Frau Eberle, für den Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern haben Sie eine „Vorstudie“ verfasst – in der es vor allem um sexualisierte Gewalt und Misshandlungen im Sonderschul-Kinderheim „Haus Maffei“ im oberbayerischen Feldafing geht, in den Jahren 1953 bis 1972. Was, würden Sie sagen, ist die Haupterkenntnis Ihrer bisherigen Recherchen?
Annette Eberle: Nun, die Aufgabe der Vorstudie bestand darin, eine historische Untersuchung vorzubereiten, die Aufschluss über die Dimension des Unrechts gibt, das Kindern und Jugendlichen im Sonderschulheim „Haus Maffei“ und in der Folgeanstalt in Lohhof unter der Trägerschaft des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes angetan wurde.
Das heißt?
Eberle: Das heißt, die Recherchen der Vorstudie bezogen sich darauf, ausgehend von den bereits bekannten Hinweisen, Wege vorzuschlagen, wie die möglichen Tatbestände erlittener Gewalt erfasst und die dafür verantwortlichen Personen und Strukturen identifiziert werden können. Das heißt aber auch, all die drängenden Antworten, auf die vor allem die Betroffenen seit langem warten, finden sich erst in der Hauptstudie. Wenn Sie nach meinen Haupterkenntnissen fragen, können sich diese nur auf die Suche nach den Wegen beziehen, mit denen man diese drängenden Antworten finden kann.
Welche sind das?
Eberle: Ich würde hier vor allem drei nachhaltige Eindrücke benennen: Das Unrecht, dass es für den Verantwortungsbereich des Paritätischen zu untersuchen gilt, war nicht auf den Heimalltag begrenzt, sondern muss auf den Raum der Heimschule, auf den Ort der Gemeinde wie auch auf Aufenthalte außerhalb des Heimes erweitert werden. Das heißt auch, dass die Verantwortlichkeiten für das erlittene Unrecht auch außerhalb des Ortes des Heimes zu suchen sind: Das gilt für Personen wie auch für Einweisungs- oder Aufsichtsbehörden. Insgesamt war es niederschmetternd, wie sehr die Kinder seitens Erziehungsberechtigter und auch anderer Erwachsener einer „Kultur der Gewalt“ ausgesetzt waren, die insgesamt Mentalitäten und Praktiken der Erziehung prägten, nicht nur im Heim.
Und drittens?
Eberle: Die Kinder und Jugendlichen, die dies erlitten haben, sollten in der Hauptstudie als Subjekte – nicht als Forschungsobjekte – angesehen werden. So sollten ihnen auch Möglichkeiten der Partizipation eröffnet werden. Vorgeschlagen habe ich hier Schreib- und Dialogwerkstätten, und auch die Errichtung eines „Ortes der Erinnerung und Anerkennung“, in Kooperation mit anderen Aufarbeitungsprojekten.
Eberle: "Die Heimkinder erlitten demütigende und nachhaltige Angstzustände auslösende Strafen"
Es geht um mindestens 330 Kinder und Jugendliche, die als Zöglinge und Schüler im „Haus Maffei“ waren, die meisten im Alter zwischen fünf und 14 Jahren. Was mussten sie dort erleben und erleiden?
Eberle: Bei den Recherchen haben sich alle bisherigen Hinweise auf Misshandlungen und sexualisierte Gewalt seitens Betroffener wie auch dokumentierte Beschwerden bestätigt: Die Heimkinder erlitten demütigende und nachhaltige Angstzustände auslösende Strafen, Prügel und andere Körperstrafen, nicht nur im Heim, auch in der Schule. Eklatant war auch der Mangel an Förderung und Bildung. Sie waren sexualisierter Gewalt seitens des Heimpersonals, des benachbarten Gemeindepfarrers und auch während Ferienaufenthalten ausgesetzt. Was sich an diesem Unrecht im Nachfolgeheim fortsetzte oder ab wann sich etwas für die Kinder dort änderte, wird auch eine wichtige Frage der der Hauptstudie sein.
Wie erklären Sie sich, dass im Dorf niemand etwas davon mitbekommen haben will? Das sagen jedenfalls Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ...
