Nach der Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens fordern parteiübergreifend Landtagsabgeordnete die katholische Kirche zum Handeln auf – und üben massive Kritik. So macht sich Landtagspräsidentin Ilse Aigner von der CSU für eine unabhängige Aufklärung stark. Sie stelle sich die grundsätzliche Frage, „ob es überhaupt noch möglich ist, dass die Kirche intern die Aufklärung selbst bewerkstelligen kann“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.
Ähnlich äußerte sich auf Anfrage unserer Redaktion Thomas Huber, Sprecher der CSU-Fraktion für Fragen der katholischen Kirche und Mitglied im Landeskomitee der Katholiken in Bayern. Er forderte „Aufklärung ohne Wenn und Aber und ohne Rücksicht auf Amt und Würden“. Die jüngsten Veröffentlichungen „haben uns alle zutiefst beschämt und der Umgang der katholischen Kirche mit den Missbrauchsfällen macht mich wütend“, sagte Huber. An einer externen Begleitung der Kirche durch eine unabhängige Instanz führe kein Weg vorbei. In welcher Form dies geschehen soll, darüber sei in der CSU-Landtagsfraktion aber noch nicht gesprochen worden.
SPD und FDP haben einige Fragen an die Staatsregierung
Ein am 20. Januar vorgestelltes Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl für das Erzbistum München und Freising war zu dem Ergebnis gekommen, dass es von 1945 bis 2019 mindestens 497 Missbrauchsopfer und 235 Täter gab. SPD und FDP thematisieren die Inhalte des Gutachtens mit schriftlichen Anfragen: So will die SPD von der Staatsregierung wissen, ob es aktuell (Vor-)Ermittlungen gegen den Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx und einen seiner Vorgänger, Joseph Ratzinger (heute der emeritierte Papst Benedikt XVI.), gebe. Beiden wird Fehlverhalten vorgeworfen.
Zudem interessiert sich die SPD dafür, ob die Regierung die Einschätzung des Passauer Strafrechtsprofessors und CSU-Kreisvorsitzenden Holm Putzke teile, dass „bei den Staatsanwaltschaften so etwas wie eine Beißhemmung vorhanden ist, was die katholische Kirche und den Umgang mit Missbrauchsfällen angeht“.
Landtags-Grüne und SPD stellen Dringlichkeitsanträge
SPD und Grüne gehen aber noch einen Schritt weiter und werden Dringlichkeitsanträge einbringen, über die in der Plenarsitzung an diesem Mittwoch ab voraussichtlich 15.15 Uhr debattiert werden soll. Die SPD fordert - nach 2020 - erneut einen "bayerischen Missbrauchsbeauftragten"; CSU und Freie Wähler müssten ihre Verweigerungshaltung aufgeben. Der Beauftragte müsse, so die kirchenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Diana Stachowitz, direkt beim Landtag angesiedelt werden und jährlich Bericht erstatten. Außerdem solle er - wie der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung - eine unabhängige Aufarbeitungskommission einrichten. "Sämtliche Formen von Kindesmissbrauch in Bayern seit 1949" sollten untersucht werden.
In dem Antrag der Grünen, der unserer Redaktion vorliegt, fordern diese die Staatsregierung dazu auf, „eine von der katholischen Kirche unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche in Bayern und der damit zusammenhängenden Versäumnisse aller bayerischen Behörden und Gerichte einzurichten, in der Opfervertreter*innen eingebunden werden“. Überdies wollen sie unter anderem die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle, die Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Kontext und deren Angehörige kostenfrei und anonym mit psychologischer und juristischer Beratung unterstützt.
Die religionspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, Gabriele Triebel, sagte mit Blick auf das Gutachten: „Die Aufarbeitung dieses Unrechts betrifft nicht die Kirchen allein. Es ist schonungslos und transparent zu klären, ob und wie staatliche Stellen zur systematischen Vertuschung von sexuellem Missbrauch an Kindern beigetragen haben.“ FDP-Politiker Matthias Fischbach kritisierte: „Es reicht nicht, allein auf Kooperation der Kirche zu vertrauen. Es muss jetzt geprüft werden, ob auch Durchsuchungen und Beschlagnahmen nötig und möglich sind.“
Generalvikar schrieb: „Der Vorsitzende Richter wird Herr […] sein. Er ist praktizierender Katholik"
Insbesondere die Kritik an der staatlichen Justiz ist zuletzt lauter geworden – auch vor dem Hintergrund, dass aus dem Gutachten stellenweise ein problematisches Verhältnis zwischen ihr und der Kirche hervorzugehen scheint. Im Fall des Missbrauchstäters Peter H. etwa, der 1986 vom Amtsgericht Ebersberg wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu einer 18-monatigen Bewährungs- und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, schrieb Generalvikar Gerhard Gruber an den Generalvikar des Bistums Essen, aus dem H. für eine Therapie gekommen war: „Der vorsitzende Richter wird Herr […] sein. Er ist praktizierender Katholik […]. Es besteht die begründete Hoffnung, daß alle Beteiligten jedes Aufsehen in der Öffentlichkeit vermeiden werden.“
Nachdem 2018 die bundesweite sogenannte MHG-Studie veröffentlicht worden war, befassten sich Generalstaatsanwaltschaften mit der Frage nach der strafrechtlichen Relevanz ihrer Inhalte. Die Studie erbrachte, dass mindestens 1670 Geistliche zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 Kinder und Jugendliche missbraucht haben sollen. Anfang 2020 wurde bekannt, dass in Bayern eine Vielzahl von Ermittlungen gegen verdächtige Kirchenmänner eingestellt wurde – häufig wegen Verjährung.
