Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) hat sich in einem mittlerweile zweiten Bericht an den Landtag mit dem Thema „Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche“ befasst. Der Bericht, der am Dienstag Abgeordneten zukommen sollte, liegt unserer Redaktion vor. Sein Inhalt: Zahlen und nähere Angaben zu Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs, die unabhängig von Gutachten eingeleitet wurden. Sie sind aus einer Erhebung bei den Staatsanwaltschaften hervorgegangen. Da Ermittlungs- und Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs im Bereich der Kirchen statistisch nicht gesondert erfasst werden, bedurfte es aufwendiger Recherchen. Hauptsächlich wurden Verfahrensakten aus dem Zeitraum von Januar 2017 bis Juni 2022 gesichtet.
Erster Bericht zu den strafrechtlichen Konsequenzen löste Kritik aus
Im ersten Eisenreich-Bericht von vor zwei Monaten war es dagegen vor allem um die beiden Missbrauchsgutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl für das Erzbistum München und Freising gegangen, in denen Kirchenakten seit 1945 ausgewertet wurden. Das Fazit zu den strafrechtlichen Konsequenzen daraus laut Justizminister: Überprüft wurden mehr als 800 Fälle staatsanwaltschaftlich. Bei 243 Fällen davon waren Kleriker die Verdächtigen – zu einer Verurteilung kam es nur in einem Fall.
Eisenreich räumte zudem ein, dass der Staatsanwaltschaft erst im Mai 2019 das erste Münchner Missbrauchsgutachten vorlag – weitgehend „ungeschwärzt“, wie er jetzt erklärt. Vorgestellt worden war das Gutachten aber im Dezember 2010; veröffentlicht wurde es aus „Datenschutzgründen“ bis heute nicht. Im Interview mit unserer Redaktion erklärte Eisenreich: „Aus heutiger Sicht hätte es früher angefordert werden müssen.“ Zugleich betonte er, dass verfolgbare Sexualdelikte deshalb nicht verjährt seien. Grüne, SPD und FDP im Landtag reagierten mit Kritik und Empörung.
Eisenreich: Gutachten und Mitteilungen der Kirchen über Verdachtsfälle spielten eine untergeordnete Rolle
In seinem zweiten, 21-seitigen Bericht an den Landtag – auf Antrag der Grünen und aufgrund einer Schriftlichen Anfrage der FDP-Abgeordneten Matthias Fischbach und Martin Hagen – weitet Eisenreich nun die Perspektive. Gutachten spielten vor allem für die kirchliche Aufarbeitung und für die gesellschaftliche Debatte eine zentrale Rolle, für die Strafverfolgung der unmittelbaren Täter hätten sie jedoch nur „sehr begrenzte Bedeutung“. „Der für eine Strafverfolgung notwendige Anfangsverdacht für Missbrauchsdelikte im kirchlichen Bereich ergibt sich in der Praxis weniger aus den im Mittelpunkt der Medienberichterstattung stehenden, von der Kirche in Auftrag gegebenen Studien, sondern folgt vor allem aus Anzeigen der Geschädigten oder Dritter“, führt er aus.
Auch die Mitteilungen der Kirchen über Verdachtsfälle nähmen eine untergeordnete Rolle ein – weil in vielen Fällen „zahlreiche Beschuldigte verstorben und zahlreiche Straftaten verjährt“ gewesen seien, und weil „die Kirchen von einem Missbrauchsverständnis ausgehen, das auch straflose Grenzüberschreitungen umfasst“.
In den Ohren Betroffener muss das bitter klingen. Und doch verdeutlicht es lediglich, was Studien und Gutachten immer wieder herausgestellt haben: Bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Reihen der Kirchen, die in hohem Maße Jahrzehnte zurückreichen, geht es – im Jahre 2022 – mehr um moralische Maßstäbe, weniger um (noch) Justiziables.
Das steht in dem neuen Bericht von Georg Eisenreich zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche
Insgesamt listet Georg Eisenreich Folgendes auf:
- 134 Ermittlungsverfahren wurden im Erhebungszeitraum infolge von Mitteilungen der Kirchen eingeleitet. Sie führten zu drei Verurteilungen;66 Ermittlungsverfahren wurden aufgrund von Anzeigen von Geschädigten oder Dritten eingeleitet (17 Verurteilungen);
- 29 wurden aus „sonstigen Gründen“ wie „Ermittlungen von Amts wegen“ eingeleitet (neun Verurteilungen).
- Von also 30 Verurteilungen – inklusive der, die aus einem Gutachten resultierte – betreffen im Erhebungszeitraum 24 die katholische, sechs die evangelische Kirche. Für deren Bereich „liegen bisher keine Missbrauchsstudien und dementsprechend keine hieraus resultierenden Verfahren vor“, hält Eisenreich fest. Die Anlage seines Berichts, die sich mit der evangelischen Kirche befasst, ist knapp anderthalb Seiten lang und weist bayernweit 23 (Verdachts-)Fälle aus. Alleine die Auflistung für die katholische Kirche im Oberlandesgerichtsbezirk München, zu dem Augsburg, Ingolstadt und Kempten zählen, hat knapp 18 Seiten.
- In dem Bericht heißt es zudem, dass die Staatsregierung prüfe, ob sie eine wissenschaftliche Dunkelfeldstudie „zu Missbrauch im kirchlichen Bereich speziell für Bayern“ beauftragen solle.