i
Foto: Imago Images
Foto: Imago Images

Die Menschen des Marktes Essenbach wohnen seit Jahrzehnten im Schatten des Kühlturms des Kernkraftwerkes Isar 2.

Kernenergie
02.08.2022

Zu Besuch bei Isar 2: Wie lange steigt noch Dampf auf?

Von Markus Bär

Das Kernkraftwerk Isar 2 im niederbayerischen Essenbach könnte länger laufen als gedacht. In der Gemeinde erinnert manches an den stillgelegten AKW-Standort Gundremmingen.

Das schwäbische Gundremmingen im Landkreis Günzburg hat einen Zwilling. Nein, keinen eineiigen. Aber immerhin einen zweieiigen. Einen niederbayerischen. Dieser Zwilling hört auf den Namen Essenbach und liegt im Landkreis Landshut. Wie das bei Zwillingen so üblich ist, sind sie sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Beide Orte liegen sehr ländlich, sind recht beschaulich. Beide wurden bis 2014 von einem Bürgermeister der Freien Wähler regiert und haben seitdem einen CSU-Bürgermeister. Beide Orte liegen recht nahe an einer Autobahn, der schwäbische Zwilling an der A8, der niederbayerische an der A92. Und die Zwillinge haben noch etwas gemeinsam. Ihre Einwohnerinnen und Einwohner leben seit Jahrzehnten – sozusagen – am Fuße eines eindrucksvoll großen Kühlturms. Dem Kühlturm eines Atomkraftwerkes.

Aber während aus dem schwäbischen Kühlturm seit vergangenem Jahresende kein Dampf mehr aufsteigt, ist der Betonvulkan an der A92 noch aktiv. Und speit seinen Wasserdampf in den Äther. Und so wie sich die Dinge gerade andeuten, könnte an der A92 noch eine ganze Weile länger Wasserdampf aufsteigen, als man eigentlich lange dachte. Wenn Zwillinge älter werden, unterscheiden sie sich häufig immer stärker. Der Zeitenlauf schafft ja bei jedem seine ganz eigenen Kerbungen. Und so könnte es sein, dass das Leben des niederbayerischen Zwillings einen ganz anderen Lauf nehmen könnte als das des schwäbischen. Mit Auswirkungen, die aber vielleicht ganz Bayern betreffen.

i
Foto: Stefan Puchner, dpa (Archivbild)
Foto: Stefan Puchner, dpa (Archivbild)

Es ist schwülwarm an diesem späten Vormittag im Ortskern von Essenbach. Die angegebene Einwohnerzahl von 12.000 für die Marktgemeinde täuscht etwas, denn der Markt besteht aus immerhin 31 Gemeindeteilen – und das eigentliche Essenbach hat nur etwa 3500 Einwohner. Und ist damit nur etwas größer als sein schwäbisches Geschwister mit seinen rund 1350 Einwohnern. Das Ortsbild ist typisch: Eine hübsche Kirche und ein schönes Rathaus in der Ortsmitte. Ein paar kleine Geschäfte. Die Leberkässemmel bei Metzger Fleischmann (ja, so muss ein niederbayerischer Metzger wohl heißen) kostet 1,87 Euro (40 Cent davon die Semmel), der große Cappuccino im Eiscafé Riviera nur ein paar Meter weiter 3,60 Euro.

Und die Menschen in der Region scheinen sehr unter sich zu leben. Faszinierenderweise sind nämlich bei einem kleinen Spaziergang durch den Ort – ausschließlich – Autos mit dem Kennzeichen „LA“ unterwegs. „LA“ steht für Landkreis Landshut. Aber sicher ist das nur ein Zufall. Die wirklich sehenswerte Kreisstadt Landshut liegt übrigens kaum zehn Kilometer entfernt in westlicher Richtung. Sehr auffällig ist die Freundlichkeit der Menschen. Gleich mehrfach wird der fremde Reisende beim Schweifen in den Straßen gegrüßt. Sogar, wenn er in Gedanken verloren auf den Boden blickt.

