Herr Eisenreich, was dachten Sie, als Sie das im Januar vorgestellte Missbrauchsgutachten für das katholische Erzbistum München und Freising gelesen haben?
Georg Eisenreich: Die Nach dem Münchner Missbrauchsgutachten steigt die Zahl der AustritteKatholische KircheMissbrauchsfälle in der katholischen Kirche erschüttern die ganze Gesellschaft und auch mich persönlich. Seit Beginn meiner Amtszeit als bayerischer Justizminister im November 2018 setze ich mich intensiv mit diesem Thema auseinander. Ich muss klar sagen: Geistliche haben ihre Vertrauensstellung missbraucht und Straftaten begangen, das ist nicht entschuldbar. Die Kirche hat bei der Aufarbeitung lange systemisch versagt und geht mit den Betroffenen zum Teil bis heute nicht angemessen um. Ich empfinde für sie tiefes Mitgefühl.
Sie haben gewiss schon mit Betroffenen gesprochen.
Eisenreich: Ja, unter anderem mit dem Sprecher des Betroffenenbeirats der Erzdiözese München und Freising. Das Gespräch war auf eine Stunde angesetzt, gedauert hat es über drei Stunden. Danach habe ich schlecht geschlafen. Was er sagte, hat mich sehr aufgewühlt.
Würden Sie sagen, die katholische Kirche und ihr Missbrauchsskandal beschädigen letztlich auch das Ansehen des Freistaates? Immerhin machten Missbrauchsfälle, die in Bayern geschahen, weltweit Schlagzeilen.
Eisenreich: Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Es sind auch Fälle aus den USA, Australien und europäischen Ländern bekannt. Was Bayern angeht, ist die Aufmerksamkeit natürlich nochmals eine andere – weil der emeritierte Papst Benedikt XVI. aus Bayern kommt.
Im Münchner Missbrauchsgutachten wird ihm als ehemaligem Erzbischof Fehlverhalten in vier Fällen vorgeworfen. Die Gutachter hatten der Staatsanwaltschaft München I auch 42 Datensätze zu Verdachtsfällen der Beteiligung von kirchlichen Verantwortungsträgern an sexuellem Missbrauch anonymisiert übermittelt. Ist die Prüfung des Gutachtens mittlerweile abgeschlossen?
Eisenreich: In Bezug auf die im Gutachten genannten unmittelbaren Täter, ja. Was noch aussteht, ist das Ergebnis der Prüfung der kirchlichen Verantwortungsträger. Die Staatsanwaltschaft München I wird nach Abschluss berichten.
Den Gutachtern zufolge handelt es sich hierbei um „noch lebende kirchliche Leitungsverantwortliche“. Ist also anzunehmen, dass sich darunter die früheren Erzbischöfe Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, heute Benedikt XVI., sowie der amtierende Münchner Erzbischof Reinhard Marx befinden?
Eisenreich: Ich bitte um Verständnis, dass ich mich zu laufenden Prüfungen der Staatsanwaltschaften grundsätzlich nicht äußere.
Sie hatten einen Bericht an den Landtag angekündigt.
Eisenreich: Der ist fertig und liegt dem Landtag vor. Er befasst sich mit den strafrechtlichen Konsequenzen aus dem aktuellen Münchner Missbrauchsgutachten und dessen 2010 vorgestelltem Vorläufer – sowie mit der bundesweiten "MHG-Studie" aus dem Jahr 2018.
Was ist Ihre Erkenntnis?
Eisenreich: Dass die Gutachten sehr wichtig sind für die Aufklärung des Missbrauchsskandals innerhalb der katholischen Kirche und auch für die öffentliche Debatte. Für die Strafverfolgung haben die Gutachten aber nur eine sehr begrenzte Bedeutung.
Warum?
Eisenreich: Die Untersuchungszeiträume sind sehr lang und beginnen ab dem Jahr 1945. Das heißt: Ein Teil der mutmaßlichen Täter ist bereits verstorben. Vieles ist verjährt.
Welches Ergebnis erbrachte nun die staatsanwaltschaftliche Prüfung?
Eisenreich: Überprüft wurden mehr als 800 Fälle aus den Münchner Gutachten, bei denen 445 den Verdacht von Sexualstrafsachen betrafen. Bei 243 Fällen davon waren Kleriker die Verdächtigen. Aus der "MHG-Studie" sind weitere Fälle hinzugekommen. Zu einer Anklage kam es aus den genannten Gründen nur in einem Fall. Sie führte zu einer Bewährungsstrafe. Mir ist deshalb wichtig: Die wichtigsten Quellen für die Strafverfolgungsbehörden sind nicht Gutachten oder Studien, sondern Strafanzeigen von Geschädigten und Hinweise von Zeugen. Darauf sind wir angewiesen. Entscheidend ist, dass Anzeige erstattet wird.
Ein großes Problem für Betroffene ist das der Verjährung. Eine Vielzahl von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche liegt weit zurück, die Betroffenen leiden gleichwohl ein Leben lang. Warum schafft man die Verjährung nicht komplett ab?
