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Kriminalfall: Das große Rätsel um den Tod der kleinen Ursula Herrmann

Kriminalfall

Das große Rätsel um den Tod der kleinen Ursula Herrmann

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    In dieser Kiste starb Ursula. Die Täter hatten das Verlies aus Holz gebaut und mit Lebensmitteln ausgestattet. Doch das Mädchen erstickte.
    In dieser Kiste starb Ursula. Die Täter hatten das Verlies aus Holz gebaut und mit Lebensmitteln ausgestattet. Doch das Mädchen erstickte. Foto: Karl-Josef Hildenbrand, dpa (Archivbild)

    Ursulas Grab ist gepflegt, wie in all den Jahren. Das Örtchen Eching am Nordufer des Ammersees liegt still da. Es ist schon lange her, dass Horden von Medienleuten hier waren. Die Skepsis der Bewohner gegenüber Fremden ist aber geblieben. Die Kaagangerstraße, in der Ursula gewohnt hat, führt am See entlang bis zum Waldgebiet "Weingarten". Von da an geht der Seeweg weiter Richtung Schondorf. Es ist ein wunderbarer Frühlingsspaziergang unter dem frischen Grün der Bäume und dem Gesang der Vögel. Bis man zu jener Stelle kommt, über die man mehr weiß, als es guttut

    "Als der Angeklagte mit seinem Fernglas der Marke Porst 8x56 das Kind aus Richtung Schondorf heranradeln sah und ihm sein Gehilfe über den Klingeldraht signalisierte, dass aus der anderen Richtung niemand komme, setzte der Angeklagte seinen Plan in die Tat um und riss das Mädchen etwa auf Höhe der Perfallhütte vom Fahrrad herunter. Sodann schleppte er das Mädchen über den in diesem Bereich vom Seeweg wegführenden Trampelpfad quer durch den Wald zu der ca. 800 m nordwestlich im Erdboden vergrabenen Kiste. Das rote Kinderfahrrad des Mädchens nahmen der Angeklagte und sein Gehilfe noch ein Stück mit und legten es auf dem Trampelpfad 24,40 Meter vom Seeweg entfernt an einer Grabenböschung ab.

    Ursula Herrmann aus Eching am Ammersee wurde nur zehn Jahre alt.
    Ursula Herrmann aus Eching am Ammersee wurde nur zehn Jahre alt. Foto: Polizei

    Anschließend verbrachte der Angeklagte das möglicherweise betäubte Mädchen in die vorbereitete Kiste, schaltete die Kistenbeleuchtung ein, warf noch eine Plastiktüte mit einem Jogginganzug der Größe 164/176, bestehend aus einer roten Hose und einem blauen Oberteil, hinein und verschloss den Deckel. Sodann setzte er auf dem Kistendeckel den vorgefertigten Rahmen auf, legte einen rostroten Dekostoff darüber, bedeckte alles vollständig mit Erdreich und steckte zur Tarnung des Vergrabungsortes fünf etwa 50 cm hohe Jungfichten aus dem Forstbestand des Weingartens in den Waldboden."

    Den Hund der Familie sperrte Mazurek in die Gefriertruhe. Das Tier krepierte elendig

    So soll es am 15. September 1981 geschehen sein und so steht es im rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Augsburg vom 25. März 2010. Werner Mazurek ist der Mann, der wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der bärtige Hüne ist ein Unsympath. Während des gesamten Prozesses hat er keinerlei Versuche unternommen, in einem besseren Licht dazustehen. Exemplarisch dafür steht die Geschichte mit dem Familienhund Susi. Als dieser Müll in der Küche verstreut hatte, sperrte Mazurek das Tier in die Gefriertruhe. Es krepierte elendig. Mazurek brüstete sich danach vor Freunden damit, er habe den Hund "zu Sibirien verurteilt". Sein Stiefsohn beklagte sich in einer vom Gericht abgefangenen E-Mail über Mazureks Gewalttätigkeit und dessen Empfehlung, "sich doch auf dem Speicher aufzuhängen".