Essenbachs Bürgermeister wird wegen Isar 2 mit Medienanfragen bombardiert

Bürgermeister Dieter Neubauer ist ebenfalls ein ausgesprochen freundlicher Mann. Und nimmt sich viel Zeit für ein persönliches Gespräch, auch wenn er in diesen Tagen von allen möglichen Zeitungen mit teils bundesweit geläufigen Namen mit Anfragen bombardiert wird. „Nun, das ist auch in Ordnung so“, sagt er. Nur das Team eines Nachrichtenmagazins sei ihm ziemlich auf die Nerven gegangen. Warum? „Ich habe nicht das gesagt, was sie gerne hören wollten. Sie wollten mich in die Richtung drängen, dass es mir nur um die Gewerbesteuer geht, wenn man das Atomkraftwerk Isar 2 bei uns noch ein paar Monate laufen lässt.“ Das Kernkraftwerk hätte ja eigentlich Ende des Jahres – also genau ein Jahr nach der Abschaltung des AKW im schwäbischen Gundremmingen – für immer seine Stromproduktion einstellen müssen.

Lesen Sie dazu auch

Doch Wladimir Putin scheint diesen – schon längst in Gesetz gegossenen – Plan womöglich zunichtezumachen. Landauf landab wird derzeit um dieses Thema gerungen. Sollen die drei noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland über den 31. Dezember hinaus noch eine Weile weiterlaufen? Um die Stromversorgung zu sichern, weil Putin den Gashahn für unser Land immer weiter zudreht? Womöglich im Winter, mit der (vielleicht übertriebenen) Befürchtung, dass wir dann mit kalten Füßen im Wohnzimmer hocken? Atomstrom weiter erzeugen, damit wir in den nächsten Monaten nicht Strom mit wertvollem Gas produzieren müssen – und dieses Gas lieber für den Winter aufheben? Lieber überdies eher Atomkraft als Strom aus den Kohlendioxid-Schleudern, den Kohlekraftwerken? Während CSU-Chef Markus Söder und sein Koalitionspartner Hubert Aiwanger von den Freien Wählern den Weiterbetrieb im Besonderen auch von Isar 2 fordern, womöglich gar bis 2024, haben sich die SPD und die Grünen bislang gesperrt. Doch die Konfliktlinie bröckelt. Insbesondere bei der Ökopartei weicht die harte Linie immer mehr auf. Nicht nur auf Bundesebene. Auch im Landkreis Landshut.

Doch kehren wir einen Moment kurz zurück in das Büro von Bürgermeister Dieter Neubauer. „Für mich geht es bei dieser Debatte doch nicht um die Gewerbesteuer“, meint er und blickt verständnislos und leicht konsterniert. „Es geht doch hier um die Energieversorgung unseres Landes, die in diesen Krisenzeiten einfach gesichert werden muss.“ Das Kraftwerk Isar 2 sei sicher, er nennt es einen „Sicherheitsweltmeister“. „Ich bin hier im Schatten des Kühlturms aufgewachsen“, so der 57-Jährige, der sich noch gut an die Debatten in seiner Gymnasialzeit in Landshut (Stichwort: „Atomkraft, nein danke!“) erinnern kann. Für die meisten Menschen in Essenbach sei es völlig normal, in der Nähe eines Atomkraftwerkes zu wohnen. „Und ich höre derzeit von vielen im Ort: Dann soll doch das Kraftwerk halt noch ein bisschen länger laufen.“ Es gehe ja nicht um den „Ausstieg vom Ausstieg“, sagt Neubauer. Es sei völlig richtig, die Energieversorgung des Landes auf Wasserstofftechnologie umzustellen. „Allerdings hat man die Energiewende verkehrt herum aufgezogen“, betont der Gemeindechef. Man hätte erst die Infrastruktur für die Wasserstofftechnologie schaffen müssen – und dann alles andere abschalten.

