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Interview: Missbrauchsfälle in der Kirche: "Recht darauf, dass Geschichte untersucht wird"

Interview

Missbrauchsfälle in der Kirche: "Recht darauf, dass Geschichte untersucht wird"

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    Der Historiker Klaus Große Kracht war maßgeblich am Entstehen der Missbrauchsstudie für das katholische Bistum Münster beteiligt – vorgestellt wurde diese im vergangenen Juni im Beisein von Bischof Felix Genn.
    Der Historiker Klaus Große Kracht war maßgeblich am Entstehen der Missbrauchsstudie für das katholische Bistum Münster beteiligt – vorgestellt wurde diese im vergangenen Juni im Beisein von Bischof Felix Genn. Foto: Guido Kirchner, dpa

    Herr Große Kracht, Sie haben als Teil eines fünfköpfigen Teams aus Historikern und einer Sozialanthropologin eine Missbrauchsstudie für das Bistum Münster erstellt. Welcher Befund hat Sie am meisten erschüttert?

    Klaus Große Kracht: Am meisten erschüttert hat mich die Tatsache, dass in den Akten, die wir im Bistumsarchiv Münster durchgeschaut haben, die Betroffenen des sexuellen Missbrauchs im Grunde gar nicht vorkamen. Die Fürsorge der Personalverantwortlichen galt stets nur den Tätern: Sie wurden in die Kur geschickt, für sie wurden Therapien bezahlt und schließlich neue Seelsorgestellen organisiert, auf denen der Missbrauch dann häufig einfach nur weiterging. Nur in wenigen Fällen wurde wirklich rigoros gehandelt und der Täter aus der Seelsorge entfernt.

    Sie stellen diesen und weitere Befunde nun auch in Augsburg vor. Das Bistum Augsburg hat noch keine Studie, in der bistumsweit Fälle von sexuellem Missbrauch durch katholische Priester und andere Amtsträger aufgearbeitet wurden. Könnte die Münsteraner Studie hier ein Vorbild sein?

    Große Kracht: Die Studie zum Bistum Münster ist, soweit ich sehe, tatsächlich die erste, die ein Team aus Historikern und einer Sozialanthropologin erarbeitet hat. Wir fragen nach den historischen Kontexten und den sozialen Machtbeziehungen, die das Missbrauchsgeschehen ermöglicht haben. Das bringt zusätzliche Erkenntnisse im Vergleich zu den eher juristisch angelegten Gutachten. Letztlich ist es wichtig, dass der Missbrauch mit allen uns zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden erforscht wird. Hier müssen Juristen, Sozialwissenschaftlerinnen und Historiker zusammenarbeiten.

    Klaus Große Kracht ist Mitverfasser einer Missbrauchsstudie für das katholische Bistum Münster.
    Klaus Große Kracht ist Mitverfasser einer Missbrauchsstudie für das katholische Bistum Münster. Foto: Große Kracht

    In den vergangenen Monaten war immer wieder zu hören: Neue Studien würden keine neuen Erkenntnisse bringen. Aber ist das nicht zu kurz gegriffen? Schließlich ist – nehmen wir nochmals das Bistum Augsburg – überhaupt nicht klar, von welchen Dimensionen wir dort reden …

    Große Kracht: So ist es. Ich denke, es ist viel zu einfach zu sagen, nur weil sich ein Bild bestätigen könnte, brauchen wir keine weiteren Studien. In jedem Bistum gibt es zahlreiche Betroffene, die noch leben und die eine Aufarbeitung verlangen. Ich denke, sie haben ein Recht darauf, dass auch ihre Geschichte untersucht wird. Wir dürfen im Hinblick auf die wissenschaftliche Aufarbeitung nicht in eine Zweiklassengesellschaft geraten, je nachdem, ob der jeweilige Bischof bereit ist, eine Aufarbeitungsstudie in Auftrag zu geben oder nicht.

    Für das Bistum Münster, das etwas größer ist als das Bistum Augsburg, machten Sie im Zeitraum von 1945 bis 2020 "mindestens" 610 Betroffene und 196 beschuldigte Kleriker aus – und damit vier Prozent aller Priester. Wäre so ein Ergebnis auch für das Bistum Augsburg erwartbar?

    Große Kracht: Nach den bisherigen Studien können wir generell davon ausgehen, dass der Anteil beschuldigter Priester in etwa vier bis sechs Prozent aller Priester eines Bistums entspricht, bezogen auf die Jahre zwischen 1945 und der Gegenwart. Es würde mich wundern, wenn im Bistum Augsburg der Anteil erheblich darüber oder darunter liegen würde. Aber das sind natürlich Durchschnittswerte, die in ihrer Aussagekraft beschränkt sind. Und zwar solange wir nicht wissen, wie etwa die Täterverteilung im nicht kirchlichen Bereich ist, etwa im Bereich des Sports, im Schulunterricht und in anderen Berufen, in denen Erwachsene engen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen haben. Erst dann können wir sagen, ob der Täteranteil unter katholischen Geistlichen im Bezug auf die Allgemeinbevölkerung überdurchschnittlich hoch ist oder nicht.

    Wie viele der 27 deutschen (Erz-)Bistümer haben inzwischen eigentlich bistumsweite Studien in Auftrag gegeben?

    Große Kracht: Inzwischen haben weit mehr als die Hälfte aller Bistümer wissenschaftliche oder juristische Aufarbeitungsstudien in Auftrag gegeben. Aber es gibt immer noch Diözesen, die dazu nicht bereit sind, was bedauerlich ist.