    Es stand da also sicherlich ein Mann vor Gericht, der charakterliche Defizite aufweist. Aber war er es tatsächlich? Hat dieser Mann mit mindestens einem Komplizen Ursula Herrmann auf dem Gewissen? Oder sind seine Beteuerungen, er habe mit dieser Tat nichts zu tun, wahr? Warum führen neue Erkenntnisse nicht dazu, dass der Prozess wieder aufgenommen wird? Hat sich am Ende die Justiz verrannt, weil sie vor Ablauf der Verjährung unbedingt eines der schockierendsten Verbrechen der letzten Jahrzehnte aufklären wollte? Diese Fragen sind nicht beantwortet, jetzt, da Werner Mazurek nach insgesamt 15 Jahren Gefängnis bald freikommt.

    Werner Mazurek wurde 2010 verurteilt. Bald hat er 15 Jahre Haft abgesessen. Aber war er wirklich der Täter?
    Werner Mazurek wurde 2010 verurteilt. Bald hat er 15 Jahre Haft abgesessen. Aber war er wirklich der Täter? Foto: Ulrich Wagner (Archivbild)

    Das Augsburger Schwurgericht hat mehr als ein Jahr lang versucht, der Wahrheit nahe zu kommen. Es hat Dutzende Zeugen befragt, zigtausende Seiten Akten gelesen, etliche Gutachter zu Wort kommen lassen. Das Ergebnis war ein 310 Seiten starkes Urteil, über das der Vorsitzende Richter Wolfgang Rothermel sagte: "Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen gerecht." Aus Sicht der

    Ein Tonbandgerät Grundig TK 248 spielt eine große Rolle

    Neben rund 20 belastenden Details nannte das Gericht zwei Hauptindizien für die Verurteilung. Ein Tonbandgerät Grundig TK 248, das laut einer Gutachterin des bayerischen Landeskriminalamts "wahrscheinlich" zur Herstellung der Erpresseranrufe mit dem damals bekannten Verkehrsnachrichten-Signal des Senders Bayern 3 verwendet wurde. Und das Geständnis des Mazurek-Kumpels Klaus Pfaffinger. Der hatte bei der Polizei eingeräumt, dass er in dessen Auftrag ein großes Loch im Wald gegraben habe. Er beschrieb Art und Größe des Lochs sehr konkret. Mazurek habe ihm für die Arbeit 1000 Mark und ein Farbfernsehgerät versprochen. Pfaffinger war auch beobachtet worden, wie er auf dem Mofa mit einem Spaten in den Wald fuhr. Obwohl der Alkoholiker und Kleinkriminelle Pfaffinger das Geständnis später widerrief, war sich das Schwurgericht sicher: Er grub das Loch, in das dann Ursulas Gefängniskiste eingelassen wurde. 1992 starb Pfaffinger.

    19 Tage nach der Entführung wurde das Kistenverlies im Wald mit dem toten Mädchen gefunden.
    19 Tage nach der Entführung wurde das Kistenverlies im Wald mit dem toten Mädchen gefunden. Foto: dpa (Archivbild)

    Obwohl die Indizienkette plausibel und recht wasserdicht klingt, sind die Zweifel an dem Urteil bis heute nicht ausgeräumt. Das liegt vor allem an zwei Faktoren: Werner Mazurek, heute 73, bestreitet nach wie vor, dass er der Täter war. Und Ursula Herrmanns Bruder Michael glaubt ebenfalls nicht, dass Mazurek es war, und recherchiert immer weiter.

    Im Herbst 1981 war Michael Herrmann ein unbeschwerter Heranwachsender von 18 Jahren, der sich für Musik und Mädchen interessierte. Doch am Abend des ersten Schultags nach den Sommerferien passierte das Unfassbare: Seine kleine Schwester Ursula verschwand. Die Zehnjährige hatte am späten Nachmittag ihre Turnstunde besucht und dann noch bei ihrer Tante in Schondorf zu Abend gegessen. Gegen 19.15 Uhr machte sich das Mädchen mit seinem roten Fahrrad auf den Heimweg. Doch sie kam niemals mehr aus dem Waldgebiet "Weingarten" heraus.

