreifen am wachsenden Bauch. Irgendwann setzen die ersehnten Wehen ein und wenige Stunden später hält das Paar glücklich das Baby im Arm, das aus vollen Lungen schreit.

    Dann sind da die Fälle, in denen alles anders läuft: Lebensgefahr, Notkaiserschnitt, Frühgeburt. Und die jungen Eltern stehen vor einem Plastikkasten, in dem ihr Kind mit Maschinen beatmet wird. Kommt ein Baby vor der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt, gilt es als frühgeboren. Die Ursachen sind vielfältig: Alkohol oder Drogen während der Schwangerschaft, innere Fehlbildungen oder Krankheiten wie das HELLP-Syndrom. Im Universitätsklinikum behandeln die Ärzte im Jahr etwa 70 Frühchen unter 1500 Gramm auf der Intensivstation.

    Winzige Finger, dünne Arme: Auf Fotos wird deutlich, wie klein das Baby ist. Seine Hand ist etwa so groß wie der Daumen seines Vaters. Immerhin: Die 27-jährige Mutter macht sich keine Sorgen, dass die Bindung zu ihrem Baby beeinträchtigt ist. Laura und ihr Freund dürfen rund um die Uhr zu ihrem Kind, meistens fahren sie am Nachmittag ins Krankenhaus und bleiben bis zum Abend dort. Die Eltern genießen vor allem das gemeinsame "Känguruhen". Dabei liegt das Baby auf dem nackten Oberkörper seiner Mutter oder seines Vaters. Wie bei einem Känguru-Jungen in seinem Beutel profitieren Frühchen von der Nähe, der Körperwärme, dem Herzschlag. Mehr noch: Der nahe Kontakt stärkt die Bindung zwischen Eltern und Kind. Laura sagt: "Wenn Simon mit uns kuschelt, wird er ganz ruhig und entspannt sich. Das gibt mir Kraft."

    Die kleine Hand von Simon auf dem Finger seines Vaters.
    Die kleine Hand von Simon auf dem Finger seines Vaters. Foto: Laura S.

    Bis zum ursprünglich errechneten Geburtstermin müssen Frühchen im Krankenhaus bleiben, bei Simon ist das bis März. Es gibt noch Risiken für das Baby, das nach wie vor auf maschinelle Unterstützung beim Atmen angewiesen ist, aber nicht mehr voll beatmet wird. "Wenn er das nicht mehr braucht, darf er auf die Frühchenstation", sagt Laura. "Dann müssen wir schauen, wie er sich entwickelt und wie er zunimmt."

    Hoher Blutdruck: Die 27-Jährige litt an einer Schwangerschaftsvergiftung

    Im Dezember deutete noch wenig auf die abrupte Wendung in Lauras Schwangerschaft hin. "Ab und zu ging es mir nicht gut und mein Blutdruck war erhöht." Ihre Werte blieben konstant zu hoch, nach Gesprächen mit ihrer Hebamme vereinbarte sie einen Termin mit ihrem Frauenarzt. Zu dieser Zeit bemerkte sie Wassereinlagerungen in ihrem Körper, auch im Gesicht: "Ich war total aufgedunsen." Der Frauenarzt riet ihr zunächst, ihren Blutdruck weiter zu kontrollieren und schickte sie kurz vor Weihnachten schließlich in das Uniklinikum Augsburg, um die Werte abklären zu lassen, die teilweise bei 170 zu 120 lagen. Bei gesunden Menschen beträgt der Blutdruck durchschnittlich 120 zu 80. Zwei bis drei Tage sollte sie im Krankenhaus bleiben.

    "Ich dachte mir nichts dabei und habe gehofft, dass ich vor Weihnachten wieder rauskomme", erinnert sich Laura. In ihrem Urin wurde jedoch Eiweiß gefunden, ein Hinweis auf eine Schwangerschaftsvergiftung. Deshalb blieb sie. Weihnachten verbrachte sie mit ihrem Freund, der ihr einen kleinen Christbaum ins Zimmer schmuggelte und zwei Stunden bleiben durfte. Am nächsten Tag verabredete sich das Paar für 14 Uhr. Ihr Freund kam pünktlich ins Krankenhaus - und fand ein leeres Zimmer vor.

