Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Interview: Rotes-Kreuz-Chefin: „Die Hilfsbereitschaft wird ohne Grund strapaziert“

Interview

Rotes-Kreuz-Chefin: „Die Hilfsbereitschaft wird ohne Grund strapaziert“

    • |
    Egal, ob Corona-Pandemie, Hochwasser-Katastrophe oder Hilfe für ukrainische Flüchtlinge: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Roten Kreuzes sind überall im Einsatz.
    Egal, ob Corona-Pandemie, Hochwasser-Katastrophe oder Hilfe für ukrainische Flüchtlinge: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Roten Kreuzes sind überall im Einsatz. Foto: Boris Roessler, dpa (Symbolbild)

    Frau Schorer, Sie sind jetzt seit vier Monaten Präsidentin des Bayerischen Roten Kreuzes. Seit rund sechs Wochen ist Krieg in der Ukraine. Wie erleben Sie Ihren Verband? Ihre Ehrenamtlichen sind ja praktisch dauernd gefordert. Erst zwei Jahre Corona, jetzt der Krieg.

    Angelika Schorer: Ob in den vergangenen zwei Jahren der Pandemie oder bei der dramatischen Flut im Ahrtal, das Rote Kreuz war mit seinen Ehren- und Hauptamtlichen zur Stelle. Es ist gigantisch, was unsere Rotkreuzlerinnen und Rotkreuzler leisten. Sie sind krisenerprobt. Sie stehen in allen 71 Landkreisen und 25 kreisfreien Städten Bayerns zur Verfügung. Sie sehen, was zu tun ist, und sie tun es. Dafür bin ich sehr dankbar.

    Das Engagement in Bayern betrifft aktuell vor allem die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen.

    Schorer: Richtig. Wir betreiben im Moment – überwiegend im Ehrenamt – rund 150 Unterkünfte für Ukraine-Flüchtlinge in ganz Bayern und können bis zu 20.000 Menschen am Tag betreuen. Aktuell ist mehr als die Hälfte belegt. Die Geflüchteten bleiben nur kurz in diesen Notunterkünften und kommen sehr schnell in Wohnungen unter – auch, weil es viele hilfsbereite Menschen gibt, die Wohnungen zur Verfügung stellen.

    Wie ist die Ausstattung?

    Schorer: Wir haben die Unterkünfte mit Betten und eigenem Material aus unseren Lagern bestückt. Wir haben Trennwände aufgestellt, um den Menschen zumindest etwas Privatsphäre zu geben, mit Abstand, Ess- und Spielbereichen. Wir versorgen die Geflüchteten mit Essen und Getränken. Wir beraten sie und betreuen sie auch mit unserer psychosozialen Notfallversorgung.

    Gerade für Kinder ist das wichtig, über das Erlebte zu sprechen und Normalität zu erfahren. Sie leiden besonders unter der Situation. Außerdem bieten wir den Leuten Informationen zur Impfung gegen das Coronavirus. Und für den Fall, dass irgendwo Corona oder ein anderes Virus ausbricht, haben wir vorsorglich Isolationsbereiche eingerichtet.

    Wie groß sind die Unterkünfte?

    Schorer: Unterschiedlich. Vor allem in den Landkreisen haben wir versucht, kleine Unterkünfte zu ertüchtigen. In einer größeren Turnhalle können wir aber auch 250 bis 350 Menschen unterbringen. Bei mir im Landkreis Ostallgäu zum Beispiel haben wir vier Unterkünfte – zwei in Kaufbeuren und zwei im Landkreis. In großen Städten wie München sind die Unterkünfte größer.

    Wie groß ist das Reservoir an Helfern und Mitarbeitern, auf die das Bayerische Rote Kreuz zurückgreifen kann?

    Schorer: Wir haben etwa 180.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer und rund 26.500 Hauptamtliche. Viele Freiwillige von der Wasserwacht, von der Bergwacht, von den Bereitschaften und auch vom Jugendrotkreuz und der Wohlfahrts- und Sozialarbeit sind aktuell im Einsatz – und das nicht nur hier, sondern auch in der Ukraine und den unmittelbaren Nachbarstaaten.

