„Wo würden Sie eine Leiche verstecken?“, fragt Maximilian Brunner. Er redet nicht lange drum herum. Das sei eine Frage, die ihn schon länger umtreibe. Nicht weil er, der Chef der Polizeiinspektion im oberbayerischen Beilngries, Schlimmes im Schilde führen würde. Sondern weil unlängst Leichenfunde in seinem Revier bundesweit Schlagzeilen gemacht haben. Also fragt sich nicht nur Brunner: Was ist da los? Und was ist das für ein Wald, in dem innerhalb weniger Monate die Überreste von nun drei seit Jahrzehnten vermissten Personen entdeckt wurden?
Maximilian Brunner stapft durch den knöchelhohen Schnee auf einer Lichtung in einem Wald nordwestlich von Kipfenberg im Landkreis Eichstätt – unweit der Stelle, an der vor einigen Tagen bis zu 140 Polizistinnen und Polizisten und Leichenspürhunde vergeblich nach weiteren Knochen von Sonja Engelbrecht suchten. Im Sommer des vergangenen Jahres hatte ein Waldarbeiter der Bayerischen Staatsforsten dort einen menschlichen Oberschenkelknochen gefunden – vor wenigen Wochen stellte sich heraus, dass es sich um einen Knochen der Frau handelte, die als 19-Jährige im April 1995 nach einer Party in München spurlos verschwunden war.
"Würden Sie hier eine Leiche verstecken?"
„Würden Sie eine Leiche in einem so dicht besiedelten Gebiet und einem Wald mit so vielen Wander- und Radwegen verstecken?“, fragt Polizist Brunner erneut und zeigt kopfschüttelnd auf ein Waldhaus der Staatsforsten und die zahlreichen Wegweiser für Nordic Walker, von denen es gerade im Sommer im touristisch beliebten Altmühltal so viele gibt. Die Gefahr, beim Vergraben einer Leiche entdeckt zu werden, sei hier doch viel zu groß, sagt Brunner – und doch haben das Menschen getan. Nicht nur einmal.
Nur wenige Wochen vor dem Fund des Oberschenkelknochens von Sonja Engelbrecht war ein Spaziergänger auf zwei menschliche Skelette gestoßen – in einem Waldstück im Süden Kipfenbergs. Es waren die Leichen eines seit 2002 vermissten Pärchens aus Ingolstadt. Die Ermittlungen ergaben, dass die 23-jährige Sabine Pfaller und der zwei Jahre jüngere Eugen Sambrschizki durch „massive Gewalteinwirkung“ zu Tode gekommen waren.
Wenn neue Spuren zu alten Mordfällen führen
Immer wieder kommt es vor, dass jahrzehntealte Mordfälle, auch „Cold Cases“ genannt, plötzlich neu aufgerollt werden, weil moderne DNA-Analysen neue Spuren ergeben haben. So auch im Fall der seit 1995 vermissten Sonja Engelbrecht aus München. Ihr Oberschenkelknochen wurde in Kipfenberg im Sommer 2020 gefunden. Zu einem Treffer in der DNA-Datenbank der Polizei führte er schließlich vor wenigen Wochen.
Wie viele Mordfälle in Bayern ungeklärt sind, steht nicht fest. Das Landeskriminalamt verweist auf Nachfrage auf fehlende bayernweite Statistiken dazu.
Als vermisst galten zuletzt (Stand 1. Dezember) im Freistaat 1619 Personen, darunter 360 Kinder (unter 14 Jahre), 688 Jugendliche (14 bis 17 Jahre) und 571 Erwachsene, davon 133 im Alter von über 60 Jahren. Die Zahlen schwanken sehr stark, da sich die meisten Vermisstenfälle innerhalb der ersten 24 bis 48 Stunden aufklären würden, betont ein Sprecher des Landeskriminalamtes. (bmi)
„Sabine, Eugen, Sonja“, zählt Polizist Brunner auf, seine Augen schweifen entlang der Bäume des verschneiten Mischwaldes. Bis er auf ein paar Sonnenstrahlen blickt, die sich an diesem grauen Vormittag durch die dicken Wolken kämpfen: „Als ich die Namen gehört habe, kamen bei mir sofort Erinnerungen hoch.“ Denn Brunner hatte mit den drei Vermissten schon in der Vergangenheit zu tun – wenn auch nur indirekt. Als er kurz nach der Ausbildung seine erste Stelle am Polizeipräsidium München antrat, war dort das spurlose Verschwinden von Sonja Engelbrecht ein großes Thema. Und als er 2003 ans Präsidium nach Ingolstadt wechselte, lief dort die Suche nach Sabine Pfaller und Eugen Sambrschizki. Jetzt, 18 weitere Jahre später, spielen die Vermisstenfälle wieder in Brunners Revier. Doch diesmal gibt es die tragische Gewissheit, dass alle drei tot sind, dass alle drei mit hoher Wahrscheinlichkeit getötet wurden – im Fall Engelbrechts gibt es dafür bislang keine Beweise, allerdings war die Polizei schon in den 90ern von einem Verbrechen ausgegangen.