Unabhängig vom Ausland mit Wasserstoff-Technologie

Wasserstofftechnologie, sie gilt als eine große Hoffnung. Auch, um sich unabhängig zu machen vom Ausland. Vom russischen Gas. Vom arabischen Öl. Stattdessen im Sommer mit Sonnenkraft und bei viel Wind mit Windenergie Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufspalten und den Wasserstoff speichern. Um bei Bedarf Wasserstoff wieder mit Sauerstoff zusammen zu bringen – woraus man bekanntlich Strom herstellen kann. Der Königsweg heraus aus der fossilen Energieerzeugung. Zweifelsohne ist das noch ein langer Weg. Aber: Dank Putins Druck wird nun die Transformation der Bundesrepublik in eine neue Ära der – dann viel autarkeren und zugleich saubereren – Energieerzeugung vermutlich erheblich beschleunigt. Was sich der „Zar“ des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich nicht so vorgestellt hat. Denn dadurch verliert ja sein Gas noch schneller an Wert. Also doch das AKW in einen Streckbetrieb überführen, Isar 2 noch eine Weile über das Jahresende hinaus laufen lassen?

mehr anzeigen

Was sagt denn der Betreiber, die PreußenElektra GmbH, eine hundertprozentige Tochter von E.ON, zu dieser Idee? Nicht viel. Die Anfragen unser Redaktion fallen dünne aus: „Was die momentane Debatte um einen Weiterbetrieb von Isar 2 angeht, haben Sie bitte Verständnis, dass wir diese nicht weiter kommentieren möchten“, teilt uns Unternehmenssprecherin Stefanie Sievers mit. Wäre denn ein Weiterbetrieb überhaupt möglich? „Anfang März haben sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke öffentlich gegen eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken in Deutschland ausgesprochen, nachdem wir klargemacht hatten, dass ein Weiterbetrieb von Isar 2 unter bestimmten Voraussetzungen technisch möglich wäre, wenn unser Kraftwerk gebraucht würde.“ Aha. Es würde also wohl gehen. Aber eigentlich bereite sich PreußenElektra auf den Rückbau vor.

Andere Kraftwerksbetreiber verweisen auf den „Stresstest“, mit dem die Bundesregierung überprüfen will, ob die deutsche Stromwirtschaft auch bei Abschaltung der drei verbleibenden AKW genügend Strom im Winter zur Verfügung stellen kann. Lutz Schildmann, Sprecher der EnBW Energie Baden-Württemberg AG, die das AKW in Neckarwestheim betreibt, beschränkt sich in seiner Aussage im Wesentlichen darauf, dass Ergebnis und Bewertung des ,Stresstests‘ der deutschen Energieversorgung noch nicht vorlägen. Er sagt aber auch: „Wenn von der Bundesregierung gewünscht, steht die EnBW selbstverständlich weiterhin für Gespräche zur Verfügung.“ Und bei RWE, die das dritte noch laufende AKW Emsland betreibt, heißt es einfach nur: „Wir warten ab, was der Stresstest bringt“, so Sprecher Matthias Beigel.

Aus dem Emsland zurück nach Essenbach. Der Kühlturm von Isar 2 stößt an diesem schwül-heißen Tag weiter seinen Wasserdampf in den Himmel. Auf dem Betriebsgelände sind Beschäftigte des AKW unterwegs – oft fröhlich in Kollegengespräche verwickelt. Endzeitstimmung? Mitnichten! Die sähe sicher anders aus.

Auch die Grünen können mit einem Streckbetrieb leben

Martin Schachtl steht in anderer Beziehung zum Kraftwerk. Er wollte sich eigentlich an Silvester mit einem gegrillten Spanferkel ans AKW stellen und das Ende des Betriebes feiern. „Aber mit einem Streckbetrieb hätte ich auch kein Problem“, sagt der Verfahrenstechniker, der im Studium in München sogar das Fach Kernkraft belegt hatte. Sofern der Stresstest des Bundes einen Streckbetrieb sozusagen empfehlen würde. Aber Schachtl hat dennoch – auch aus technischer Sicht – nie viel von Atomkraft gehalten. Und so verwundert es sicher nicht, dass er heute als Fraktionssprecher der Grünen im Landshuter Kreistag sitzt. Zusammen übrigens mit FW-Chef Hubert Aiwanger, der ebenfalls seit Jahren Mitglied des Landshuter Kreistages ist.