    Sollten diese den anderen Diözesen aus Ihrer Sicht nun noch unbedingt folgen?

    Große Kracht: Auf jeden Fall. Es ist wichtig, dass die anderen Diözesen nachfolgen. Nur so können wir wirklich ein vollständiges Bild erhalten. Wenn wir weiterhin "weiße" oder vielmehr "dunkle Flecken" auf der kirchlichen Landkarte behalten, werden wir mit der Aufarbeitung auf nationaler und auch internationaler Ebene nicht wirklich weiterkommen. Häufig werden finanzielle Gründe ins Feld geführt, warum manche Bistümer sich zurückhalten, entsprechende Studien in Auftrag zu geben. Das will ich auch gar nicht infrage stellen. Hier wäre es meiner Meinung nach wichtig, dass in solchen Fällen der Verband der Diözesen Deutschlands einspringt und die entsprechenden Mittel bereitstellt, sollte ein Bistum tatsächlich nicht in der Lage sein, die finanziellen Mittel selbst aufzubringen.

    Gleichwohl gibt es Kritik: Es sei ein Flickenteppich von – oft von Anwaltskanzleien erarbeiteten – Gutachten und Studien zu Missbrauchsfällen in Reihen der katholischen Kirche entstanden, die stark auf (kirchen)rechtliche Pflichtverletzungen abstellten und im Grunde nicht miteinander vergleichbar seien. Wie sehen Sie das als Geschichtswissenschaftler?

    Große Kracht: Die rein juristische Bewertung reicht sicherlich nicht aus, um ein umfassendes Bild des Missbrauchs und seiner Vertuschung zu erreichen. Aber sie ist wichtig und sie sollte nicht vernachlässigt werden. Wir selbst sehen unsere Studie als eine wichtige Ergänzung zu den bisherigen eher juristischen Gutachten. Dass jede Studie etwas anders angelegt ist, muss nicht unbedingt ein Nachteil sein, denn mit jeder Untersuchung tauchen neue Fragen auf, denen nachgegangen werden sollte. Gleichwohl sollten sich die jeweiligen Studienleiter und Studienleiterinnen darum bemühen, dass die Ergebnisse ihrer Forschungen untereinander grundsätzlich vergleichbar bleiben.

    Das Besondere an Ihrer Studie ist ja der dezidiert geschichtswissenschaftliche Ansatz. Haben Historiker einen anderen Blick auf das Missbrauchsgeschehen?

    Große Kracht: Unser Blick ist tatsächlich stärker auf die Kontexte des Missbrauchs und der kirchlichen Reaktionsweise gerichtet. Natürlich fragen auch wir nach dem individuellen Versagen von Bischöfen und Personalverantwortlichen – aber nicht nur. Wir haben darüber hinaus versucht, die strukturellen Ursachen zu identifizieren, die den Missbrauch und die Vertuschung ermöglicht haben. Dazu gehört zum Beispiel ein überhöhtes Priesterbild, das Kritik am Pfarrer nahezu unmöglich machte, aber auch eine kirchliche Sexuallehre, die den Betroffenen die Möglichkeit genommen hat, die Taten überhaupt zu benennen, weil sie über Sexualität grundsätzlich nicht reden durften. Der Missbrauchstäter traf im katholischen Milieu sozusagen auf hervorragende Bedingungen dafür, dass seine Taten unerkannt blieben, sofern er selbst den Nimbus der Heiligkeit als Priester aufrechterhalten konnte.

    Wie wird der Missbrauchsskandal einmal in die Kirchengeschichte eingehen? Immerhin nehmen die Taten einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten ein – und die Aufarbeitung kam erst nach 2010 schleppend in Gang …

    Große Kracht: Viele Beobachter bewerten den Missbrauchsskandal als die größte Krise der katholischen Kirche seit der Reformation. Und ich denke, sie haben recht – nicht zuletzt, wenn man sich die gegenwärtigen Austrittszahlen anschaut. Umso mehr überrascht es, wie zögerlich sich die Kirche in Deutschland im Hinblick auf substanzielle Reformen verhält. Der Vertrauensverlust der katholischen Kirche ist enorm und der bisherige eher zögerliche Reformprozess – etwa im Rahmen des Synodalen Wegs – wird ihn nicht stoppen.

    Eine persönliche Frage noch: Hat sich Ihr Verhältnis zur katholischen Kirche verändert, wenn Sie an deren umfassendes Versagen denken und an deren aktuelles Ringen um Antworten darauf, um Reformen?

    Große Kracht: Natürlich, auch mich hat der Missbrauchsskandal in meinem Blick auf die katholische Kirche zutiefst verändert. Auch nach nunmehr drei Jahren, in denen ich mich mit dem Thema intensiv in meiner eigenen Forschung beschäftigt habe, empfinde ich es immer noch als unfassbar, wie sehr Bischöfe und Personalverantwortliche weggeschaut haben und die Täter gewähren ließen. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Bischöfe bereits verstanden haben, wie tief der Riss zwischen ihnen und den Gläubigen inzwischen geworden ist.

    Zur Person Klaus Große Kracht ist außerplanmäßiger Professor im Bereich Neuere und Neueste Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Er stellt seine Missbrauchsstudie am 1. Dezember um 19 Uhr im Moritzsaal in Augsburg vor. Die Veranstaltung wird vom Zeithistorischen Kolloquium der Universität Augsburg in Kooperation mit der Moritzkirche Augsburg organisiert.

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