    Der Katastrophenfall – in Bayern ausgerufen wegen Corona und zwischenzeitlich auf die Ukraine-Krise ausgeweitet – hat uns da sehr geholfen, weil unsere Helfer dadurch vom Beruf freigestellt werden konnten. Als in der Woche nach Kriegsbeginn das erste Hilfeersuchen des Internationalen Roten Kreuzes kam, konnten wir schon eine Woche später die ersten Hilfskonvois losschicken, um das ukrainische Rote Kreuz zu unterstützen. Bayern und Baden-Württemberger waren als erste dort. Die Südschiene hat funktioniert. Wir haben auch Rettungswagen geschickt. Die sind dort immer noch unterwegs, mit wechselndem Personal. Und neu ist jetzt der Einsatz von Zugbegleitern.

    Begleiter für Flüchtlinge innerhalb Deutschlands?

    Schorer: Ja, es kommen ja überwiegend Frauen und Kinder an. Unabhängig von der Sicherheit, die man unbedingt gewährleisten muss, brauchen sie auch Beistand und medizinische Versorgung unterwegs. Sie sind schwer traumatisiert. Sie brauchen jemanden an ihrer Seite, der sich um sie kümmert. Da muss jemand da sein, der geschult ist und der weiß, wie man diese Menschen bestmöglich unterstützen kann.

    Es gab in den ersten Wochen einigen Ärger, weil die Koordination in der Flüchtlingshilfe nicht geklappt hat. Mal warteten Helfer vergeblich, weil niemand kam, mal kamen viel zu viele Geflüchtete an und die Zahl der Helfer vor Ort reichte nicht aus. Funktioniert das mittlerweile?

    Schorer: Die Verteilung der Geflüchteten muss dringend besser koordiniert werden. Ich weiß, dass das enorm schwierig ist. Es gibt Situationen, da stehen 500 Geflüchtete an der polnischen Grenze, die Busse warten, aber die Leute steigen nicht ein, weil sie erst einmal in Polen bleiben wollen. Uns waren einmal Busse angekündigt, die um vier Uhr früh an einer Unterkunft hier in Bayern hätten eintreffen sollen. Unsere Helferinnen und Helfer haben alles vorbereitet und Frühstück gemacht, aber es kam niemand an.

    Das muss doch frustrierend sein. Wie reagieren Ihre Leute darauf?

    Schorer: So etwas zermürbt natürlich. Wenn Freiwillige an einem Wochenende dreimal ausrücken und niemand kommt, wird Hilfsbereitschaft ohne Not und über Gebühr strapaziert. Deshalb warten wir jetzt ab, bis ein Bus kurz vor dem Eintreffen ist. Wir haben zum Glück eingespielte Teams, die dann sehr schnell reagieren können. Aber wenn es insgesamt besser koordiniert wäre, hätten es alle leichter.

    Worauf kommt es aus Ihrer Sicht in nächster Zukunft an?

    Schorer: Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Hilfe noch lange notwendig sein wird. Da geht es um psychosoziale Betreuung, um Angebote für Kinder, um Sprachkurse, Schule und Ausbildung, aber auch um Angebote für schwangere Frauen, die hier ihre Kinder bekommen. Die brauchen eine spezielle Form der Unterstützung. Es kommen Menschen, die einen Beruf erlernt haben und sich auch integrieren wollen – vielleicht sogar ehren- oder hauptamtlich im Bayerischen Roten Kreuz. Das würde mich freuen.

    Sie haben eine besondere Beziehung zur Ukraine.

    Schorer: Ich war in der Vergangenheit zweimal dort und ich glaube, ich kann ganz gut einschätzen, wie es den Menschen geht. Sie wollen in Frieden und Freiheit leben. Als ich dort war, war die Ukraine ein schönes Land: Die Menschen hatten eigene Häuser, sie hatten Arbeitsplätze, ordentliche Straßen und eine funktionierende Stromversorgung. Sie wollen, sobald es irgendwie geht, zurück in ihre Heimat. Wer mal dort war, der versteht das.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden