Frau Thiel, 2019 sind Sie von heute auf morgen von der Bildfläche verschwunden. Jetzt erzählen Sie, wie Sie damals einen Zusammenbruch erlitten haben und dass Sie heute wegen der Essstörung Bulimia nervosa in Therapie sind. Wie war diese Zeit für Sie?
Sophia Thiel: Ich habe mir einen krassen Druck gemacht. Ich wollte unbedingt zu meiner Top-Form zurückkommen und war wie besessen von dem Gedanken „Ich muss abnehmen, um wieder online und wieder glücklich sein zu dürfen“. Aber ich bin immer und immer wieder an mir selbst gescheitert, habe nicht mehr ab-, sondern nur zugenommen. Mein Körper funktionierte nicht mehr so, wie ich es wollte.
Wie haben Sie es geschafft, dieser Teufelsspirale zu entkommen?
Thiel: Ich habe 2020 meinen Freund kennengelernt. Als er mich auf frischer Tat bei einem Essanfall ertappt hat, musste ich ihm die Wahrheit erzählen. Dann habe ich begonnen, eine Therapie zu machen.
Und die hat Ihnen geholfen?
Thiel: Ich hatte vorher viele Hemmungen und Vorurteile. Ich dachte, ich bin stark genug, so etwas brauche ich nicht, was werden die anderen denken? Es hat sich angefühlt wie der Todesstoß. Ich habe die Diagnose Essstörung bekommen, das war natürlich sehr schlimm. Aber schon in den ersten Sitzungen habe ich gemerkt, dass es mir besser geht. Ich konnte endlich ein normaleres Verhältnis zum meinem Essen haben, das hätte mich in den Jahren zuvor in schiere Panik versetzt.
Wie geht es Ihnen jetzt damit?
Thiel: Natürlich habe ich heute auch noch damit zu kämpfen. Manchmal sehne ich mich nach der extremen Kontrolle meiner Ernährungspläne zurück. Es kommt immer wieder hoch, aber nicht so extrem, dass ich mich tagelang kaputt esse.
Welchen Rat haben Sie an Menschen, denen es vielleicht ganz ähnlich geht?
Thiel: Eine Therapie ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Es ist gut, sich so früh wie möglich Hilfe zu holen – aber natürlich ist es nie zu spät dafür. Die Therapie hat für mich alles verändert.
Sind psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft immer noch zu sehr stigmatisiert?
Thiel: Ich finde schon. Mein Eindruck ist, dass man in Deutschland nur hinter vorgehaltener Hand erzählt, wenn man eine Therapie macht.
Wann war der Zeitpunkt gekommen, dass Sie gesagt haben: Ich bin wieder glücklich und kann mit meiner Erkrankung so selbstbewusst umgehen, dass ich auf Social Media zurückkommen kann?
Thiel: Im Januar 2021 wollte ich unbedingt zurückkehren – und anders als vorher war es mir egal, wie ich aussehe oder was die Leute über mich reden. Ich wollte endlich öffentlich über die Essstörung und die Therapie sprechen, weil ich es wirklich nicht verstehe, warum diese Themen in der Öffentlichkeit so totgeschwiegen werden. Mich regt es auf, dass jeder nur die schönen Seiten von sich im Internet präsentiert und nie seine Schwächen. Mich regt es auf, dass Influencer sich als unfehlbar zeigen und dadurch einen wahnsinnigen Druck ausüben auf die Menschen, die ihnen folgen. Man vergleicht sich und wird so unglücklich, weil man diesem Ideal niemals gerecht werden kann.
Und Sie wollen – anders als früher – kein Teil mehr davon sein?
Thiel: Ich will kein Fitness-Erklärbär mehr sein und ich will auch nicht mehr die Sophia von damals sein. Ich will offen über meine Probleme sprechen und mich nicht verstecken. Ich weiß, dass viele Frauen da draußen genauso wie ich leiden. Lieber will ich jetzt in diesem Bereich helfen, anstatt nur noch Tipps in Sachen Training und Ernährung zu geben.
Wie meinen Sie das?
Thiel: Wenn man fit ist, schenkt einem das natürlich Lebensqualität. Aber ein Sixpack hat mich nie glücklich gemacht im Leben. Glücklich sein ist viel mehr als ein guter Körper, Ernährung oder Sport. Es kommt auf die mentale Gesundheit an.
Eine ziemlich krasse Kehrtwende.
Thiel: Früher habe ich einen Lifestyle vorgelebt, der einen unglaublichen Druck auf andere ausgeübt hat. Aber ich habe gelernt: Wenn man sich nur an dem orientiert, was andere vormachen, lebt man das eigene Leben nicht mehr so, wie es für einen selbst gut und richtig ist.
Wie war es dann für Sie, als Sie zurückgekommen sind?
Thiel: Mir fällt auf, dass ich heute viel weniger Hassnachrichten als früher bekomme. Am Anfang meiner Karriere war es so, dass ich mich als unfehlbar gezeigt habe, und sobald dieses Bild gebröckelt hat, wurde ich sofort von allen Seiten angegriffen. Diese Menschen wollten meinen wunden Punkt finden und darauf herumdrücken. Heute mache ich es anders: Ich nehme meinen wunden Punkt und halte ihn in die Kamera. Aber klar ist: Ganz ohne Hass geht es nicht auf Social Media.
Wie schafft man es, mit diesem Hass umzugehen?
Thiel: Man stumpft auf jeden Fall ab, und je länger man diesen Job macht, desto weniger interessiert man sich dafür. Der Hass gehört zu dieser Arbeit nun mal dazu.
Bekommen Frauen im Internet besonders viel Hass ab?
Thiel: Im Fitnessbereich würde ich das auf jeden Fall unterschreiben. Wenn Männer zunehmen, werden sie dafür gefeiert, vor allem im Kraftsportbereich. Frauen dagegen müssen sich viel mehr an dem Schlankheitswahn und anderen Schönheitsidealen messen. Es ist krass oberflächlich.
„Influence“ heißt übersetzt beeinflussen. Das ist doch eine riesige Verantwortung, die man als Blogger hat?
Thiel: Am Anfang sind viele Leute auf mich zugekommen und haben mir gesagt, dass ich für sie ein großes Vorbild sei. Da dachte ich mir schon oft „Oh Gott, Hilfe!“ Mit der Zeit habe ich immer mehr darauf geachtet, was ich sage und wie ich mich verhalte. Man hat seinen Followern gegenüber natürlich eine gewisse Verantwortung, wie jede Person, die in der Öffentlichkeit steht, aber muss auch akzeptieren, dass man sich nicht um jeden oder jede kümmern kann – alleine weil mir in vielen Fällen hier auch die Expertise fehlen würde.
Vor allem junge Frauen fühlen sich von Influencern unter Druck gesetzt. Sie kritisieren, dass Blogger ein völlig falsches Bild vom Leben, von Erfolg, Reichtum und Schönheit vermitteln.
Thiel: Leider ist das so, das sehe ich auch. Die Perfektheit steht momentan immer noch unangefochten an der Spitze. Aber es ändert sich nichts daran, weil solche Beiträge im Internet eben viele Likes generieren. Ganz schlanke Mädchen, die vor der Kamera tanzen, bekommen unfassbar viel Zustimmung. Es ist doch klar, dass man sich da als Zuschauer denkt: Sie bekommen so viel Aufmerksamkeit, sie müssen einfach glücklich sein.
Das ist ja ein ziemlicher Widerspruch.
Thiel: Absolut. Ich denke, viele Menschen, die auf Social Media unterwegs sind, suchen dort das Perfekte, weil sie sich von ihrem Alltag und ihren Problemen ablenken wollen. Weil es im Internet aufregender und schöner ist als in der Normalität.
Wie schafft man es trotz dieses Perfektionismus-Wahns, zu einem gesunden Verhältnis zu seinem eigenen Körper zu finden? Welche Tipps haben Sie?
