Herr Scherer, die meisten "Tatort"-Fans sehen eine Folge pro Woche. Sie sind Deutschlands bekanntester "Tatort"-Forscher. Wie viele schauen Sie?
Stefan Scherer: Ich schaue mir immer die aktuelle Folge am Sonntagabend an – und lese dazu im Nachhinein die einschlägigen Kritiken. Wiederholungen schaue ich nur gelegentlich. Das ist nicht nötig, weil ich alle Folgen seit 1970 auf einer Festplatte habe und daher immer nachschauen kann.
Die Marktanteile sind nach wie vor sehr hoch, aber: Ist die Gesellschaft im beliebtesten Krimi der Deutschen auch adäquat abgebildet mit all ihren Identitäten betreffend Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, sozialer Hintergrund?
Scherer: Was heißt "adäquat abgebildet", wenn sich die Identitäten im gesellschaftlichen Gefüge immer weiter ausdifferenzieren? Dennoch ist es so, dass zunehmend auch marginalisierte Gruppen im "Tatort" Aufmerksamkeit finden. Alles ist natürlich nicht darstellbar, zumal der "Tatort" ja den bürgerlichen Wertehimmel des "Normalzuschauers" abbildet. Seit den 2010er Jahren gibt es Folgen etwa über Trans- oder Intersexualität oder in jüngster Zeit über Probleme von Eltern mit ihren pubertierenden Kindern, deren Medien- und Drogenkonsum sie nicht mehr kapieren. Im Bereich der sozialen Milieus werden durchaus alle angesteuert.
Die Dresdner Kommissarin Karin Hanczewski sagte 2021, der "Tatort" sei ihr zu weiß und zu eindimensional. Stimmen Sie zu?
Scherer: Das kann man aus Sicht einer bestimmten weltanschaulichen Haltung, die als Feminismus oder gar Postfeminismus etwa an amerikanischen Universitäten gepflegt wird, schon so sagen, wobei auch der "Tatort" auf solche Diskurse immer wieder reagiert. Die Schauspielerin, die vor kurzem aus ihrer Rolle ausgestiegen ist, meint daher wohl auch eher Ermittlerinnen und Ermittler. Was es bisher nicht gibt, sind offen homosexuelle Ermittelnde: Das wurde bei Karow in Berlin angedeutet und dann wieder zurückgefahren, weil diese kleine Binnenserie nach ein paar Folgen auserzählt war. Aber es wird so kommen. Liebesbeziehungen sind allerdings ein Problem, weil sie zu sehr vom Fall ablenken. Beim letzten Franken-Fall war die private Verstrickung von Voss in eine Beziehungs-Dreierkonstellation schon grenzwertig. Ein guter Schauspieler wie Fabian Hinrichs kann das aber spielen, was nicht bei jedem Ermittlerteam der Fall ist: Wachtveitl und Nemec in München zum Beispiel sind für alles Mögliche gut, nur keine guten Schauspieler, ebenso wenig wie Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär in Köln.
Mit harmonischen Beziehungen sind die "Tatort"-Protagonisten ja generell eher nicht gesegnet...
Scherer: Eigentlich hatte keine einzige Ermittlerfigur in den 53 Jahren "Tatort"-Laufzeit eine funktionierende Beziehung: Haferkamp in den 70ern erst nach der Scheidung, sonst bleibt es stets nur bei losen Koppelungen. Und dann gibt es die "Männer-Ehepaare" Stoever und Brockmöller oder Batic und Leitmayr, bei denen es überhaupt erst interessant wird, wenn sie sich kabbeln.
Sie haben einmal gesagt, der "Tatort" sei "wie ein fortlaufender Gesellschaftsroman der Bundesrepublik seit 1970". Allerdings bildet der Krimi Entwicklungen oft erst mit Verzögerung ab. Warum?
Scherer: Naja, die Produktion hat immer einen Vorlauf von fast einem Jahr, sodass die direkte Aktualität kaum möglich ist, aber soweit angestrebt wird, wie es um aktuelle Trends oder Diskurse geht, über die sich die Öffentlichkeit aufregt. Es wird also garantiert auch alsbald der Angriffskrieg der Russen und die Migration von Ukrainerinnen und Ukrainern zum Thema. Und es wird sicher einen "Tatort" zum Habeck-Heizungs-Wärmepumpenthema geben. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen reagiert in fiktionalen Formaten insgesamt aber doch eher bedächtig, auch um keine der "großen" Zuschauergruppen wirklich zu vergraulen.
Ballauf und Schenk, Leitmayr und Batic, Thiel und Boerne sind die letzten verbleibenden Männer-Paare: Überbleibsel des "alten Tatorts"?
Scherer: Solange die noch funktionieren, werden die Sender einen Teufel tun, daran etwas zu ändern, weil die Quoten immer noch das Interesse an alten weißen Männern bezeugen, die desillusioniert oder gar zynisch geworden sind. Dieses Interesse läuft unterschiedlich: Der BR hatte mit der kürzlich verstorbenen Stephanie Heckner eine grandiose Redakteurin, die sich stets auch was traute. Ballauf/Schenk bespielen dagegen eher "sozialdemokratische" Themen im Modus der moralischen Betroffenheit, die aber halt auch viele Zuschauerinnen und Zuschauer goutieren. Und Boerne/Thiel funktionieren über die kalauernde Komik, die mich persönlich nervt, aber viele offenbar klasse finden. Solange die Schauspieler also nicht aussteigen, werden die Sender diese Teams weiterlaufen lassen: bis zum Rollator, wie Wachtveitl einmal ironisch bemerkte. Man kennt sie halt alle wie Familienmitglieder.
Welches Ermittlerteam steht für Sie am ehesten für frischen Wind im "Tatort"?
Scherer: Berlin, nach dem Ausstieg der hervorragenden Meret Becker jetzt mit der grandiosen Corinna Harfouch als ältere Frau neben dem virilen Kollegen Karow. Ähnliches gilt für den oft sehr guten Franken-"Tatort" mit der großen Dagmar Manzel als ältere Fast-Freundin von Voss. Der Schweizer "Tatort" ist mit der unterschiedlichen sozialen Herkunft der beiden Ermittlerinnen ambitioniert, hier kommt aber atmosphärisch die Nachsynchronisation in die Quere. Beim Dortmunder muss man jetzt schauen, wie sich das ausbalanciert, Faber ohne Bönisch – aber mit Stefanie Reinsperger, die als Kommissarin heute eben auch dick sein darf, haben sie eine große, wunderbare Schauspielerin.
Hat der "Tatort" aus Ihrer Sicht auch ein Stück weit den Auftrag, Toleranz zu fördern und Vielfalt abzubilden?
Scherer: Ja, und zwar, wie ich finde, unbedingt und uneingeschränkt, weil er eben immer wieder auch gesellschaftliche Vorurteile im Für und Wider der Argumente thematisiert, sodass sich das Publikum selbst ein problemorientiertes Bild machen kann.
Zur Person Stefan Scherer, Professor am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie, hat hunderte "Tatort"-Folgen gesehen. Er untersucht, wie die Reihe gesellschaftliche Entwicklungen und regionale Lebensverhältnisse widerspiegelt.