    Ihr Baby wurde mit einem Notkaiserschnitt geholt

    Über Nacht hatte sich Lauras Zustand verschlechtert. Sie litt unter Oberbauchschmerzen und innerer Unruhe, übergab sich mehrmals: "Ich habe die ganze Nacht nach den Schwestern geklingelt." Ihre Blutwerte seien jedoch in Ordnung gewesen. Sie erinnert sich an den Blick in den Spiegel am Morgen: "Ich sah richtig schlecht aus." Bei dem Ultraschall teilte ihr der Arzt mit, dass "es sich nicht mehr um Wochen, sondern nur noch um Tage handelt", bis das Kind geholt werden müsse.

    Ein Bluttest kurze Zeit später offenbarte die lebensbedrohliche Schwangerschaftsvergiftung der 27-Jährigen. Laura litt unter einer besonders schweren Form davon, dem sogenannten HELLP-Syndrom. Bei der Krankheit sind die Gefäße, die das Baby versorgen, verengt. Eine Intensiv-Krankenpflegerin wird später erklären: "Der Körper der Mutter fährt den eigenen Blutdruck hoch, um das Kind zu versorgen. Gewissermaßen entscheidet sich der Körper für das Baby und vergisst sich selbst." Im schlimmsten Fall sterben beide daran. Die einzige Behandlung: eine Entbindung. Beim Ultraschall ließ sich das ungefähre Gewicht des Babys abschätzen: 700 Gramm. Laura sagt: "Der zuständige Arzt war noch nicht mal im Krankenhaus, da haben sie mich schon aus dem Zimmer geschoben."

    Spontane Geburt: Das Paar hatte sich noch keinen Namen überlegt

    Ihr Freund wurde sofort in den Kreißsaal geschickt - und nach einem Namen für das Kind gefragt. "Wir hatten uns noch gar keinen überlegt", sagt Laura. Nach dem Notkaiserschnitt musste die 27-Jährige einen Tag auf der Intensivstation bleiben. Ihr Kind sah sie erst am nächsten Abend. 684 Gramm schwer, 32 Zentimeter groß, voll beatmet. Als Krankenschwestern die junge Mutter im Bett zu ihrem Kind fuhren, war Laura überwältigt. "Ich habe erstmal Rotz und Wasser geheult." Zwei Tage später durfte sie Simon zum ersten Mal in den Arm nehmen. Ihre Stimme klingt belegt, wenn sie davon erzählt: "Ich war so voll mit Emotionen, das kann man gar nicht fassen."

    Simon kam als Frühchen zur Welt und liegt noch auf der Kinderintensivstation.
    Simon kam als Frühchen zur Welt und liegt noch auf der Kinderintensivstation. Foto: Laura S.

    Der spontane Kaiserschnitt überrumpelte das junge Paar. Heute lacht Laura, wenn sie darüber redet, wie wenig sie und ihr Freund auf das Baby vorbereitet waren. "Wir sind schwuppdiwupp Eltern geworden." Nach fünf Tagen im Krankenhaus durfte sie zwar nach Hause, doch es dauerte Wochen, bis sie sich von den Auswirkungen des HELLP-Syndroms erholt hatte. Mittlerweile geht es Laura wieder gut. Ob sie sich vor einer zweiten Risikoschwangerschaft fürchtet? "Es kommt selten vor, dass sich das nochmal so entwickelt. Ich habe keine Angst davor." Im Moment zählt für das Paar Simons Gesundheit.

    Das sagt ein Neonatologe über die Entwicklung von frühgeborenen Babys

    Wilfried Schenk ist Oberarzt am Universitätsklinikum Augsburg. Er leitet dort die pädiatrische Intensivmedizin und die Neonatologie, die sich mit der Behandlung von frühgeborenen Babys beschäftigt. Im Jahr nimmt seine Station etwa 70 Neugeborene auf, die unter 1500 Gramm wiegen. Bei Frühchen wie Simon, der in der 28. Woche zur Welt kam, stünden die Überlebenschancen mit bis zu 98 Prozent sehr gut. Das HELLP-Syndrom wirke sich jedoch auf die Entwicklung des Babys aus. Durch die schlechte Versorgung kann es zu Verzögerungen im Wachstum kommen. Kinder, die in der 28. Woche entbunden werden, wiegen im Regelfall etwa 1100 Gramm. Simon wog 684.

    Beim HELLP-Syndrom könne sich die Situation in wenigen Stunden akut entwickeln. "Das kann auch mitten in der Nacht sein und das Kind muss entbunden werden, sonst ist die Mutter in Gefahr." In Deutschland gelten alle Babys, die vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden, als zu früh geboren. In dem Rahmen gibt es mehrere Abstufungen: Die kleinsten Kinder werden etwa in der 22. Schwangerschaftswoche entbunden - mit entsprechend geringen Überlebenschancen. Ab der 24. Woche stehen sie besser. "Da macht das Baby bei seiner Entwicklung einen Sprung", sagt Schenk.

    Bei allen Frühchen gebe es eine Reihe an Komplikationen: "Jedes Organsystem im Körper ist noch unreif." Viele bräuchten eine Beatmung oder Atemunterstützung, manche hätten Probleme mit den Augen oder dem Magen-Darm-System, alle seien infektionsanfällig. Wie sich die Babys entwickeln, sei nur schwer abzusehen. Etwa bei einem Drittel bildeten sich schwerere oder leichtere Auffälligkeiten, die mit der Frühgeburt zusammenhängen. Doch in seiner Zeit als Frühgeborenenmediziner haben Schenk einige Kinder überrascht: "Manchmal haben sich unreife und kleine Babys als unglaublich widerstandsfähig erwiesen."

    Ein zerbrechliches, winziges Kind: Das Aussehen eines Frühchens kann seine Eltern erschrecken

    Ihr frühgeborenes Kind zu sehen, erschrecke viele Eltern beim ersten Mal. Wenn sie schwanger sind, hätten sie nicht das Bild von so einem zerbrechlichen Menschen vor Augen, sondern von einem kleinen Wonneproppen, sagt Schenk. "Dieses Bild wird im Augenblick einer Frühgeburt zerstört." Leichte, dünne Körper, Venen, die so zart sind, dass das Legen einer Infusion zur Herausforderung wird. Ein Team von Psychologen und Seelsorgern stehe bereit, um Eltern zu begleiten. Während sie der momentane Zustand ihres Babys oft bestürzt, richten die Ärzte ihren Blick darauf, wie die Kinder wachsen und sich entwickeln, sagt der Oberarzt.

    Frühgeburtlichkeit könne durch Krankheiten wie das HELLP-Syndrom ausgelöst werden, aber auch durch Ursachen von außen, von der Mutter oder vom Baby selbst. "Das ist nicht wie ein Verkehrsunfall", sagt Schenk. Einige Todesfälle könne man nicht nachvollziehen. "Vielleicht hatte das Kind versteckte Fehlbildungen in sich. Manchmal weiß man nicht, warum."

    Hirnblutungen oder Herzfehler: Frühchen haben gesundheitliche Risiken

    Die erste, bei Frühchen oft kritische Woche nach der Geburt überstand Simon ohne Schwierigkeiten. Wenn die Eltern mit ihrem kleinen Sohn kuscheln, öffnet er mittlerweile die Augen, erzählt Laura. "Er guckt neugierig und quengelt auch, wenn ihm etwas nicht passt." Alle zwei Stunden bekommt Simon 16 Milliliter Muttermilch über eine Magensonde. Diese pumpt Laura jeden Tag ab, alle zwei Stunden. Sie ist froh über die Möglichkeit: "Das sind die einzigen Dinge, die ich ihm im Moment geben kann. Milch und meine Nähe."

    Das Team im Krankenhaus kümmere sich gut um ihr Baby, sagt Laura. "Vor allem auf der Intensivstation sind alle so herzlich." An Neujahr schenkten ihr die Pflegekräfte ein Bild mit dem winzigen Fußabdruck von Simon, neben seinem Inkubator kleben mehrere "Meilensteine". Auf einer Karte steht: "Heute habe ich Mamis Milch das erste Mal probiert", auf einer anderen: "Ab heute muss ich nicht mehr beatmet werden". Darüber schwebt ein grüner Ballon mit der Aufschrift "1015 Gramm". Die kleinen Schritte zählen.

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