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Interview: Notfallseelsorger im Hochwasser-Einsatz: "Bislang haben die Menschen funktioniert"

Interview

Notfallseelsorger im Hochwasser-Einsatz: "Bislang haben die Menschen funktioniert"

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    Auch Zusum, das zu Donauwörth gehört, wurde stark vom Hochwasser getroffen. Thomas Rieger sagt: "Bislang haben die Menschen funktioniert, nun stehen sie vor Trümmern und fragen sich, wie es weitergeht."
    Auch Zusum, das zu Donauwörth gehört, wurde stark vom Hochwasser getroffen. Thomas Rieger sagt: "Bislang haben die Menschen funktioniert, nun stehen sie vor Trümmern und fragen sich, wie es weitergeht." Foto: Barbara Würmseher

    Herr Rieger, das Hochwasser ist zurückgegangen, die Aufräumarbeiten laufen. Ist das Schlimmste überstanden?

    Thomas Rieger: Wenn man die Hochwasserlage mit den Wasserständen anschaut, ist das Schlimmste überstanden. Aber mit dem Verschwinden des Wassers werden die Schäden sichtbar. Den Menschen wird jetzt erst richtig bewusst, was kaputtgegangen ist, darunter unzählige Dinge, die einen immateriellen Wert haben. Fotos zum Beispiel. In Zusum, das zu Donauwörth gehört, liegt vieles auf den Feldern. Es wurde einfach aus den Häusern fortgespült. Bislang haben die Menschen funktioniert, nun stehen sie vor Trümmern und fragen sich, wie es weitergeht.

    Ihre Arbeit als Notfallseelsorger also …

    Rieger: … beginnt jetzt verstärkt. Während des Hochwassers bestand meine Arbeit zu einem guten Teil aus dem Beobachten der Lage. Ich habe versucht, die Stimmung zu erkunden: Wie geht es den Menschen? Was genau bewegt sie? Zudem war ich beim Bürgertelefon – und dort vor allem für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landratsamtes des Landkreises Donau-Ries da, die Gespräche entgegennahmen. Die müssen ja auch mit dem Leid klarkommen, das ihnen geschildert wird. Das war die erste Phase.

    Thomas Rieger ist Leiter der Notfallseelsorge der Diözese Eichstätt.
    Thomas Rieger ist Leiter der Notfallseelsorge der Diözese Eichstätt. Foto: Mariana Silva Lindner

    Und die zweite?

    Rieger: Inzwischen gehen Teams von Notfallseelsorgern gezielt in Ortschaften, zeigen sich, sprechen mit den Menschen – in Hamlar etwa oder in Auchsesheim, Orte, die stark betroffen sind. Sobald es möglich ist, werden sie auch in anderen Orten wie Zusum sein. Ich denke, unsere Hilfe wird vor allem in den nächsten zwei Wochen überaus nötig sein.

    Ein 42-jähriger Feuerwehrmann wollte in der Nähe von Pfaffenhofen an der Ilm eine vom Hochwasser eingeschlossene Familie aus ihrem Haus retten. Sein Boot kenterte, er ertrank. Der Landrat, ein Polizist und drei Helfer von einem Kriseninterventionsteam überbrachten seiner Frau die Todesnachricht. Er war Vater von zwei kleinen Kindern. Was sagt man in so einer Situation?

    Rieger: Ich könnte mir vorstellen, dass der Gedanke bei der Frau aufgekommen ist: Mein Mann wollte anderen helfen – und jetzt ist er tot. Wäre er doch daheimgeblieben! Damit muss ein Notfallseelsorger umgehen können. In der Regel spricht die Polizei die Todesnachricht aus, ein Notfallseelsorger wie ich bleibt danach vor Ort, oft stundenlang. Ich versuche, die Emotionen aufzufangen, höre zu. Manchmal schweigt man gemeinsam. Menschen reagieren höchst unterschiedlich.

    Ja?