Zunehmend wird auch Kritik an der Justiz laut
Die Generalstaatsanwaltschaft München betonte auf Anfrage, dass strafrechtliche Ermittlungen nur dann eingeleitet werden können, wenn es einen konkreten Anfangsverdacht gebe. Die allgemeine und nicht näher konkretisierte Erkenntnis, dass in der katholischen Kirche „sexueller Missbrauch stattgefunden habe“, rechtfertige nicht den Erlass von Durchsuchungsbeschlüssen mit dem Ziel, beispielsweise alle Personalakten katholischer Priester zu beschlagnahmen, um nachzuprüfen, ob sich darin möglicherweise Anhaltspunkte für derartige Tatvorwürfe finden. „Eine solche auf reine Ausforschung ins Blaue hinein gerichtete Vorgehensweise ist nach den Grundsätzen der Strafprozessordnung nicht zulässig.“
2010 erst hatte die Deutsche Bischofskonferenz in ihren „Leitlinien“ festgehalten, dass „Informationen an die staatliche Strafverfolgungsbehörde“ weitergeleitet werden müssten, sobald „tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen vorliegen“. Zuvor hieß es, dass in „erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger“ dem Verdächtigten „zur Selbstanzeige geraten und je nach Sachlage die Staatsanwaltschaft informiert“ werde.
Was das Münchner Missbrauchsgutachten angeht, so kooperieren die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl und die Staatsanwaltschaft München I miteinander, wie beide mitteilten. Die Gutachter übergaben der Behörde Fälle, „die Gegenstand des zu veröffentlichenden Berichts sein sollen und zumindest auch noch lebende kirchliche Leitungsverantwortliche betreffen“ im vergangenen August anonymisiert zur Prüfung. Ende Dezember erklärte die Staatsanwaltschaft den Gutachtern, dass „657 kirchliche Vorgänge von der Polizei gesichtet und aufbauend auf deren Ergebnis 334 Datensätze von der Staatsanwaltschaft geprüft“ worden seien, „bei denen sich Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten ergaben“.
Übrig blieben 42 Verdachtsfälle der Beteiligung von kirchlichen Verantwortungsträgern an sexuellem Missbrauch, die sich nach wie vor in einem „Vorprüfungsverfahren“, so eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft, befinden. Bei den restlichen Vorgängen waren Verdächtigte gestorben, Staatsanwaltschaften hatten sie abgearbeitet – oder sie waren verjährt. Die Sprecherin sagte, die Prüfung sei „umfassend“ und dauere an. Ob Marx oder Ratzinger unter den Überprüften sind, wollte sie nicht sagen.
Auch bundespolitisch ist der Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen ein Thema
Bundespolitisch geht es unter anderem um das Amt des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung und der von ihm 2016 eingesetzten „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindsmissbrauchs“. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP heißt es dazu, dass die Arbeit des Missbrauchsbeauftragten gesetzlich geregelt und eine „regelmäßige Berichtspflicht an den Deutschen Bundestag“ eingeführt werden solle. Die Aufarbeitung struktureller sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Kirchen solle zudem begleitet und „aktiv“ gefördert werden – wenn erforderlich, würden „gesetzliche Grundlagen“ geschaffen.
Der seit 2011 amtierende Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, kündigte bereits Ende 2020 seinen Rückzug an. Damals sagte er dem Tagesspiegel: „Leider reagieren politisch Verantwortliche in Bund und Ländern bis heute meist nur, wenn Fälle zu Skandalen werden. Wir brauchen aber dauerhaftes Engagement im Kampf gegen sexuellen Missbrauch und seinen Folgen, und zwar von allen.“ Rörigs Forderung nach einer gesetzlichen Verankerung seines Amtes und nach einer gesetzlichen Berichtspflicht ist in den Koalitionsvertrag eingeflossen.
In der Welt forderte er kürzlich: „Um Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in den jeweiligen Institutionen bundesweit voranzubringen und zu unterstützen, wären Beratungs- und Anhörungsrechte gegenüber den Institutionen, vielleicht auch eigene Vorladungs-, Untersuchungs- und Kontrollrechte, für die bei meinem Amt angesiedelte unabhängige Aufarbeitungskommission sinnvoll.“