Thiel: Was hilft, ist, Zeit nur mit sich zu verbringen. Alleine spazieren gehen, essen gehen, alleine seine Freizeit gestalten. Erst dann kommt man bei sich selber an und schafft es, mit sich im Reinen zu sein. Auch sich selbst etwas Gutes tun, sich zu pflegen, ist wichtig. Der Alltag ist so stressig, ständig prasseln neue Einflüsse auf einen ein. Man darf sich selbst nicht verlieren und man darf nicht Dinge tun, die einem schaden.
Wie meinen Sie das?
Thiel: Eine wichtige Lektion, die ich gelernt habe und die ich weitergeben möchte, ist: Ich habe aufgehört, zu allem Ja zu sagen.
In welchem Verhältnis stehen Sie mittlerweile zu Ihrem eigenen Körper?
Thiel: Früher war es wie ein Krieg zwischen mir und meinem Körper, ich habe immer versucht, ihn zu unterwerfen. Heute kann ich mich besser akzeptieren. Ich bin dankbar dafür, was ich an meinem Körper habe. Ich habe Phasen, da fühle ich mich super. Aber es gibt natürlich auch Zeiten, da fühle ich mich unwohler und vergleiche mich damit, wie ich früher ausgesehen habe.
Apropos früher: Wie hat sich denn über die Jahre Ihr Verhältnis zur Fitness-Community verändert?
Thiel: Ich weiß nicht, ob das je eine Community war. Es gibt sehr viele Einzelkämpfer, und auch bei vielen Fitness-Influencern wird alles immer perfekter, dass man sich als normaler Sportler schon schlecht fühlt, wenn man mal ein Snickers isst. Das ist für viele wie eine Religion. Aber ich finde alles, was derart ins Extreme geht, gefährlich. Nichts auf der Welt ist perfekt.
Identifizieren Sie sich denn überhaupt noch mit dieser Szene?
Thiel: Eher wenig. Ich trainiere bis heute sehr gerne, aber es gibt auch Wichtigeres, als nur ins Fitnessstudio zu gehen.
Gab es denn von anderen Sportlern, Influencerinnen oder Trainern Reaktionen auf Ihre körperliche Veränderung und darauf, wie sie sich nun im Internet präsentieren?
Thiel: Es kam sehr viel Zuspruch, aber natürlich gibt es auch die Hardcore-Sportler, die nur mein Versagen sehen. Aber die wissen einfach nicht, was eine Essstörung ist und dass solche Erkrankungen von extremen Diäten und Trainingsplänen nur verschlimmert werden. Aber das ist mir wurscht, weil ich nicht mehr will, dass sich mein Leben nur noch um Sport und Essen dreht.
Braucht es gerade in der Fitnessbranche mehr Echtheit, mehr realistische Vorbilder und Ziele?
Thiel: Ja, das fände ich auch schöner. Fitness hat nicht nur etwas mit Abnehmen und Körpermanipulation zu tun, es soll einem doch zuallererst Lebensqualität schenken. Wenn man regelmäßig Sport macht, ist man gesünder, konzentrierter, kann besser schlafen, ist im Alltag einfach fitter. Das sind doch die wirklich wichtigen Dinge im Leben – und nicht, dass der eigene Körper perfekt aussehen muss. Ich kenne viele Frauen, die trauen sich gar nicht ins Fitnessstudio, um dort zu trainieren. Sie schämen sich für ihr Aussehen, wollen nicht beobachtet werden und fühlen sich nicht gut genug dafür. Ihnen will ich unbedingt sagen: Sportlichkeit und Fitsein hat überhaupt nichts mit dem Äußeren zu tun.
Zur Person: Sophia Thiel, 26, stammt gebürtig aus Rosenheim und lebt aktuell in München. Im Jahr 2012 fing sie mit dem Bodybuilding an. Heute folgen der Fitnessbloggerin auf Youtube und Instagram über zwei Millionen Menschen. Ihre Videos haben zusammen knapp 150 Millionen Aufrufe. 2019 zog sie sich von heute auf morgen aus den sozialen Netzwerken zurück, seit Februar 2021 ist sie wieder im Internet präsent. Über die sozialen Medien machte sie öffentlich, dass sie an der Essstörung „Bulimia nervosa“ erkrankt ist. Die Betroffenen leiden dabei vor allem unter plötzlichen und starken Essanfällen.