    Die Holzkiste sollte ihr Grab werden. In dem Verlies waren zwar Essen und Getränke, Wolldecken, ein Toiletteneimer. Ein Transistorradio und eine Glühbirne waren an eine Autobatterie angeschlossen. Die Entführer hatten auch Lesestoff in die Kiste gepackt: Comic-Hefte wie "Clever & Smart" und Groschenromane wie "Am Marterpfahl der Irokesen". Sogar ein Lüftungsrohr war eingebaut. Doch es funktionierte nicht. Das Mädchen erstickte.

    Albtraum ist nur ein sehr unzureichender Begriff dafür, was die Familie Herrmann in den Stunden und Tagen danach durchmachte. Sie rief die Polizei, als Ursula nicht heimkam. Beamte fanden das Fahrrad des Mädchens. Familie Herrmann ahnte Schreckliches. Aber erst zwei Tage später rief jemand an, allerdings ohne etwas zu sagen. Er spielte lediglich die bekannte Bayern-3-Verkehrsmelodie ab, die ersten sieben Töne des Volksliedes "So lang der alte Peter". Neun solcher Anrufe erhielt die Familie Herrmann in den Tagen darauf. Am 18. September kam der erste Erpresserbrief. Die Entführer verlangten zwei Millionen Mark Lösegeld. 19 Tage nach Ursulas Verschwinden, am 4. Oktober 1981, wurde die Kiste mit dem toten Mädchen gefunden.

    Die Zweifel haben Ursulas Bruder lange Jahre beschäftigt. Er schrieb Mazurek einen Brief ins Gefängnis

    Michael Herrmann würde so gerne mit dem Verbrechen an seiner kleinen Schwester abschließen. Aber er kann es nicht. Schon im Strafprozess kamen ihm Zweifel. Die Hauptindizien überzeugen ihn bis heute nicht. Als Musiklehrer und Musiker konnte er das LKA-Gutachten zum Tonband früh nicht nachvollziehen. Er hat sogar einen Zivilprozess angestrengt, um das Verfahren wieder in Gang zu bringen. Die Zweifel haben Ursulas Bruder lange Jahre beschäftigt. Er schrieb Mazurek einen Brief ins Gefängnis, der mit den Worten schloss: "Wenn Sie nicht der Täter sind, wünsche ich Ihnen, dass sich noch neue Erkenntnisse auftun und Sie rehabilitiert werden können. Wenn Sie der Täter sind: Fahren Sie zur Hölle!"

    Mit diesem Tonbandgerät sollen die Erpresseranrufe hergestellt worden sein.
    Mit diesem Tonbandgerät sollen die Erpresseranrufe hergestellt worden sein. Foto: dpa

    Vor einigen Jahren hat sich Michael Herrmann aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Hinter den Kulissen kämpft er mit dem Landsberger Anwalt Joachim Feller aber weiter darum, dass der Fall neu aufgerollt wird – obwohl er mit Mazureks Verbüßen der Strafe nun bald abgeschlossen sein könnte. Herrmann will nicht, dass ein Unschuldiger hinter Gittern sitzt.

    Und tatsächlich sind in den vergangenen Jahren einige Dinge zutage getreten, die Zweifeln am Urteil von 2010 neue Nahrung geben können. Nachdem das Gutachten der LKA-Sachverständigen schon im Zivilprozess von einem Experten kritisiert worden war, kam auch die Universität Zürich in einem Gutachten für eine Filmproduktionsfirma vergangenes Jahr zu dem Schluss: Es sei sehr unwahrscheinlich, dass genau Mazureks Grundig-Tonbandgerät die spezielle Täter-Tonfolge aus den Erpresseranrufen hervorgebracht hat.

    Bei den Ermittlungen wurde "wahnsinnig viel versaut", sagt Anwalt Walter Rubach

    Beim zweiten Hauptindiz, dem Geständnis des Alkoholikers Pfaffinger, fällt auf, dass die Polizei kein Protokoll gefertigt hat. Stattdessen fuhren die beiden Kripobeamten seinerzeit mit dem Geständigen in den Wald, damit er ihnen die Stelle zeigen sollte, an der er das Loch gegraben hat. Beim Verlassen des Polizeireviers soll Pfaffinger laut einem der Beamten noch gesagt haben, er schwöre beim Leben seiner Mutter, dass es stimme, was er gesagt habe. Die richtige Stelle im Wald konnte oder wollte er dann aber nicht mehr finden.

