Eine Woche lang hatte der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx Zeit, das fast 1900-seitige Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl zu lesen. Eine „Bilanz des Schreckens“ hatten es die Gutachter bei der Vorstellung am 20. Januar genannt: mindestens 497 Missbrauchsopfer, 235 Täter, Fehlverhalten bei allen Münchner Erzbischöfen seit 1945. Am Donnerstag stellt sich Marx den Fragen der Journalistinnen und Journalisten.
Das Interesse an der Pressekonferenz ist enorm. Der Bayerische Rundfunk überträgt live – und spart die Vorwürfe gegen Prälat Lorenz Wolf, seinen langjährigen Rundfunkratsvorsitzenden, nicht aus.
Betroffenen-Vertreter Matthias Katsch fordert Marx auf, er solle konkret werden
Vor der Pressekonferenz forderte Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“ am Morgen Marx in einem Fernsehinterview auf, er solle konkret werden. Er solle erklären, was er getan habe, um den damaligen Papst Benedikt XVI. vor den Konsequenzen von dessen nun gutachterlich festgestellten Fehlverhalten zu schützen. Als Joseph Ratzinger war Benedikt einer von Marx’ Vorgängern als Erzbischof. Katsch wolle hören, sagte er weiter, wie jetzt Verantwortung für die Missbrauchsopfer übernommen werden solle. Was Katsch nicht hören will, ist ein wenig konkretes Gerede über Reformen.
Um elf Uhr beginnt die mehr als eineinhalbstündige Pressekonferenz, Marx schaut in die Runde der Medienleute, blättert in seinen Papieren. Mit ihm auf dem Podium sitzen sein Sprecher, sein Generalvikar und seine Amtschefin. Nach der Lektüre des Gutachtens sei er „erneut erschüttert und erschrocken“.
Und dann spricht Reinhard Marx davon, dass die katholische Kirche eine „dunkle Seite“ habe
„Erneut erschüttert“? Es ist ein etwas irritierender Anfang. Dann spricht Marx davon, dass die Kirche eine „dunkle Seite“ habe. Er sagt, dass für ihn „die größte Schuld“ darin bestehe, „die Betroffenen übersehen zu haben. Das ist unverzeihlich“. Es habe bei „uns kein wirkliches Interesse an ihrem Schicksal, an ihrem Leiden“ gegeben, und das habe auch systemische Gründe. Zugleich trage er als amtierender Erzbischof eine „moralische Verantwortung“.
Nachdem er aufgezählt hat, was kirchlicherseits zur Aufarbeitung getan wurde, setzt er eine Spitze – mutmaßlich auch in Richtung seines Regensburger Mitbruders Rudolf Voderholzer. Es sei „völlig abwegig, von einem ,Missbrauch des Missbrauchs‘ zu reden im Sinne einer Verhinderung einer Reform der Kirche“, sagt Marx. Von einer Instrumentalisierung des Missbrauchs sprach, einmal mehr, Voderholzer erst vor wenigen Tagen in einer Predigt. Für ihn, so Marx, sei die Aufarbeitung Teil einer umfassenden Erneuerung, wie es der „Synodale Weg“ – der Gesprächsprozess zwischen den deutschen Bischöfen und engagierten Laien als Antwort auf den Missbrauchsskandal – aufgegriffen habe.
Das Gutachten, das sein Erzbistum beauftragt habe, bezeichnet Marx als „Diskussionsgrundlage“ – „Wir sehen ein Desaster.“ An den Stellen seiner Erläuterungen, an denen er persönlicher zu werden vorgibt, bleibt er dennoch vage.
Kardinal Marx verteidigt sich: „Der Umgang mit Missbrauch in der Kirche war und ist für mich Chefsache"
Die konkreten Fälle – die Gutachter sprachen von Fehlverhalten in zwei Fällen –, mit denen auch er konfrontiert worden sei, werde er mit Fachleuten nochmals aufarbeiten und genau prüfen. Er wolle daraus lernen. Oder er sagt: „Ich sehe hier vor allem auch administrative und kommunikative Versäumnisse. Aber ich werfe mir in einem Fall vor, nicht wirklich aktiv auf Betroffene zugegangen zu sein.“ Er verteidigt sich: „Der Umgang mit Missbrauch in der Kirche war und ist für mich Chefsache und steht nicht im Gegensatz zum Verkündigungsauftrag.“ Die Gutachter hatten da einen entschieden anderen Eindruck.
Und so herrscht nach der Pressekonferenz unter Missbrauchsopfern Ernüchterung. Matthias Katsch sagt unmittelbar danach im Bayerischen Fernsehen: „Das war für Betroffene schwer erträglich.“ Marx’ Aussagen seien „selbstzentriertes Gerede“ gewesen. Nichts Neues, nichts Konkretes. Immer noch gebe es kein „Opfergenesungswerk“, immer noch gebe es keine faire Entschädigung für Betroffene. Marx bleibt Katsch und den Medien eine ganze Reihe von Antworten schuldig, auch auf deren Nachfragen hin.