Eberle: Das kann ich nicht erklären, weil die Recherchen dazu erst mit der Hauptstudie erfolgen sollen. Auf einen ersten Aufruf hin, der auch vom Bürgermeister der Gemeinde unterstützt wurde, hatten sich bereits einige Bewohnerinnen und Bewohner gemeldet, die damals selbst Kinder waren, auch ein ehemaliges Schulkind aus der Anstaltsschule. Sie erzählten entsprechend ihrer damaligen Sicht als Kinder von der isolierten Stellung des Heimes und der Kinder, auch geprägt vom Stigma, diese seien, da sie Heimkinder sind, angeblich „schwer erziehbar“.
Der einstige, längst gestorbene Dorfpfarrer wird massiv beschuldigt. Betroffene werfen ihm schweren sexuellen Missbrauch vor, im Keller des Heims wie in der nahen Kirche. Wie schätzen Sie seine Rolle ein?
Eberle: Dass der ehemalige Gemeindepfarrer Heimkindern schwere sexuelle Gewalt angetan hatte, das wurde Betroffenen bereits seitens des Bistums Augsburg und seitens des „Fonds Heimerziehung“ als schweres Unrecht anerkannt. Die konkreten Umstände, wie dieser gewaltsame Zugriff auf die Heimkinder überhaupt möglich sein konnte, obwohl der Pfarrer keinerlei offizielle Funktion im Heim hatte, wer seitens der Leitung beziehungsweise des Personals davon gewusst hatte – all das muss im Rahmen der Hauptstudie geklärt werden.
Der Dorfpfarrer war ja offensichtlich kein Einzeltäter. Er soll auch Teil eines „Missbrauchsnetzwerks“ gewesen sein. Betroffene berichten, sie seien an Pfarrer der Nachbargemeinden weitergereicht worden, und auch im Benediktinerkloster Ettal und im „Hänsel und Gretel-Heim“ in Oberammergau missbraucht worden.
Eberle: Dieser von Betroffenen erhobene Verdacht stellte in gewisser Weise den Auftakt der Aufarbeitungsvorhaben des Paritätischen wie auch der Stadt München dar, was auch zeigt, wie ernst der Vorwurf des „Missbrauchsnetzwerks“ genommen wird. So wird er auch in der Vorstudie als zentrale Anforderung für die historische Hauptstudie aufgegriffen. Entsprechend dem Wissen über Täterinnen- und Täter-Netzwerke wird vorgeschlagen, informelle Strukturen personell-kollaborativer Täterschaft, ausgehend von den formal funktionalen Beziehungen zwischen den betreffenden öffentlichen und freien Trägern beziehungsweise Einrichtungen und Behörden der Kinder- und Jugendhilfe aufzuspüren.
Bislang fehlt für Bayern eine systematische wissenschaftliche Untersuchung des "Systems der Täterschaft und Verantwortlichkeiten"
Und das ist gewiss noch nicht alles.
Eberle: Was mindestens noch als Lehre daraus gezogen werden sollte: Die Betroffenen sind zu lange allein gelassen worden, das schwere Unrecht, das ihnen widerfahren ist, immer wieder selbst an die Öffentlichkeit zu bringen und dafür einzutreten, dass eine Aufarbeitung erfolgt. Der Komplex der Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder und Jugendliche in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Behindertenhilfe wie auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist mindestens seit den 2000er Jahren bekannt, etwa durch die Aufarbeitungsverfahren „Fonds Heimerziehung“ und „Anerkennung und Hilfe“. Bislang fehlt beispielsweise für Bayern eine systematische wissenschaftliche Untersuchung des „Systems der Täterschaft und Verantwortlichkeiten“ in den Erziehungsheimen und Anstaltsschulen.
TEXTGALERIE Recherche zu sexualisierter Gewalt
Bereits 2010 hatten sich Betroffene an ein ehemaliges Vorstandsmitglied des Paritätischen gewandt, einen Aufarbeitungsprozess löste das allerdings nicht aus.
Eine Aufarbeitung begann nach Darstellung der beiden aktuellen Vorstandsmitglieder des Paritätischen erst im Herbst 2020, nachdem sich eine private Recherchegruppe gemeldet hatte. Man habe deren Berichte und Berichte von Betroffenen „sofort als glaubhaft eingestuft“.
Auch die Stadt München leistet einen Beitrag zur Aufarbeitung – durch eine Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Kriminalbeamten Ignaz Raab, der Experte für die Aufklärung von Sexualdelikten ist.