i
Foto: Markus Bär
Foto: Markus Bär

„Mit einem Streckbetrieb müssten keine neuen Brennstäbe besorgt werden, es würde nicht mehr Atommüll produziert – man verteilt einfach den Betrieb anders und hat noch die Stromproduktion im Winter“, betont der 64-jährige Schachtl. Dann zeigt er auf den dampfenden Kühlturm und sagt: „Das Ding hat schon eine gute Technik, da habe ich keine Angst.“ Doch das Ganze wäre nur etwas für den Übergang. An dieser Stelle kritisiert Schachtl trotzdem die Empfehlung des TÜV-Süd, der einen Weiterbetrieb der drei noch laufenden AKW, aber auch das Wiederhochfahren etwa von Gundremmingen, aus sicherheitstechnischer Sicht für unproblematisch erklärt hatte. Das klingt für Schachtl nämlich nach einer Gefälligkeitsempfehlung, da der TÜV Süd stets eine große Abteilung Kernkraft betrieben und somit auch wirtschaftliche Interessen am Thema Atomenergie habe. Gegen den TÜV Süd hatte aktuell eine Hamburger Kanzlei im Auftrag von Greenpeace ein Rechtsgutachten erstellt, das dem TÜV Süd das Erstellen einer „schlampig argumentierenden Auftragsarbeit“ vorwirft. Was der TÜV Süd natürlich postwendend zurückwies. Und auch aus der Bayerischen Staatsregierung kam Kritik: „Ein von Greenpeace bezahlter Anwalt aus Hamburg will es besser wissen als der TÜV“, sagte Ministerpräsident Markus Söder nach Angaben der Süddeutschen Zeitung. „Das muss man nicht weiter kommentieren.“ Und CSU-Generalsekretär Huber habe ironisch getwittert: „Greenpeace beauftragt Greenpeace – wirklich genial und natürlich total unabhängig und seriös.“

Wie dem auch sei. Schlussendlich müsse trotzdem endlich der volle Umstieg in ein neues Energiezeitalter erfolgen, das in Bayern von der CSU aus seiner Sicht lange Zeit verhindert wurde, meint Martin Schachtl. „Wir könnten heute schon unabhängiger von Putins Gas sein, wenn die Staatsregierung anders gehandelt hätte.“ Allerdings gebe es ganz in der Nähe schon Projekte, die in die Zukunft weisen. Wie etwa das Elektrolysezentrum in Pfeffenhausen, ebenfalls eine Marktgemeinde im Landkreis Landshut. „Dort wird ab 2023 im größeren Stil mit grünem Strom Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten.“ Mit dem Wasserstoff soll unter anderem ein Teil der Busflotte des Münchner Verkehrsverbundes MVV betrieben werden.

Das Leben des niederbayerischen Zwillings wird aber vermutlich aus einem ganz anderen Grund einen anderen Verlauf nehmen als das des schwäbischen. Essenbach ist als Standort für ein gigantisches Stromdrehkreuz im Gespräch, es soll unter anderem Teil der Südostlink-Hochspannungsleitung des Unternehmens Tennet werden, die etwa Strom von den deutschen Küsten in den Süden der Republik bringt. Und ausgerechnet in Essenbach soll der ankommende Gleichstrom in Wechselstrom umgespannt werden. In einem Umfang von etwa vier Giga-Watt. Ein riesiges Projekt. Bei dem große, so genannte Konverter entstehen werden. „In diese Richtung könnte es für Essenbach und den Landkreis Landshut gehen“, sagt Schachtl. Und was wird aus dem Kühlturm? Schachtl grinst, denn er hat schon lange eine Idee dafür. „Den Kühlturm muss man unbedingt stehen lassen. Als Industriedenkmal. Und vielleicht sogar auch als ganz besonderen Standort für Rockkonzerte. Denn der Kühlturm selbst, der ist ja nicht strahlenbelastet.“

Anfang August besuchte Söder mit CDU-Chef Friedrich Merz das Atomkraftwerk in Landshut.

Facebook Whatsapp Twitter Mail