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Kirche: Vesperkirche Augsburg wirft Schlaglicht auf Altersarmut in Bayern

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Vesperkirche Augsburg wirft Schlaglicht auf Altersarmut in Bayern

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    Noch bis zum 17. März werden in der evangelischen St. Paul-Kirche in Augsburg täglich rund 400 Mahlzeiten über die Theke der Essensausgabe gehen.
    Noch bis zum 17. März werden in der evangelischen St. Paul-Kirche in Augsburg täglich rund 400 Mahlzeiten über die Theke der Essensausgabe gehen. Foto: Klaus Rainer Krieger

    Geräuschvoll räumt Anni Reuter ein paar Stühle aus dem Weg, nimmt an einem der Tische Platz und beginnt zu erzählen. Sie erzählt von ihrem Unfall an der Bahnsteigkante und von den Mäusen, die wohl durch ein gekipptes Fenster in ihre Wohnung gelangten und ihre gesamte Kleidung zerbissen haben, während sie im Krankenhaus war. Es war nicht ihr einziger Unfall, nicht ihre einzige Verletzung, deshalb kann Reuter nicht mehr arbeiten. Sie hat viel zu erzählen, dennoch wird nicht ganz klar, wovon die Frau im Rentenalter im Moment lebt. Fest steht, dass Anni Reuter auf karitative Angebote wie das der "Vesperkirche Augsburg" angewiesen ist.

    Viele Menschen, die an diesem Tag in die evangelische St. Paul-Kirche in Augsburg gekommen sind, haben Ähnliches zu berichten. Im vergangenen Dezember teilte der Sozialverband VdK mit, dass 21,8 Prozent der über 65-Jährigen in Bayern armutsgefährdet seien – mehr als in jedem anderen Bundesland. In der "Vesperkirche", einem von der katholischen und evangelischen Kirche gemeinsam organisierten und in dieser Form in Bayern einzigartigen Projekt, begegnet man den Menschen hinter dieser Zahl.

    Am Tag werden rund 400 Mahlzeiten ausgegeben, dazu Kuchen, Kaffee und Obst

    Dort, wo in St. Paul normalerweise Gläubige im Gottesdienst sitzen, sind nun Tischgruppen mit 200 Plätzen; die Kirchenbänke wurden vorübergehend weggeräumt. Gleich links vom Eingang haben Ehrenamtliche eine Essensausgabe aufgebaut, über deren Theke jeden Tag 400 Mahlzeiten ausgegeben werden, dazu Kuchen, Kaffee und Obst. Neben dem Altar befindet sich die sogenannte Beratungsinsel, auf der sich soziale Dienste präsentieren. Man kann sich in den Räumlichkeiten der Gemeinde auch die Haare schneiden oder die Füße pflegen lassen. Insgesamt zwei Wochen, noch bis zum Sonntag, steht das Gotteshaus Bedürftigen oder Hilfesuchenden täglich für vier Stunden offen.

    Vesperkirche in St. Paul in Pfersee.
    Vesperkirche in St. Paul in Pfersee. Foto: Klaus Rainer Krieger

    Wer zur Vesperkirche kommt, zahlt am Eingang den symbolischen Preis von einem Euro. Wer es sich leisten kann, gibt sechs Euro – ein kleiner Beitrag, um die Unkosten zu decken. "Zur Vesperkirche darf ich kommen, wie ich bin, wie ich geworden bin, und so darf ich auch wieder gehen", schrieb der evangelische Pfarrer Martin Fritz, als er 1995 in Stuttgart das erste Projekt dieser Art veranstaltete. Seitdem sollen bei den Vesperkirchen bundesweit und zunehmend auch im Freistaat nicht nur Bedürftige Hilfe erfahren, ihnen soll auch die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglicht werden. Denn ebenso wie finanzielle Nöte plagt viele die Einsamkeit.