In einem Bericht vom 10. November befasste sich unsere Redaktion zusammen mit dem ARD-Politikmagazin „report München“ ausführlich mit den Vorwürfen Betroffener – und insbesondere auch mit der Rolle des damaligen Feldafinger Pfarrers, der heute vielfach im Ort als „Mann mit zwei Gesichtern“ bezeichnet wird.
Neben ehemaligen Heimkindern warf dem Pfarrer in dem Bericht erstmals öffentlich eine Betroffene sexuellen Missbrauch vor, die nicht im „Haus Maffei“ untergebracht war, sondern die aus dem Ort stammt. Der Pfarrer, der 1968 in den Ruhestand ging und 1991 starb und der mit seiner Gemeinde zum katholischen Bistum Augsburg gehörte, habe sich im Beichtstuhl vor ihren Augen befriedigt.
Insgesamt vier ehemalige Heimkinder hätten sexuellen Missbrauch durch den Pfarrer gemeldet, erklärte das Bistum Augsburg. Auch es hält die Vorwürfe für plausibel. In dem Bericht schildern drei von ihnen, wie der Pfarrer sie unter anderem in der Kirche missbrauchte. Und sie sagen, dass sie an andere Geistliche weitergereicht worden seien.
Lassen sich – nach all den Jahrzehnten, die inzwischen vergangenen sind – überhaupt noch Belege für die Vorwürfe der Betroffenen, die ja auch Sie offensichtlich als plausibel einstufen, finden?
Eberle: Das kann man erst beantworten, wenn man all die Quellen untersucht hat, die darüber Aufschluss geben könnten, und die ich im Rahmen der Vorstudie recherchieren konnte – zum Beispiel mögliche Beschwerden gegenüber den einweisenden Jugendämtern, den Aufsichtsbehörden oder Gesundheitsämtern. Oder Akten der Polizei und Staatsanwaltschaften, was mögliche Anzeigen und Verfahren betrifft. Wichtig vor allem wird sein, Interviews mit ehemaligen Heimkindern, ehemaligem Personal, Bewohnerinnen und Bewohnern und anderen, die zur Aufklärung beitragen können, zu führen. Ein Aufruf im Rahmen der Vorstudie hatte eine erste Resonanz gezeigt, die Mut macht, dass vieles noch aufgeklärt werden kann.
Bei Ihren Recherchen sind Sie auf Schwierigkeiten gestoßen. So durften Sie die Bestände des Archivs des Bistums Augsburg nicht untersuchen, um Vorwürfen gegen den einstigen Dorfpfarrer nachzugehen. Und auch Regierung von Oberbayern wie Kultusministerium sperrten sich. Warum?
Eberle: Das Sperren bezog sich bislang auf die Frage des Zugangs zu Archiven, das betraf das Bistum Augsburg. Was die Anfrage an die Regierung von Oberbayern und das Kultusministerium betraf, ging es um deren Beitrag beziehungsweise Verantwortung für die Aufarbeitung, was das Unrecht seitens der Anstaltsschule betrifft. Diese Fragen hatte man sich bislang wohl noch gar nicht gestellt. Im Rahmen der Hauptstudie muss hierzu der Dialog weitergeführt werden.
Forscherin: "Nach bisherigen Erkenntnissen weiß man von insgesamt circa 1,3 Millionen Minderjährigen, die in die Gefahrenzone der Erziehungsheime gerieten"
Von welchen Dimensionen des Missbrauchs sprechen wir hier überhaupt – verglichen auch mit anderen bekannten Fällen, zum Beispiel bei den Regensburger Domspatzen? Dort kam eine Untersuchung auf 547 Opfer körperlicher Gewalt (500) und/oder sexueller Gewalt (67) im Zeitraum von 1945 bis 2015.
