Streit um Akten, widersprüchliche Aussagen, verärgerte Betroffene – und deutliche Worte des bayerischen Justizministers: Die Veröffentlichung der ersten umfassenden Studie zu sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie vor knapp zwei Wochen hat andere Folgen, als Kirchenverantwortliche es erwartet hätten. Anstatt beispielsweise über jetzt nötige Aufarbeitungs- und Präventionsmaßnahmen zu sprechen, überlagert eine Debatte über den kirchlichen Aufklärungswillen die Ergebnisse der "ForuM"-Studie. In diese Debatte hat sich nun auch Georg Eisenreich (CSU) eingebracht. Er sagte unserer Redaktion: "Ich fordere die Landeskirche auf, eine umfassende Auswertung der Personalakten statt nur der Disziplinarakten in die Wege zu leiten." Er kritisierte, dass wertvolle Zeit vergangen sei.
Selbst kirchenintern ist von einem "Debakel" die Rede
Damit greift Bayerns Justizminister auf, was kirchenintern für anhaltendes Unverständnis sorgt und öffentlich als Skandal wahrgenommen wird. Die beauftragten unabhängigen Forscherinnen und Forscher mahnten bei der Vorstellung der Studie sowie in Interviews die "schleppende Zuarbeit der Landeskirchen" an, und dass sie bloß für eine von 20 Landeskirchen eine Analyse der Personalakten vornehmen konnten. Fakt ist: Vereinbart war eine stichprobenartige Untersuchung der Personalakten. Doch irgendwann standen die Forschenden vor der Entscheidung, die Studie abzubrechen – oder sich mit den Disziplinarakten von Pfarrern zufriedenzugeben. Aus den Landeskirchen hörten sie nach eigener Darstellung, dass diese nicht über ausreichende personelle Ressourcen für eine Personalaktendurchsicht verfügten. Das mündete in eine "hochselektive" Quellenlage, die ermittelten 1259 Beschuldigten und 2225 Fälle seien die "Spitze der Spitze des Eisbergs".
Kirchenintern spricht man, ohne sich zitieren lassen zu wollen, von einem Debakel. Gerade mit Blick auf die katholische Kirche, die schon 2018 eine umfassende Studie vorlegte. Für diese waren mehr als 38.000 Personalakten Geistlicher ausgewertet worden. Im Falle von evangelischer Kirche und Diakonie flossen lediglich 4282 Disziplinar- und 780 Personalakten in die Studie ein.
Verärgerung unter Betroffenen lösten zudem Aussagen von Annekathrin Preidel, Präsidentin der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, aus. Sie lobte deren Bemühungen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung nicht nur als vorbildlich. Preidel stellte auch die Glaubwürdigkeit eines beteiligten Forschers und den Erkenntnisgewinn einer Sichtung der Personalakten infrage. Dem Evangelischen Pressedienst sagte sie: "Wir reden von vielleicht 100.000 Akten oder mehr, pro Akte braucht man zur Durchsicht im Durchschnitt mehrere Stunden, vielleicht sogar einen Tag. Das ist ein Mammut-Projekt." Der in Plattling lebende Betroffenenvertreter Detlev Zander warf ihr vor, "immer noch nicht verstanden" zu haben, und forderte eine öffentliche Entschuldigung.
Den bayerischen Landesbischof Christian Kopp rief Zander auf, besser den Umgang mit Betroffenen in seiner Landeskirche zu kritisieren – statt die Entstehung der ForuM-Studie. Kopp hatte unserer Redaktion zunächst gesagt, es sei "bedauerlich, dass es für eine Landeskirche wie unsere nicht einfach war, Personalakten seit 1945 systematisch durchzusehen. Wir haben allein aktuell fast 30.000 Mitarbeitende beschäftigt. Dafür hätten wir eine wesentlich längere Analysezeit gebraucht". Später sagte er, von der Sichtung aller Personalakten habe seine Landeskirche keine Kenntnis gehabt. Die Kritik der Forschenden wies er zurück.
Betroffenenvertreter kritisiert Kirchenverantwortliche
Widersprüchlich auch seine Äußerungen zur Notwendigkeit einer Folgestudie. "Wir werden sicher nicht in Bayern anfangen, Personalakten zu analysieren, wenn es die anderen nicht auch konsequent machen", erklärte Kopp – und ergänzte, dass eine Nachfolge-Studie eine gute Idee sei. Pfarrer Fritz Graßmann, Theologischer Vorstand des Diakonischen Werks Augsburg, befürwortet hingegen weitere Studien – und ist damit nicht allein. "Man muss jetzt eine Personalaktenanalyse durchführen", sagte er im Gespräch. Und: "Ich wäre grundsätzlich auch für die Nennung der Namen Verantwortlicher."
Dass die Justiz den Umgang der evangelischen Kirche mit Missbrauchsfällen genau verfolgt, betonte Minister Eisenreich. Ihm zufolge forderten die Generalstaatsanwaltschaften bereits im November 2018 die Kirche auf, ihr bekannt gewordene Fälle den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen. Im Dezember 2023 – noch vor Veröffentlichung der ForuM-Studie – habe dann die bei dem Thema federführende Generalstaatsanwaltschaft Bamberg vom Landeskirchenamt eine Liste der an den Forschungsverbund gemeldeten Fälle verlangt.
Info Am Mittwoch, 7.2.2024, stellen sich Kirchenverantwortliche aus dem evangelischen Kirchenkreis Augsburg und Schwaben im Annahof (Augustanasaal) in Augsburg, Im Annahof 4, Fragen zur "ForuM"-Studie. Die Veranstaltung mit dem Titel "Entstellter Himmel" kostet keinen Eintritt, beginnt um 19 Uhr und endet um 21 Uhr.