„Dass die Leichen nach so vielen Jahren innerhalb weniger Monate gefunden wurden, nur wenige Kilometer voneinander entfernt, ausgerechnet in Kipfenberg – das ist schon ein riesiger Zufall“, sagt Brunner. Einen Zusammenhang können sich weder er noch die ermittelnden Kolleginnen und Kollegen in den Polizeipräsidien in München und Ingolstadt derzeit so recht vorstellen. „Dafür gibt es keine Anhaltspunkte“, heißt es. Und auch die Frage, warum die Leichen in einem Wald bei Kipfenberg vergraben wurden, kann sich offenbar keiner erklären. Die Größe des Waldes und die Nähe zur Autobahn A9 könnten eine Rolle spielen. Verbindungen der Fälle in den Ort hinein sind nach Angaben der Ermittlerinnen und Ermittler nicht bekannt.
"Hier kennt man sich"
„Hier ist die Welt noch in Ordnung. Hier kennt man sich, hier passiert nicht viel“, sagt Polizeichef Brunner. Seit bald fünf Jahren ist er Leiter der Inspektion in Beilngries und genießt nach seinen Stationen in den Städten München und Ingolstadt die „etwas andere Taktung“ seiner Arbeit auf dem Land.
Dabei hatte seine Zeit im idyllischen Altmühl brutal begonnen. Gleich an seinem ersten Arbeitstag bekam er es mit einem Tötungsdelikt zu tun – in Denkendorf hatte ein Mann im Ehestreit seine Frau erstickt. „Seither gab es aber keine einzige derartige Tat mehr in der Region“, sagt Brunner und ist darüber hinaus stolz auf eine Aufklärungsquote aller Straftaten von 79 Prozent im vergangenen Jahr. Auch deshalb passten die drei Leichen im Unterholz so gar nicht ins Bild von Kipfenberg.
Das war bislang geprägt von der schönen Natur, der römischen Historie und der Tatsache, dass hier der geografische Mittelpunkt des Freistaates Bayern liegt. „Zwischen Eichstätt und Beilngries sind wir so etwas wie der kulturelle Schmelztiegel“, schwärmt Bürgermeister Christian Wagner bei einem Treffen im Rathaus seiner Marktgemeinde. Kriminalität? Fehlanzeige! Vielleicht mal ein Radldiebstahl oder ein Nacktbader, der nachts ins Freibad einsteigt – selbst auf dem traditionellen Volksfest, das zu den größeren in der Region zählt, gehe es in aller Regel höchst friedlich zu, sagt Wagner. Er zuckt ratlos mit den Schultern, schüttelt den Kopf und lehnt sich zurück: „Warum ausgerechnet hier drei Leichen vergraben und nach Jahrzehnten gefunden werden, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären.“
Das gehe in dem 5800-Einwohner-Ort wohl den meisten so, ist Wagners Eindruck. Zwar würden die Menschen in diesen Tagen viel über die Knochenfunde und das massive Polizeiaufgebot reden – „aber so richtig greifbar ist das Ganze nicht, weil es einfach zu weit weg ist“, sagt er. Die Taten seien zu lange her und der Bezug zu Kipfenberg – nach allem, was man bisher wisse – nicht vorhanden. Allerdings: Der Fundort der Skelette des Ingolstädter Pärchens im sogenannten Birktal habe ihn zumindest etwas ins Grübeln gebracht. „Dort kommt man eigentlich nicht zufällig hin – da muss man vorher schon mal gewesen sein“, meint der Bürgermeister. Andererseits kämen jedes Jahr so viele Naturfreunde und Touristen nach Kipfenberg, dass auch diese Erkenntnis niemanden weiterbringe bei der Suche nach den Mördern.