    Rieger: Es gibt welche, die alles erklärt bekommen wollen. Es gibt welche, die nicht mehr reden. Und es gibt welche, die fangen an, sich mit irgendetwas zu beschäftigen. Ich kann mich noch gut an eine Situation erinnern: Eine Frau war gerade am Bügeln, als ihr gesagt wurde, ihr Mann sei tödlich mit dem Motorrad verunglückt. Sie nahm ihr Bügeleisen in die Hand und bügelte weiter. Sie hatte die Nachricht gar nicht richtig wahrgenommen und funktionierte. Es war ein Schutzmechanismus. Meine Aufgabe war es, ihr klarzumachen, was geschehen ist.

    Die über die Ufer getretene Ilm bei Pfaffenhofen. Den oberbayerischen Ort traf es besonders hart.
    Die über die Ufer getretene Ilm bei Pfaffenhofen. Den oberbayerischen Ort traf es besonders hart. Foto: Jason Tschepljakow, dpa

    Sie sind katholischer Diakon. Kommt in solchen Situationen nicht zwangsläufig die Frage auf, warum Gott dieses unermessliche Leid zulässt?

    Rieger: Diese Frage ist mir immer wieder gestellt worden: "Warum lässt Ihr Gott das zu?"

    Wie lautet Ihre Antwort?

    Rieger: Meine Antwort ist immer gleich: "Es tut mir leid, ich würde Ihnen das gerne erklären, aber ich kann es nicht. Ich bin genauso sprachlos wie Sie." Ich stelle mir die Frage ja manchmal selbst, etwa nach dem Tod eines Kindes.

    Ihre beiden erwachsenen Söhne sind bei der Feuerwehr und waren im Hochwasser-Einsatz.

    Rieger: Man macht sich als Elternteil immer Sorgen um seine Kinder. Mir ging schon manchmal durch den Kopf: Bitte, lieber Gott, lass es nicht so weit kommen, dass einmal jemand vor meiner Haustür mit einer Todesnachricht steht.

    Stoßen Sie auf Ablehnung, wenn Sie sagen, Sie seien katholisch? Der Ruf der Kirche hat schließlich enorm gelitten.

    Rieger: Ich stelle mich so vor: "Ich heiße Thomas Rieger, komme von der Notfallseelsorge und bin für Sie da." Dass ich von der Kirche bin, spielt in der Notsituation zunächst einmal keine Rolle. Manche sagten mir aber auch: "Ich halte von der Kirche nichts, doch ich bin froh, dass Sie da sind." Manche sagten: "Eigentlich bete ich nicht. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir jetzt beten könnten."

    Seit wann sind Sie im Hochwasser-Einsatz?

    Rieger: Es war der Samstag an dem Hochwasser-Wochenende, dem letzten der Pfingstferien, als um 8 Uhr die Feuerwehr in meinem Heimatort Monheim ausrückte. Da wurde mir klar: Jetzt kommt was auf uns zu. In

    War auch Ihr Haus betroffen?

    Rieger: Ich wohne in Hanglage und dachte früher: Das kann mich nicht treffen. In Otting, einer Gemeinde im Kreis Donau-Ries, habe ich dann gesehen, wie das Starkregenwasser von den Hängen gekommen ist und in die Keller schwappte.

    Wie ging es an jenem Samstag weiter?

    Rieger: Um 10 Uhr hat mich ein Kollege angerufen, ich solle zum Wudzdog Open Air nach Auhausen kommen, das er mit organisiert. Er sagte: "Wir saufen ab. Wir müssen den Zeltplatz evakuieren. Die Leute müssen raus." Er befürchtete, die Situation könnte eskalieren. Zum Glück kam es nicht dazu. Wir trafen auf verständnisvolle Festivalbesucher.

    Woher wussten die Festivalbesucher, dass Sie ihnen helfen könnten?

    Rieger: Ich trage Einsatzkleidung, auf der "PSNV-Notfallseelsorge" steht. Wir arbeiten unter anderem mit dem Roten Kreuz zusammen, mit der Krisenintervention. PSNV, das heißt: Psychosoziale Notfallversorgung. Meine Einsatzkleidung ist auch ein Schutz für mich. Sie dient meiner Psychohygiene.

    Wie meinen Sie das?

    Rieger: Ich ziehe sie für einen Einsatz an und lege sie danach ganz bewusst wieder ab. Und damit auch den Einsatz. Ich komme auf diese Weise zurück in meinem Alltag. Jeder hat ein eigenes Ritual.

