Bernd Kuntz wurde zum Schwarzfahrer, weil es um Leben und Tod ging. Sagt er, der 42 Jahre alte Obdachlose aus Oberfranken, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Eine schwere Nierenerkrankung hatte bei ihm eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Er habe seinen Job verloren, sei schwer depressiv und eines Tages obdachlos geworden. Von da an habe die Krankenkasse seine Dialysefahrten nicht mehr bezahlt, weil nicht bekannt gewesen sei, von wo nach wo sie diese berechnen solle. So wurde Kuntz zum notorischen Schwarzfahrer.
40 bis 50 Mal sei er insgesamt beim Schwarzfahren erwischt worden, schätzt er. Jedes Mal wurden 60 Euro Strafe fällig. Weder das noch die darauffolgenden Geldstrafen konnte er bezahlen. Immer wieder wurde er vom Münchner Verkehrsverbund, er lebte zu der Zeit in der Landeshauptstadt, angezeigt, galt vor Gericht seit dem zweiten Mal als einschlägig vorbestraft. Und musste schließlich insgesamt viermal ins Gefängnis. Denn das Erschleichen von Leistungen ist eine Straftat. 61 Menschen saßen deshalb 2021 in Bayern im Gefängnis, 2018 waren es 106, wie das bayerische Justizministerium auf Nachfrage unserer Redaktion erklärt.
Initiative Freiheitsfonds: Ein Mann kauft Schwarzfahrer mit Spenden frei
Der Augsburger Anwalt Thomas Galli sagt, er wolle das Fahren ohne Fahrschein nicht schönreden. „Natürlich sollte Schwarzfahren teurer sein als ein Ticket. Aber es sollte nie am Ende eine Haftstrafe stehen.“ Galli leitete früher selbst Gefängnisse, mittlerweile kritisiert er deren Zweck seit vielen Jahren. Für Schwarzfahrerinnen und Schwarzfahrer, die häufig obdachlos und noch häufiger suchtkrank seien, sieht Galli im Gefängnis die Gefahr, durch den Kontakt mit Gewalt- und Sexualstraftätern erst richtig in ein kriminelles Milieu abzurutschen. Hinzu komme, dass die Strafverfolgung und Haftunterbringung sehr teuer sei.
Das weiß auch Arne Semsrott. Er hat die Initiative Freiheitsfonds gegründet und sammelt Spenden, um Menschen „freizukaufen“, die wegen Fahrens ohne Fahrschein im Gefängnis gelandet sind. 434 Schwarzfahrerinnen und Schwarzfahrer hat er so in die Freiheit zurückgeholt, etwa 15 davon in Bayern. Niemand davon habe sich die Tickets leisten können, Schwarzfahren sei für sie keine freiwillige Entscheidung gewesen. Damit hat Semsrott dem Staat nach eigener Aussage 4,8 Millionen Euro an Kosten gespart. „Das ist eine konservative Schätzung“, sagt er und geht dabei von 150 Euro pro Tag im Gefängnis aus.
Er fordert daher eine komplette Entkriminalisierung des Schwarzfahrens. Bei der jüngsten Justizministerkonferenz Anfang Juni in Schwangau (Kreis Ostallgäu) reichte er dafür mehr als 100.000 Unterschriften von Mitstreiterinnen und Mitstreitern ein. Berlin und Bremen reichten einen entsprechenden Antrag ein – eine Mehrheit fand sich unter den Ministerinnen und Ministern aber nicht.
Schon Kinder haben wegen Schwarzfahrens rechtliche Probleme
Das Thema sei „juristisch nicht zu lösen“, erklärte Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach (CDU). Stattdessen müsse armen und suchtkranken Menschen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein besonders häufig ins Gefängnis müssten, „auf sozialer und Betreuungsseite“ geholfen werden. Man sei sich aber unter den Ländern einig, dass es bei dem Thema „Beratungsbedarf“ gebe. Daher sollen sich nun die Amtschefs der Ministerien damit beschäftigen. „Es gab viele warme Worte“, resümiert Semsrott, „aber wir brauchen jetzt Handlungen.“
Erwin Schletterer leitet die „Brücke“ in Augsburg, einen Verein zur Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention. Er kennt viele junge Menschen, die wegen des Fahrens ohne Fahrschein rechtliche Probleme bekommen haben. Als Kriminelle sieht er sie deswegen noch lange nicht. Dass in anderen Ländern ein anderer Umgang mit dem Thema herrscht, habe er gemerkt, als eine Delegation eines ähnlichen Vereins aus Italien zu Gast gewesen sei. Sie seien überrascht gewesen, dass man für das Fahren ohne Fahrschein in Deutschland im Gefängnis landen kann.
„Justizminister Georg Eisenreich sieht bei diesem Thema Handlungsbedarf“, teilt ein Sprecher des bayerischen Justizministeriums mit. Denkbar sei „eine Abstufung zwischen Ordnungswidrigkeit und – etwa in Wiederholungsfällen – einem Straftatbestand. Notorische Schwarzfahrer müssen aber weiter angemessen sanktioniert werden können.“
Bernd Kuntz hat bei seiner vierten und letzten Haftstrafe die Hilfe des Freiheitsfonds bekommen, als er noch zweieinhalb Monate abzusitzen hatte. Die Jahre im Gefängnis verfolgen ihn noch immer: „Ich habe furchtbare Albträume“, erzählt er. Wegen seiner Erfahrungen mit der Justiz habe er vor jedem Behördengang Angstzustände. „Das Wort Rechtsstaat ist für mich purer Zynismus.“ Der 42-Jährige wohnt aktuell im Haus eines Bekannten. Eine Meldeadresse sei wichtig, um Sozialleistungen empfangen zu können. Kuntz steht noch immer vor einem Schuldenberg von mehreren Tausend Euro. Und die Staatsanwaltschaft München drohe ihm wieder mit einer Ersatzfreiheitsstrafe.
Menschen, die ihm vorwerfen, an seiner Lage selbst schuld zu sein, weil er nicht arbeite, entgegne er: „Mit psychischen Problemen kann man oft einfach nicht so, wie man gerne möchte.“