Eisenreich: Die Verjährungsfristen waren früher zu knapp, insbesondere in den Fällen, in denen Kinder missbraucht worden sind. Oft war es so, dass Geschädigte sich erst lange Zeit nach der Tat mit dem befassen konnten, was ihnen angetan wurde. Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren mehrfach reagiert und Verjährungsfristen verlängert. Das war auch notwendig. Heute beträgt die Verjährungsfrist bei Kindesmissbrauch 20 Jahre und läuft erst ab dem 31. Lebensjahr der Geschädigten. Doch auch ohne Verjährungsfristen gäbe es ein Problem: Je länger eine Tat zurückliegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, sie noch aufklären zu können. Viele Ermittlungsverfahren müssten eingestellt werden.
Sie haben das Missbrauchsgutachten von 2010, das aus Datenschutzgründen nie veröffentlicht wurde, überprüfen lassen. Bekanntlich hat es die Staatsanwaltschaft München I jahrelang nicht angefordert – und das, obwohl die Gutachter von Aktenvernichtungen berichtet hatten.
Eisenreich: Das trifft zu, es wurde der Staatsanwaltschaft erst im Mai 2019 auf deren Anforderung vorgelegt. Aus heutiger Sicht hätte es früher angefordert werden müssen. Das hat aber nicht dazu geführt, dass verfolgbare Sexualdelikte verjährt sind. Denn verjährt waren sie bereits 2010.
Immer wieder wird kritisiert, dass Staatsanwaltschaften keine Durchsuchungen oder die Beschlagnahme von Akten veranlasst haben.
Eisenreich: Die Staatsanwaltschaften brauchen dafür hinreichende Anhaltspunkte. Nehmen Sie die "MHG-Studie": In ihr sind weder Täter, Tatorte noch genaue Tatzeiten benannt. Durchsuchungen wären in diesem Fall nicht rechtmäßig gewesen – das war die klare Einschätzung der Generalstaatsanwaltschaften in Bayern und in ganz Deutschland. Es gab keinen bayerischen Sonderweg. Trotzdem, und das ist wichtig: Die Staatsanwaltschaften sind dennoch aktiv geworden. Die bayerischen Generalstaatsanwaltschaften forderten die Ordinariate auf, umfassend Akten vorzulegen, und das taten sie auch.
Reicht Ihnen das, was die katholische Kirche zur Missbrauchsaufklärung und -aufarbeitung beiträgt?
Eisenreich: Nein. Sie hat sich auf den Weg gemacht, der aber noch nicht abgeschlossen ist. Die katholische Kirche muss mehr Transparenz schaffen, lückenlos aufklären und sich ihrer Verantwortung stellen. Aus meiner Sicht muss sie die Betroffenen in den Mittelpunkt stellen, empathischer auf sie zugehen und eine unabhängige Beratung sicherstellen.
Aber schafft sie das allein? Was halten Sie von einem vom Freistaat eingesetzten unabhängigen Missbrauchsbeauftragten? Oder einer unabhängigen Aufarbeitungskommission?
Eisenreich: Für Straftaten sind die Strafverfolgungsbehörden zuständig. Daher bitte ich die Geschädigten oder Zeugen, Strafanzeige zu stellen. Für die historische Aufarbeitung ist die Kirche zuständig. Eine unabhängige Aufklärung ist dabei notwendig. Die Erzdiözese München-Freising hat dazu beispielsweise ein unabhängiges Gutachten bei einer Kanzlei beauftragt. Was sich schnell ändern muss, ist der Umgang mit Betroffenen. Wenn die Kirche das nicht selbst schafft, dann muss der Staat hier klare Verbesserungen einfordern.
Der Anwalt Martin Pusch von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, der das aktuelle Münchner Missbrauchsgutachten mit erstellt hat, sagte mit Blick auf die Vergangenheit: Bei der Sichtung der Akten seien nur wenige Dokumente zu staatlichen Strafverfahren gegen beschuldigte Kleriker aufgetaucht. Aber: "Bei diesen Dokumenten ist für uns der Eindruck entstanden, dass man gegenüber kirchlichen Missbrauchstätern mit einem gewissen Wohlwollen agiert hat." Teilen Sie diesen Eindruck?
Eisenreich: Die Fälle liegen weit zurück – und die bundesweit festgelegten Aufbewahrungsfristen von Ermittlungsakten sind abgelaufen. Deshalb sind die Vorwürfe im Einzelnen leider nicht mehr überprüfbar. Ich kann für den Zeitraum meiner Amtszeit sagen, dass Staatsanwältinnen und -anwälte hoch engagiert und konsequent an der Aufklärung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche arbeiten. Es darf kein Sonderrecht oder irgendeinen Bonus für Kleriker geben. Niemand steht über dem Gesetz – kein Geistlicher, kein Wirtschaftsboss, kein Politiker.
Bei der Frühjahrskonferenz der Justizministerinnen und -minister in Hohenschwangau Anfang Juni schlugen Sie die Prüfung eines neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch vor. Wie steht es um die Umsetzung?
Eisenreich: Es gibt eine gesetzliche Schutzlücke in Fällen, in denen Fürsorge- und Aufsichtspersonen, etwa in Kirchen, Vereinen oder Institutionen, ihre Pflichten grob verletzen. Wer dadurch sexuellen Missbrauch von Kindern fördert, kann nach geltendem Recht nur in besonderen Konstellationen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das muss sich ändern. Alle Justizministerinnen und -minister der Länder unterstützen parteiübergreifend meinen Antrag. Jetzt ist der Bundesgesetzgeber gefordert.
Zur Person Justizminister Georg Eisenreich (CSU) wurde 1970 in München geboren. Er ist römisch-katholisch und Vater von drei Kindern.