    Seit jeher auffällig ist, dass weder auf der Holzkiste noch auf den Erpresserbriefen jemals Fingerabdrücke oder DNA-Spuren von Werner Mazurek gefunden worden sind. Fakt ist: Die Ermittlungen Anfang der 80er Jahre verliefen unstrukturiert und teils unprofessionell. "Da wurde wahnsinnig viel versaut", sagt der Augsburger Rechtsanwalt Walter Rubach, der Mazurek seit 2008 vertritt.

    Und es bleiben bis heute drängende Fragen: Warum hat der versierte Handwerker Mazurek keine funktionierende Lüftung in die Holzkiste eingebaut? Warum haben erfahrene Ermittler nicht als Allererstes das Geständnis des angeblichen Komplizen protokolliert? Warum haben die Ermittlungen der Augsburger Staatsanwaltschaft genau zu jener Zeit um das Jahr 2005 wieder an Fahrt aufgenommen? Das Verbrechen des erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge verjährt nach 30 Jahren, im Fall Ursula Herrmann wäre also 2011 Schluss gewesen mit der Strafverfolgung.

    Es kursieren inzwischen alternative Täter-Theorien

    Für viele der Fragen gibt es keine befriedigende Antwort. Auch aus diesem Grund kursieren inzwischen alternative Täter-Theorien. Eine davon geht so: Die Entführer könnten aus dem Umfeld des Landschulheims in Schondorf kommen, einem privaten Internat für Kinder einflussreicher Eltern, das in Schondorf am Waldrand liegt. Fakt ist, dass die Jugendlichen des Internats sich von jeher auch im Waldgebiet Weingarten herumtreiben. Unklar ist, wie intensiv in dem Internat ermittelt worden ist, ob zum Beispiel von allen männlichen Oberstufenschülern Fingerabdrücke genommen wurden. Die Sprachwissenschaftlerin Barbara Zipser hat die Erpresserbriefe an die Familie Herrmann untersucht und fand auf einem davon den Durchdruck einer Zeichnung, der einer Mathematik-Aufgabe aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung ähnelt. Zwei der Landschulheim-Schüler übergaben der Polizei Anfang 1983 einen grünen Klingeldraht, den sie nach ihrer Darstellung beim Eulenjagen im Wald gefunden haben wollen. Diesen Draht hatten die Entführer vermutlich als eine Art Alarmanlage verwendet.

    Das Grab von Ursula Herrmann am Friedhof von Eching.
    Das Grab von Ursula Herrmann am Friedhof von Eching. Foto: Thorsten Jordan (Archivbild)

    Und eine weitere mögliche Auffälligkeit führen die Skeptiker ins Feld: Auf Ursulas Todeskiste fanden die Spurensicherer eine spezielle Art Bitumen. Der Vater eines der Schüler mit dem Klingeldraht betrieb damals in der Nähe des Ammersees eine Bitumen-Firma.

    Doch all dies hat das Landgericht Augsburg nicht davon überzeugt, den Fall Ursula Herrmann neu aufzurollen. Und so wird Werner Mazurek die voraussichtlich letzten Wochen seiner Haftstrafe in der JVA Lübeck verbringen, wo er sich über all die Jahre wenig kooperativ verhielt, aber ansonsten nicht auffällig wurde. Eine kleine Gruppe von Unterstützern im sozialen Netzwerk Facebook spricht ihm Mut zu. Dort sind auch Fotos von Freigängen Mazureks zu sehen. Obwohl die Augsburger Staatsanwaltschaft auf einer Anhörung vor Gericht besteht, wird sich der 73-Jährige wahrscheinlich bald wieder gänzlich frei bewegen können. Am 28. Mai hat er 15 Jahre Strafe abgesessen – ob er nun wirklich Ursulas Entführer war oder nicht.

    Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast "Augsburg, meine Stadt" mit dem Strafverteidiger Walter Rubach an – unter anderem zu der Frage: "Warum verteidigen Sie Mörder und Sexualstraftäter?" Die Folge können Sie sich hier anhören:

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