Eberle: In der Hauptstudie geht es entsprechend der bislang erreichten Kenntnisse um die Realität in der Heimerziehung über alle unterschiedlichen Formen und Ebenen erlittener Gewalt, die als Menschenrechtsverletzungen beziehungsweise Verletzung der Menschenwürde gewertet werden können. Nach bisherigen Erkenntnissen weiß man von insgesamt circa 1,3 Millionen Minderjährigen, die ab den 1950er Jahren in die Gefahrenzone der Erziehungsheime und von circa 250.000 Kindern und Jugendlichen, die in diejenige der Behindertenhilfe und psychiatrischen Einrichtungen gerieten – entsprechend der im Zuge des „Fonds Heimerziehung (Ost/West)“ erzielten Erkenntnisse über Formen, Umfang und Folgen der Menschenrechtsverletzungen. Dieser Befund wird für Bayern eindrucksvoll durch eine Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung München aus dem Jahr 2018 bestätigt. Die Ergebnisse für die Situation in den Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrien im Rahmen der Anerkennungsverfahren der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ wurden erst im Oktober 2021 veröffentlicht und bestätigen diese erschreckende Dimension, auch, was die mögliche Anzahl von Einrichtungen betrifft.
Gibt es eigentlich einen systemischen oder einen bemerkenswerten anderen Unterschied, ob Missbrauch in einer kirchlichen oder weltlichen Einrichtung begangen wurde?
Eberle: Diese Frage lässt sich so nicht beantworten – was ist ein „anderer“ Unterschied? Wenn Sie den Unterschied zwischen sexualisierter Gewalt und anderen Gewaltformen – als Teil von Erziehungspraktiken – meinen, müssen diese Gewaltformen sicher für sich untersucht werden. Wenn Sie den Unterschied zwischen konfessionellen und nicht-konfessionellen Heimsystemen als Tatorte beziehungsweise Systeme struktureller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche meinen, wurden beide Systeme als Tatorte identifiziert. Unterschiede gibt es sicher hinsichtlich der Ursachen, die dazu führten. Aber diese Frage lässt sich nicht kurz beantworten.
Zur Aufarbeitung wird es auch gehören, die Traditionslinien aus der Zeit des Nationalsozialismus in den Blick zu nehmen
Das Feldafinger Heim wurde von 1953 bis 1971 von Mathilde Bittel geleitet. Sie hatte, so schreiben Sie in Ihrer Vorstudie, ihre Jugendleiterin-Ausbildung in der NS-Zeit erhalten und ihre berufliche Heimat in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), dem Wohlfahrtsverband der NSDAP. Der Leiter des Münchner Jugendamts, das Kinder nach Feldafing schickte, war der im unterfränkischen Schweinfurt geborene Hans Luxenburger, ein Rassenhygieniker. Welche Folgen hatte das für die Kinder und Jugendlichen im Heim?
Eberle: Sie sprechen ein Thema an, das ich als zentrale Fragestellung für die Hauptstudie vorschlage: die Untersuchung der „Kultur der Gewalt in der Erziehung“, die auch die Traditionslinien aus der Zeit des Nationalsozialismus in den Blick nimmt, beispielsweise die „Ideologie der Minderwertigkeit“ mit Zuschreibungen wie „bildungsunfähig“, „nicht erziehungsfähig“, mittels der die Kinder entrechtet wurden, und die der Legitimation der gewalttätigen Praktiken gegen sie dienten – und die auch als Ursache der bis heute anhaltenden gesellschaftlichen Stigmatisierung ihre Wirkung zeigt.
Sie haben im Rahmen Ihrer Vorstudie fünf Interviews mit Betroffenen geführt. Inwiefern kann diesen noch so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren?
Eberle: Das müssen Sie die Betroffenen selbst fragen. Und auch sie sollten benennen und Einfluss darauf nehmen können, dass dies auch umgesetzt wird, was dafür erforderlich wäre. Ich kann nur von meiner Seite hoffen, dass die historische Aufklärung dazu beiträgt, dass die isolierte Stellung der Betroffenen, allein mit dem Unrecht und Leid leben zu müssen, aufgebrochen wird. Dass die Aufarbeitung weiter zur öffentlichen Anerkennung des Unrechts beiträgt - und zwar in der Form, dass die personellen und institutionellen Verantwortlichkeiten und Täterinnen- und Täterschaft benannt werden. Und dass über die Konsequenzen aus den Erkenntnissen ein gesellschaftlicher Dialog geführt wird.
Zur Person: Annette Eberle aus Augsburg ist Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München, Campus Benediktbeuern. Ihre Vorstudie wurde Mitte November veröffentlicht. Nun berät und entscheidet der Beirat des Paritätischen über den Auftrag einer wissenschaftlichen Hauptstudie.