    Ihres?

    Rieger: Ich esse ein bisschen Schokolade. Oder genieße ein Bier. Oder setze mich in die Sonne und trinke einen Kaffee. Ich tue mir etwas Gutes.

    Ihr erster Einsatztag dürfte noch lange nicht zu Ende gewesen sein.

    Rieger: Um 16 Uhr bin ich zum Landratsamt des Landkreises Donau-Ries gefahren. Es hieß: Für Zusum und Rettingen gibt es eine Evakuierungsempfehlung, die Polizei wolle von einem Notfallseelsorger begleitet werden. Seit jenem Samstag bin ich im Einsatz und immer nur kurz zum Schlafen zu Hause.

    Mit Sandsäcken schützten die Menschen im Gebiet um Rettingen ihre Häuser.
    Mit Sandsäcken schützten die Menschen im Gebiet um Rettingen ihre Häuser. Foto: Wolfgang Widemann

    Warum genau wollte die Polizei einen Notfallseelsorger mitnehmen?

    Rieger: Es bedeutet einen Rückhalt für die Beamten. Wenn sie zum Beispiel jemanden bitten, sein Haus zu verlassen, und der weigert sich.

    Was sagen Sie dem?

    Rieger: Wenn es nur eine Empfehlung ist, kann ich bloß appellieren. Ich sage: "Sie denken daran, dass es bald vielleicht keinen Strom mehr gibt. Und Sie denken bitte daran, dass Rettungskräfte vielleicht nicht so schnell oder gar nicht mehr zu Ihnen kommen könnten."

    Wie haben Sie die Einsatzkräfte in den vergangenen Tagen erlebt?

    Rieger: Einsatzkräfte, die von außen kommen, haben eine gewisse Distanz. Das ist nichts Schlechtes, es ist wichtig für die Psychohygiene. Anders ist das bei denen, die vor Ort leben. Sie kennen die Leute – und sind mitunter selbst vom Hochwasser betroffen. In Zusum zum Beispiel gibt es Feuerwehrleute, denen ist das eigene Haus vollgelaufen. Die sind teilweise an oder über der Grenze, vor allem körperlich. Ich war vor unserem Gespräch in Auchsesheim. Dort sagte mir ein Feuerwehrmann, er habe in den letzten drei Tagen fünf Stunden geschlafen.

    Sie waren vor drei Jahren ebenfalls ein Helfer von außen – bei der Flutkatastrophe im Ahrtal.

    Rieger: Ich war vier Tage dort, um Feuerwehrleute zu begleiten. Sie mussten Wasser aus Tiefgaragen pumpen, und es stand zu befürchten, dass in den Autos Leichen sind. Gott sei Dank fanden wir keine Toten. Aber ich habe die Anspannung der Feuerwehrleute gespürt – und ihre Erleichterung, dass jemand mit ihnen unterwegs ist, mit dem sie reden können. Das bleibt mir als Erinnerung.

    Auch als Belastung?

    Rieger: In der Notfallseelsorge ist das Abstandhalten immens wichtig. Das ist auch der Grund, warum wir nicht weiter in Kontakt mit Betroffenen stehen. Sonst wird die Bindung zu eng – und die Belastung zu groß. Ich würde Päckchen um Päckchen in meinen eigenen Rucksack packen und mit der Zeit immer mehr mit mir herumtragen. Deshalb sind wir Notfallseelsorger lediglich in der akuten Situation da.

    Wie wird es für Sie weitergehen?

    Rieger: Ich habe jetzt erst einmal eine Hochzeit zu halten. Das ist schon ein krasser Kontrast. Und dann werde ich wieder Hochwasser-Betroffenen helfen.

    Zur Person: Thomas Rieger aus dem schwäbischen Monheim ist Leiter der Notfallseelsorge der Diözese Eichstätt sowie im Landkreis Donau-Ries für die Notfallseelsorge zuständig. Der 55-jährige Vater von drei Kindern war zunächst Krankenpfleger, später wurde er katholischer Diakon. Im katholischen Bistum

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