Ein Freispruch also für jenen 61-jährigen Starnberger, der die Ärztin und Impf-Befürwortern Lisa-Maria Kellermayr gerne vor ein „Volkstribunal“ stellen wollte, eine „Kreatur“ wie sie, der ihr per E-Mail schrieb, man „beobachte sie“ – und der das am Mittwoch mit „Angst vor der Impfung“ argumentierte. Ja, er selbst habe psychische Probleme gehabt während der Pandemie, eben weil er solche Angst vor der Impfung gehabt habe, habe er das mit „Aktivismus“ kompensieren müssen. Den Suizid Kellermayrs bedauere er sehr, sagte der Kleinunternehmer aus Bayern, der den gesamten Prozess über geschwiegen hatte, dann doch noch vor Gericht.
Sein Freispruch wird in der Coronaleugner-Szene, der der Angeklagte zweifelsohne angehörte oder angehört, sicher mit Genugtuung aufgenommen werden. Beobachter hatten so ein Urteil erwartet: Ein direkter, kausaler Zusammenhang zwischen den Drohmails des Angeklagten, für die er übrigens nie ein Wort des Bedauerns geäußert hatte, und dem Suizid der Ärztin, war für die Richterin und die beiden Schöffen nicht beweisbar. Aus einer juristischen Perspektive mag die Sichtweise des Gerichts schlüssig sein, die Überlegungen der Richterin sind nachvollziehbar.
Prozess um Drohbrief-Schreiber: Vulnerabilität des Opfers zählt zu wenig
Der Prozess gegen Roman M. zeigt aber etwas anderes: In der öffentlichen Diskussion zählt das, was Verschwörungsideologen, Rechtsextreme und andere Hass-Täter tun, weniger als die Frage nach der Vulnerabilität des Opfers. Der Gesundheitszustand Kellermayrs wurde während des viertägigen Prozesses in Wels in allen Details vor der Presse ausgerollt. Vielfach sei Kellermayr geraten worden, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, das sei eine der Beobachtungen gewesen, die man aus dem Prozess mitnehmen habe können, ist in Zeitungsberichten zu lesen: Freunde der Ärztin hätten ihr das empfohlen und ihr gesagt, dass es sich bei den Drohbrief-Schreibern ja nur um „Maulhelden“ handle. Auch die bekannte Psychiaterin Adelheid Kastner sagte in ihrer Zeugenvernehmung, sie habe Kellermayr zur Distanz geraten, die Drohmail-Schreiber seien „Sadisten“, die man nicht „füttern“ sollte, habe sie der Ärztin gesagt.

Der Prozess in Wels ist nur vordergründig ein Lehrstück über die Komplexität von Suizidalität, über die Schwierigkeiten, die für Angehörige, Freunde, Mitarbeiter von Betroffenen wie auch für ihre betreuenden Ärzte und Psychiater bestehen, mögliche Handlungen zu verhindern, über Schweigen und Tabu. Er ist ein Spiegelbild der Diskussionen, wie sie schon direkt nach dem Tod von Kellermayr in sogenannten Sozialen Netzwerken abgeführt wurden: Dass so ein Suizid ja angeblich kein Wunder sei, wenn jemand „eh schon vorher psychisch labil“ gewesen sei.
Kellermayr-Prozess ist Spiegelbild der Gesellschaft
Der Prozess ist somit auch ein Spiegelbild einer Gesellschaft, die lieber auf eine mögliche Mitkausalität auf Seiten der Opfer blicken will, als auf die Aggression, die von Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen ausgeht. Jene, die beim Prozess dabei waren, wissen nun jede Menge über Lisa-Maria Kellermayr, darüber, was in ihrem Kopf vorging. Wir wissen nun genauestens über ihren jahrelangen Leidensweg Bescheid, über ihre Ängste, über intimste Details ihrer Krankengeschichte, darüber, wie und wann sie mehrmals versuchte, sich das Leben zu nehmen und auch darüber, wie es ihr schlussendlich gelungen ist. Was im Kopf eines 61-Jährigen vorgeht, der eine Ärztin vor ein „Volkstribunal“ stellen wollte, weil sie öffentlich einer Impfung das Wort redete, weil sie sich stark gemacht hatte, wissen wir nicht. Der Diskussion, was wir alle – abseits des Strafrechts – gegen solch irrationalen Hass ausrichten wollen und können, haben die vier Tage in Wels nicht weitergeholfen.

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