Herr Herrmann, es herrscht einige Verwirrung über den Umgang der Polizei mit Querdenker- und Impfgegner-Demonstrationen, die immer wieder auch unangemeldet stattfinden. Manchmal greift die Polizei durch, manchmal lässt sie unangemeldete Demonstrationen zu. Gibt es da keine einheitliche Linie?
Joachim Herrmann: Dieser Eindruck täuscht. Auch wenn die Polizei über das konkrete Vorgehen immer im Einzelfall entscheiden muss, ist die Polizei natürlich an die Rechtslage gebunden. Hat die Stadt beispielsweise für die Versammlung eine einschränkende Allgemeinverfügung erlassen, kann eine Versammlung, die dennoch stattfindet und dieser zuwiderläuft, untersagt werden. Man muss aber auch klar sagen, dass es viele Protestversammlungen gibt, bei denen sich die Teilnehmer einwandfrei verhalten und sich erkennbar um einen friedlichen Verlauf bemühen. Diese Versammlungen zu verbieten oder über Gebühr einzuschränken wäre unzulässig. Schlagzeilen machen Demonstrationen aber vor allem dann, wenn es Randale gibt.
Trotzdem sieht es so aus, als würden die Behörden von Stadt zu Stadt verschieden reagieren.
Herrmann: Für den Vollzug des Versammlungsrechts sind zunächst einmal die Kreisverwaltungsbehörden zuständig, also die kreisfreien Städte oder die Landratsämter. Sie haben in der Beurteilung der Situation vor Ort einen gewissen rechtlichen Spielraum. Jede Situation muss vor Ort und im Einzelfall betrachtet und entschieden werden. Zur Unterstützung der Kommunen haben wir den Städten und Landkreisen Empfehlungen an die Hand gegeben, wie mit dem neuen Phänomen umgegangen werden sollte und was alles bedacht werden muss. Da sich die örtliche Szene und das Verhalten der Versammlungsteilnehmer von Stadt zu Stadt teils erheblich unterscheiden, sind Versammlungen und auch getroffene Maßnahmen nur schwer vergleichbar.
Mit dem neuen Phänomen meinen Sie die sogenannten Spaziergänge, die ja in der Regel nichts anderes sind als unangemeldete Demonstrationen?
Herrmann: Richtig. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kann eine nicht angezeigte Versammlung nicht per se verboten und vor allem nicht einfach aufgelöst werden. Für die Polizei stellt sich dann aber die Frage, wie dennoch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewährleistet werden kann. Hinzu kommt hier noch eine Besonderheit der Corona-Zeit: Die Behörden müssen bei Versammlungen auch darauf achten, dass die Vorschriften zum Infektionsschutz wie das Abstandsgebot oder die im Einzelfall angeordnete Maskenpflicht eingehalten werden. Gleichzeitig hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Folgen für die Bürgerinnen und Bürger, die ihren Protest bei einer Demonstration zum Ausdruck bringen.
Welche Folgen sind das?
Herrmann: Kommen Menschen zusammen, um gemeinsam ihre politische Anschauung in der Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen – was ein legitimer Zweck ist –, stellt dies nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts de facto eine Versammlung im Sinne des Grundgesetzes dar. Das ist dann kein Spaziergang mehr. Es handelt sich um zwei Seiten derselben Medaille: Der rechtliche Rahmen einer Versammlung muss respektiert werden – von der Polizei im Hinblick auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und von den Teilnehmern im Hinblick auf die Vorschriften, die für die jeweilige Versammlung gelten.
Klingt ein bisserl kompliziert.
Herrmann: Es ist auf jeden Fall ein komplexes juristisches Feld. Genau deshalb haben wir den Kommunen auch Handlungsanweisungen zur Verfügung gestellt. Inzwischen herrscht Klarheit, dass Behörden und Polizei sich durch spitzfindige Leute, die eine Demonstration kurzerhand als „Spaziergang“ deklarieren, nicht auf der Nase herumtanzen lassen müssen. Eine Demonstration ist kein Spaziergang.
Welche Möglichkeiten haben die Kreisverwaltungsbehörden?
Herrmann: Sie müssen es jedenfalls nicht dulden, wenn sogenannte Querdenker mit „Spaziergängen“ anstelle angezeigter Versammlungen versuchen, sich dem Versammlungsrecht zu entziehen. Wissen sie aus Erfahrung, dass bestimmte Veranstalter gegen geltendes Recht verstoßen, kann auch eine nicht angezeigte Versammlung verboten werden.
Und wenn die Behörde den Veranstalter einer nicht angemeldeten Versammlung gar nicht kennt?
Herrmann: Dann kann sich eine Kreisverwaltungsbehörde – und gerade darauf habe ich explizit hingewiesen – beim Erlass einer entsprechenden Allgemeinverfügung auch auf Erkenntnisse in sozialen Medien beziehen. Die betroffene Stadt kann zum Beispiel anordnen, dass auf einem bestimmten Platz oder auf bestimmten Straßen nicht demonstriert werden oder dass nur eine begrenzte Zahl von Menschen teilnehmen darf oder dass Abstände eingehalten werden und Masken getragen werden müssen.
Machen die Kreisverwaltungsbehörden von diesen Möglichkeiten Gebrauch?
Herrmann: Ja, und das führt auch zu geordneten Strukturen, wie man vergangene Woche in München beobachten konnte. Eine ursprünglich angezeigte Versammlung hätte laut Bescheid der Stadt auf der Theresienwiese stattfinden dürfen. Ein Eilantrag der Veranstalter gegen diesen Bescheid wurde vom Verwaltungsgericht weit überwiegend abgelehnt, und das grundsätzliche Vorgehen Münchens damit bestätigt. Die Stadt hat daraufhin eine entsprechende Allgemeinverfügung erlassen. Als sich dann dennoch Leute in der Innenstadt versammelten, wurden sie per Lautsprecher über die Rechtslage informiert. Keiner konnte hinterher behaupten, er habe davon nichts gewusst.
Der Staat blieb in München, wo sich vergangenen Donnerstag rund 5000 Demonstranten in der Innenstadt zu „Spaziergängen“ versammelten, Herr der Lage. Es gab – gestützt auf die Allgemeinverfügung – mehr als 700 Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeiten und 1300 Platzverweise.
Herrmann: Genau. Die rechtliche Grundlage dafür war die Allgemeinverfügung. Wird gegen sie verstoßen, können beispielsweise Personalien festgestellt und Bußgeldbescheide erlassen werden.
In Nürnberg ging der Protest ohne größeren Ärger über die Bühne.
Herrmann: Dort konnten vor der Großdemonstration am vierten Adventssonntag erfolgreich mit den Veranstaltern Kooperationsgespräche geführt werden. Sie wollten ursprünglich auf den Hauptmarkt. Die Stadt hat gesagt, sie könne das auf keinen Fall zulassen, sie wäre aber damit einverstanden, dass die Demo am Volksfestplatz stattfinde und sich von dort aus über einen bestimmten Straßenzug fortbewege. Der Veranstalter hat das akzeptiert und es haben sich, soweit wir das beobachten konnten, die allermeisten Teilnehmer daran gehalten. Und hier schließt sich der Kreis. Eine Allgemeinverfügung wird erlassen, wenn dies aufgrund der jeweiligen Gegebenheiten vor Ort erforderlich ist. Wenn die Veranstalter und Versammlungsteilnehmer allerdings kooperativ sind und sich an Recht und Gesetz halten, sind solche Maßnahmen nicht unbedingt erforderlich.