Papst Franziskus kam am Mittwochabend vorbei. Seit Jahren stattet das amtierende Oberhaupt der katholischen Kirche seinem Amtsvorgänger im Vatikan-Kloster Mater Ecclesiae, das im Schatten des Petersdoms in den vatikanischen Gärten liegt, Besuche ab. Zu Ostern und Weihnachten ist das bereits Tradition. Diesmal war der Anlass ein am Karsamstag anstehender runder Geburtstag.
Papst Benedikt XVI., wie sich Joseph Ratzinger trotz seines Rücktritts im Jahr 2013 weiter nennen lässt, wird 95 Jahre alt. Es habe ein „kurzes und herzliches Gespräch“ zwischen den beiden gegeben, teilte der Vatikan mit. Beide hätten auch miteinander gebetet, wurde berichtet. Dann sei Franziskus wieder in das Vatikan-Gästehaus Santa Marta zurückgekehrt, wo er lebt und arbeitet.
Die Koexistenz zweier Päpste im Vatikan ist nach neun Jahren Routine. Befürchtungen oder heimliche Wünsche, die beiden theologisch völlig unterschiedlich tickenden Männer ließen sich gegeneinander ausspielen, haben sich nicht bestätigt. Gleichwohl gab es über die Jahre hinweg indirekte Reibungen, die nicht zuletzt Ratzingers Privatsekretär und rechte Hand Georg Gänswein zu spüren bekommen hat.
Benedikt bricht sein eigenes Schweige-Versprechen
Nachdem Benedikt, der ja anlässlich seines Rücktritts eigentlich versprochen hatte, fortan „vor der Welt verborgen“ zu leben, vor der Amazonien-Synode 2019 in einem Buchbeitrag eine Lanze für den Zölibat brach, wurde das als Affront gegen Franziskus gewertet. Denn der wollte das Thema ergebnisoffen auf jener Synode diskutieren lassen – und ruderte schließlich zurück. Verantwortlich gemacht für die organisierte Panne wurde Erzbischof Gänswein. Ihn beurlaubte Franziskus infolge der Affäre als Präfekt des Päpstlichen Hauses.
Der aus dem Erzbistum Freiburg stammende Georg Gänswein ist die entscheidende Figur, wenn es um das Bild geht, das zum Lebensende von Joseph Ratzinger gezeichnet wird. Informationen aus anderen Quellen dringen kaum nach außen. Die Ordensschwestern der Memores Domini, die mit den beiden Männern im Mater Ecclesiae leben, sind verschwiegen. Ratzingers älterer Bruder Georg starb im Juli vor zwei Jahren.
Der heute 65-jährige Gänswein ist seit 2003 als Ratzingers Privatsekretär aktiv. Von ihm weiß die Öffentlichkeit, dass Benedikt physisch schwach, aber immer noch bei klarem Verstand sein soll. „Seine Bewegungen sind langsam und er muss noch mehr ausruhen als früher“, berichtete Gänswein neulich der italienischen Klatschzeitschrift Oggi. Ratzinger feiere morgens um 7.30 Uhr die Messe, danach sitze er in einem Sessel und höre Musik. Seit kurzem habe er sogar die alte Gewohnheit eines Spaziergangs in den Vatikanischen Gärten wieder aufgenommen.
Ratzingers Verwicklungen in den Missbrauchsskandal
Aus München erreichten Ratzinger zum Geburtstag ein Brief und ein „Geschenkkorb mit guten Gaben aus der bayerischen Heimat“ von Kardinal Reinhard Marx. „Du hast vielen Menschen geholfen, ihren Weg im Glauben zu finden“, schrieb der Erzbischof von München und Freising an seinen Vorgänger im Amt. Er würdigte sein „großes theologisches Werk“ und „unentwegtes Suchen, Denken, Ringen und Wirken im Horizont des absoluten Geheimnisses, das wir Gott nennen“. Der emeritierte Papst gehe seinen „ganz eigenen Weg bis zur endgültigen Begegnung mit dem Herrn“.
Seit Januar tobt ein Streit über die Verwicklung Ratzingers im Missbrauchsskandal im Erzbistum München und Freising, in dem er von 1977 bis 1982 Erzbischof war. Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl hatten ein Gutachten erstellt und bezichtigen ihn schwerer Fehler im Umgang mit Opfern und Tätern. Auch der spätere Papst habe vertuscht, so der Vorwurf. Streit entzündete sich insbesondere an der Frage, ob Ratzinger 1980 in einer entscheidenden Sitzung, bei der über einen Täter beraten wurde, anwesend war. Benedikt ließ erst erklären, er sei nicht anwesend gewesen, später ruderte er zurück und entschuldigte sich für das „Versehen“. Kritiker warfen ihm „Lüge“ vor. Benedikt, der sich keiner persönlichen Schuld bewusst ist und in einem „Faktencheck“ alle Vorwürfe zurückweisen ließ, zeigte sich „tief getroffen“ und „schockiert“.
Benedikts Rolle im Missbrauchsskandal scheint nun die entscheidende Frage beim Urteil über sein Lebenswerk zu sein. Seine Verteidiger wenden ein, er habe als Präfekt der Glaubenskongregation die Bekämpfung des Missbrauchs gegen Widerstände in die Zentrale geholt, Gesetze verschärft und hunderte Priester aus dem Amt entlassen. Auch sei er der erste Papst gewesen, der mit Opfern zusammengekommen sei. Seine Kritiker erkennen in Benedikts jüngsten Verteidigungsschriften in eigener Sache die alte Kirche, der das eigene Wohl wichtiger war als das der Opfer.
Was "Wir sind Kirche" dem Ex-Papst wünscht
Die Reformbewegung „Wir sind Kirche“ bezeichnet Ratzinger zu seinem Geburtstag als „zwiespältigen Theologen“, der die nachkonziliare Kirche stärker beeinflusst habe „als jeder andere Theologe und Papst“. Zugleich sei er vor Angst und Misstrauen erstarrt und habe seinem eigenen Ruf als integrer Theologe und Kirchenführer geschadet. „Es wäre ihm zu wünschen, dass ihm auch jetzt noch in seinem hohen Alter ein persönliches Schuldeingeständnis für sein damaliges Handeln bzw. Nicht-Handeln gelingen würde.“
Benedikt selbst hatte in seiner Stellungnahme zu den Vorwürfen im Februar geschrieben: „Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen.“ Er vertraue fest darauf, „dass der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat“.