Herr Herrmann, wie kann das sein? Da sind sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern in vielen Dingen einig und trotzdem geht in der Praxis – zum Beispiel beim Katastrophenschutz – nix voran. Haben Sie dafür als Vorsitzender der Innenministerkonferenz (IMK) eine Erklärung?
Joachim Herrmann: Dass nichts vorangeht, kann man nicht sagen. So haben wir bei unserer Tagung im Juni dieses Jahres in Würzburg eine Vereinbarung über das Gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz in Bonn unterzeichnet. Diese Einrichtung hat inzwischen auch die Arbeit aufgenommen. Auch ein bayerischer Mitarbeiter ist vor Ort, um im Katastrophenfall bei der Koordinierung der Maßnahmen zu unterstützen. Das haben wir uns vor einem Jahr zum Ziel gesetzt, jetzt funktioniert es. Trotzdem gibt es Defizite – vor allen Dingen bei der Bundesregierung. Der Bund hat ja große Sprüche gemacht, beim Bevölkerungsschutz einen Neustart zu unternehmen.
Im Bundeshaushalt für das Jahr 2023 wurden sogar Mittel gekürzt – minus 20 Prozent beim Technischen Hilfswerk und minus 25 Prozent beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.
Herrmann: Das ist leider Realität. Auch beim Sirenenförderprogramm geht fast nichts voran. Das alles ist in der Tat völlig unbefriedigend.
Auch das Sirenen-Programm stockt?
Herrmann: So ist es. Das Programm wurde noch unter Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gestartet. Die nun im Bundeshaushalt 2023 beschlossenen 5,5 Millionen Euro für ein künftiges bundesweites Sirenenförderprogramm sind absolut mickrig. Allein die bayerischen Kommunen benötigen zwischen 130 und 200 Millionen Euro. Ich will damit nicht sagen, dass der Bund alles alleine zahlen soll. Es gibt mehrere Länder und wahrscheinlich auch viele Kommunen, die die Notwendigkeit sehen und sich beteiligen würden, Bayern sowieso. Wir werden jedenfalls bei der Innenministerkonferenz diese Woche in München darüber beraten.
Wer hat das aus Ihrer Sicht zu verantworten, Ihre Kollegin Faeser oder Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP)?
Herrmann: Das war eine Gesamtentscheidung der Bundesregierung. Offenbar liegen die Prioritäten woanders. Immerhin hat der Haushaltsausschuss die Kürzungen ein ganz klein wenig gelindert. Aber es bleibt trotzdem bei massiven Kürzungen. Nach den Erfahrungen im Ahrtal kann ich die Schwerpunktsetzung der Bundesregierung nicht verstehen. Einzelne Abgeordnete hatten im Angesicht der Katastrophe sogar mehr Kompetenzen für den Bund in Sachen Bevölkerungsschutz gefordert. Die einstimmige Forderung aller Innenminister nach einem 10-Milliarden-Programm für die kommenden zehn Jahre aber wurde ignoriert. Der Bund hat sich vielmehr für einen Rückschritt entschieden.
Auch bei der Bekämpfung von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie im Internet sind die Innenminister noch nicht so weit, wie Sie es wollten. Ihre Forderung nach Speicherung von IP-Adressen stößt in Berlin auf Widerstand. In diesem Fall ist es Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), der sich der Forderung nicht anschließt. Er plädiert für das so genannte „Quick-Freeze-Verfahren“. Sie halten das für nicht ausreichend. Warum?
Herrmann: „Quick Freeze“ ist besser als nichts, aber kein Ersatz für die Speicherung von IP-Adressen. Denn das Einfrieren von Daten, also „Quick Freeze“, ist erst dann möglich, wenn Ermittler auf eine konkrete Straftat stoßen. Man kann damit aber nicht rückwirkend irgendetwas erfassen. Denn wenn etwas nicht gespeichert ist, lässt es sich auch nicht einfrieren. Wenn Ermittler beispielsweise auf Mails mit Kinderpornografie stoßen, lässt sich nicht mehr feststellen, von welchem Anschluss die E-Mail gesendet wurde, weil die IP-Adresse von den Telekommunikationsunternehmen nicht gespeichert wurde. Es geht uns lediglich darum zu wissen, wer hinter einer IP-Adresse steckt – nicht um den Inhalt der Kommunikation. Ich bin froh, dass sich alle 16 Landesinnenminister und auch die Bundesinnenministerin hier parteiübergreifend einig sind.
Das aktuell am meisten diskutierte Thema der Innenpolitik sind die illegalen Protestaktionen von Klimaaktivisten. Halten Sie es wirklich für verhältnismäßig, Demonstranten für einen Monat oder länger ohne Urteil einzusperren, nur weil sie ankündigen, sich auf einer Straße festzukleben?
Herrmann: Bei den Gewahrsamnahmen geht es darum, Straftaten oder konkrete Gefährdungen zu verhindern. Für jeden Einzelfall prüft die Polizei sehr sorgfältig, ob die Voraussetzungen gegeben sind. Falls eine Person dann in Gewahrsam genommen wird, muss das unverzüglich ein Richter prüfen. Es geht überhaupt nicht darum, Proteste zu unterbinden. Wir schützen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Aber auch dafür gibt es klare Regeln, an die sich auch Klimaaktivisten halten müssen.
Auch bei gewaltfreien Protesten?
Herrmann: Aktivisten, die sich auf der Straße festkleben oder den Flugverkehr lahmlegen und das als gewaltfrei bezeichnen, haben eine merkwürdige Vorstellung von Gewaltfreiheit. Trotzdem sage ich: Ein Gewahrsam von 30 Tagen muss auch in Zukunft die absolute Ausnahme sein.