    "Es ist unsere Aufgabe, uns mit an den Tisch zu setzen, mitzuessen, mit jedem ins Gespräch zu kommen; auch den Leuten, die sich sonst nicht gesehen fühlen, zu zeigen, du bist auch wichtig, du wirst auch gesehen, und wir sind froh, dass du hier bist", sagt Franziska Mosthaf, die dem Kirchenvorstand von St. Paul angehört und das Projekt in Augsburg mitentwickelt hat. Viele soziale Kontakte hätten die Corona-Pandemie nicht überlebt. Anni Reuter bestätigt das. Sie sagt: "Für mich ist das wie Urlaub, es ist das erste Mal seit Corona, dass ich wirklich unter Menschen bin und mich richtig unterhalten kann."

    "Wir machen das nicht, um Werbung für die Kirche zu machen", sagt eine Ordensschwester

    Bis auf eine merklich betrunkene Frau, die sich vor dem Kirchengebäude gerade über das Essen echauffiert, findet sich an diesem Tag niemand, der die offene Atmosphäre nicht genießen oder die Herzlichkeit der Ehrenamtlichen nicht wertschätzen würde. So sehr die beiden großen christlichen Kirchen im Land unter ihren Skandalen und ihrer schwindenden gesellschaftlichen Relevanz leiden, so stolz präsentieren sie sich hier – mit dem, was sie im Kern ausmacht: der Nähe zum Menschen. "Wir machen das nicht, um Werbung für die Kirche zu machen. Aber wir hoffen natürlich, dass die Menschen Kirche so erleben, wie sie eigentlich sein soll: eine Solidargemeinschaft, eine Glaubensgemeinschaft, Menschen, die glauben, dass es mehr gibt als reine Wirtschaftlichkeit", sagt Schwester Johanna von den Augsburger Vinzentinerinnen, die als Suchtberaterin beim Vesperkirchen-Projekt mitwirkt.

    Wie bitter nötig dieses Projekt ist, zeigt der immense Anklang, den es hat. Finden der Statistik der katholischen Kirche zufolge durchschnittlich nur noch knapp sechs Prozent der Kirchenmitglieder den Weg in den Gottesdienst, ist in der Augsburger Vesperkirche bislang kaum ein Stuhl leer geblieben. Die soziale Utopie, von der die Veranstalter sprechen – dass sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten austauschen – bleibt dennoch ein Stück weit Utopie. Und das hat mit der Realität und ihren Problemen zu tun. Zwar essen hier auch junge Menschen, doch vorwiegend sitzen an den Tischen Menschen im Rentenalter oder kurz davor. Wie Anni Reuter. Oder Hubert, der seinen Nachnamen für sich behalten will, und der sich von seiner Erwerbsunfähigkeitsrente keine regelmäßige warme Mahlzeit und keine neue Kleidung leisten könne, wie er sagt. Die Kleidungsstücke, die er an seinem Körper trägt, hätten zusammengerechnet zehn Euro gekostet.

    Seit einem Bandscheibenvorfall vor zehn Jahren kann der ehemalige Altenpfleger nicht mehr arbeiten, später entwickelte er Diabetes und erkrankte schließlich an Schilddrüsenkrebs. "Es dauerte zwei Jahre und zehn Gutachten, bis mir eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen wurde", erzählt der Mann. Zu den körperlichen Beschwerden kamen psychische Probleme hinzu, eine Konsequenz der großen Unsicherheit. "Irgendwann ist man ausgesteuert und bekommt kein Geld von nirgendwo. Im VdK habe ich die Leute sitzen sehen, mit dicken Ordnern und traurigen Gesichtern. Da weiß ich, dass ich nicht der Einzige bin." Nach seinen Erfahrungen, auch bei der Tafel, gebe es immer mehr Menschen, die von ihrer Rente oder anderen Sozialleistungen nicht mehr leben könnten. Viel Hoffnung auf Besserung hat er nicht. "Solange die staatliche Antwort auf die Altersarmut lautet, an den Mülleimern der Stadt, Flaschenhalterungen für die Flaschensammler anzubringen, braucht es solche Angebote wie hier", meint er.

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