Tatverdächtige sind wieder auf freiem Fuß
Diese Suche hatte nach den Funden der Überreste von Sabine Pfaller und Eugen Sambrschizki im vergangenen Jahr wieder an Fahrt aufgenommen. Im Mai 2021 teilte das Ingolstädter Polizeipräsidium dann mit, dass vier Tatverdächtige in Untersuchungshaft genommen wurden. Anfang Oktober kamen sie auf freien Fuß, weil ein Ermittlungsrichter keinen hinreichenden Tatverdacht mehr erkannte. Die Staatsanwaltschaft legte Beschwerde ein – eine Entscheidung des Landgerichts Ingolstadt steht noch aus.
Im Fall von Sonja Engelbrecht ist die Sache noch unklarer. Es gibt weder einen Tatverdächtigen noch Hinweise auf eine mögliche Todesursache. Genau genommen steht nicht einmal fest, dass die Münchnerin wirklich tot ist – allein der Fund eines Oberschenkelknochens ist zwar ein starkes Indiz, aber kein Beweis. Gerüchte rund um den Fall gibt es derweil seit Jahren. Zwischenzeitlich war von einer Entführung durch einen Araber die Rede, der die blonde Frau in seinem Harem halten wollte. Zuletzt mutmaßte die Bild-Zeitung, dass sie Opfer eines Serienmörders geworden sein könnte – und brachte ihr Schicksal mit zwei ebenfalls in den 1990er Jahren spurlos verschwundenen Frauen in Verbindung.
„Fakt eins: Die Frau ist verschwunden. Fakt zwei: Wir haben einen Oberschenkelknochen von ihr gefunden. Wir gehen derzeit von einem Kapitalverbrechen aus, eine wirklich heiße Spur aber gibt es nicht“, sagt ein Sprecher des Polizeipräsidiums München. Auch die Suchaktion im Kipfenberger Forst und damit verbundene Hinweise aus der Bevölkerung hätten vorerst keine neuen Erkenntnisse gebracht. Voraussichtlich werde man nächstes Jahr, wenn die Witterungsverhältnisse sich bessern, die Suche nach weiteren Spuren und Knochen von Sonja Engelbrecht fortsetzen.
In Kipfenberg blickt man derweil gespannt auf die Arbeit der Polizei. „So etwas lässt einen ja nicht kalt“, sagt Bürgermeister Christian Wagner. Da sei das Mitgefühl mit den Angehörigen. Aber auch die Verwunderung über das Geschehene, die Neugier, wer und was wohl hinter all dem stecke. Von Angst oder Unsicherheit könne aber keine Rede sein. Weder bei ihm noch in der Bevölkerung. Die Menschen würden weiterhin noch zum Spazieren in den Wald gehen. Es sei ja nicht so, dass dort aktuell ein Serienmörder sein Unwesen treibe, vor dem man sich fürchten müsste, sagt Wagner.
Die Knochenfunde ändern für Anwohner nichts an der Schönheit des Waldes
Aber ist es nicht trotzdem gruselig, durch einen Wald zu laufen, in dem nun schon zweimal Knochen von mutmaßlich umgebrachten Menschen gefunden wurden? Bürgermeister Wagner will solche Gefühle erst gar nicht aufkommen lassen. „Natürlich kann man diese Gedanken haben, dass da womöglich noch weitere Knochen oder Leichen liegen, das kann ja niemand ausschließen. Ich habe diese Gedanken aber nicht – und habe das Gefühl, dass es den Bürgern genauso geht.“
Und in der Tat scheint das Thema die Menschen in der Marktgemeinde zwar zu beschäftigen, aber nicht zu belasten. Wer auf den Straßen unterhalb der über Kipfenberg thronenden gleichnamigen Burg aus dem 12. Jahrhundert mit Passanten spricht, erntet meist ein und dieselbe Reaktion: Angst? Unsicherheit? Gruseln? Nein.
Ein älteres Pärchen erzählt: „Vor drei Wochen sind wir da oben herumspaziert, da ist es wunderschön.“ Die Knochenfunde würden daran nichts ändern und sie auch nicht davon abhalten, weiterhin durch den Wald zu spazieren. Vielleicht wäre das Gefühl ein anderes, wenn jemand aus der Gegend vermisst würde, sagen sie. Das sei aber nicht der Fall. Eine Frau, die gerade ihren Hund Gassi führt, sieht es ähnlich und sagt: „Wenn was passiert, dann passiert’s halt – da brauch’ ich mich doch nicht vorher schon verrückt machen.“