Über Lorenz Wolf sagt Marx in der Pressekonferenz, dieser habe ihm mitgeteilt, er wolle „alle seine Ämter und Aufgaben ruhen lassen“. Weitere personelle Konsequenzen? Jeder Verantwortliche solle prüfen, wo er sich schuldig gemacht habe. Das Gutachten? „Wir werden das genau prüfen und intensiv beraten.“ Marx kündigt an, in einem Jahr berichten zu wollen, „welche konkreten Änderungen unternommen wurden“.
Ein abermaliges Rücktrittsangebot an Papst Franziskus schließt Marx vorerst aus. Er wolle sich nicht "vom Acker machen"
Ein abermaliges Rücktrittsangebot an Papst Franziskus, nach dem abgelehnten aus dem vergangenen Sommer, schließt er nicht aus – er wolle sich jedoch nicht „vom Acker machen“. Jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt dafür. „Ich klebe nicht an meinem Amt“, sagt Marx. Und dass er dieses Mal die Entscheidung nicht mehr mit sich allein ausmachen werde, sondern seine Beratungsgremien miteinbeziehen wolle. Er hat also vor, Erzbischof zu bleiben – solange er eine Hilfe sei.
Kritik am emeritierten Papst Benedikt XVI., dem in vier Fällen ein Fehlverhalten vorgeworfen wird und der eine Falschangabe einräumen musste, ist von Marx nicht zu hören. Zwar sagt er, er habe „keinerlei Veranlassung“, an der Seriosität der Gutachter zu zweifeln. Mehrmalige Nachfragen der Journalisten beantwortet er gleichwohl ausweichend: Er könne zu Einzelheiten nichts sagen. Benedikt habe konstruktiv an der Erstellung des Gutachtens mitgewirkt. Er akzeptiere, dass Benedikt Fakten anders interpretiere.
Grüne fordern den sofortigen Rücktritt Wolfs „von allen seinen Ämtern und Aufgaben"
Opfern oder engagierten Gläubigen, die sich am Donnerstag zu Wort melden, genügt das bei weitem nicht. Die religionspolitische Sprecherin der bayerischen Landtags-Grünen, Gabriele Triebel, sagt im Gespräch mit unserer Redaktion, sie sei enttäuscht, wie Marx aufgetreten sei. „Wieder kommt mir die Opferperspektive zu kurz, wieder wurde er nicht konkret.“
Prälat Wolf, der sich seit der Veröffentlichung des Gutachtens nicht ausführlich öffentlich erklärt hat, fordert sie zum sofortigen Rücktritt auf – „von allen seinen Ämtern und Aufgaben in und außerhalb der Kirche.“ Wolf sei als Rundfunkratsvorsitzender des Bayerischen Rundfunks „genauso wenig länger tragbar wie als Mitglied im Beirat der Akademie für politische Bildung Tutzing“, meint Triebel, die Kuratoriumsmitglied der Akademie ist.
Die Münchner Grünen-Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer sagt: Es sei gut, dass Marx die innerkirchliche Aufarbeitung vorantreiben möchte, aber das reiche nicht. „Die katholische Kirche in Deutschland hat gezeigt, dass sie beim Thema Missbrauch nicht in der Lage ist, angemessen schnell und transparent zu agieren.“ Die Kirche sei gezeichnet „von einem System der Vertuschung, der Verantwortungslosigkeit und der Bagatellisierung“. Die Bundes- und Landespolitik, so Schäfer gegenüber unserer Redaktion weiter, müsse sich daher stärker in die Aufarbeitung der strukturellen Missstände in der katholischen Kirche und der Prävention sexuellen Missbrauchs einbringen.
Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl kooperiert mit der Staatsanwaltschaft
Neben der Frage nach Verantwortungsübernahme, die am Donnerstag im Vordergrund steht, geht es aber auch um eine rechtliche Bewertung der Fälle. Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl und die Staatsanwaltschaft München I kooperieren hierbei, wie beide es nennen. Die Gutachter übergaben der Behörde Fälle, „die Gegenstand des zu veröffentlichenden Berichts sein sollen und zumindest auch noch lebende kirchliche Leitungsverantwortlich betreffen“ im vergangenen August anonymisiert zur Prüfung einer möglichen strafrechtlichen Relevanz.
Ende Dezember erklärte die Staatsanwaltschaft den Gutachtern, dass „657 kirchliche Vorgänge von der Polizei gesichtet und aufbauend auf deren Ergebnis 334 Datensätze von der Staatsanwaltschaft geprüft“ worden seien, „bei denen sich Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten ergaben“.
Übrig blieben 42 Verdachtsfälle der Beteiligung von kirchlichen Verantwortungsträgern an sexuellem Missbrauch, die sich nach wie vor in einem „Vorprüfungsverfahren“, so eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft auf Anfrage, befinden. Bei den restlichen Vorgängen waren verdächtigte Personen bereits gestorben, Staatsanwaltschaften hatten sie abgearbeitet oder sie waren verjährt. Die Sprecherin sagt, die Prüfung sei „umfassend“ und dauere an.