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Interview: Chefarzt über Cannabis: "Bei starken Schmerzen viel zu schwach"

Interview

Chefarzt über Cannabis: "Bei starken Schmerzen viel zu schwach"

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    Am 10. März 2017 trat in Deutschland das Gesetz "Cannabis als Medizin" in Kraft, um die Palliativversorgung zu verbessern.
    Am 10. März 2017 trat in Deutschland das Gesetz "Cannabis als Medizin" in Kraft, um die Palliativversorgung zu verbessern. Foto: Jim Hollander, dpa

    Herr Dr. Hartmann, Sie sind seit 2007 einer der beiden Chefärzte der Klinik für Anästhesie, Intensiv- und Palliativmedizin am Klinikum Kaufbeuren. Schmerzen und ihre Linderung sind sozusagen ihr Kerngeschäft. Inwiefern haben Sie sich gefreut, als vor fünf Jahren das Gesetz in Kraft getreten ist, das es Schwerkranken erlaubt, kontrolliert angebautes Cannabis auf Rezept zu bekommen?

    Bernd Hartmann: Mein chefärztlicher Kollege Dr. Joachim Klasen und ich waren von Anfang an eher skeptisch und zurückhaltend, was das angeht. Diese Zurückhaltung zieht sich im Prinzip bis heute in unserer klinischen Arbeit durch.

    Warum sind Sie zurückhaltend?

    Hartmann: Weil die Verwendung von Cannabinoiden – so lautet der Oberbegriff für diese Medikamentengruppe – in der etablierten Medizin keine so große Rolle spielt, wie man meinen könnte.

    Was heißt das?

    Hartmann: Viele denken, dass es sich bei Cannabis um ein schmerzlinderndes Mittel handelt, was ja im Prinzip auch stimmt. Aber bei starken Schmerzereignissen ist Cannabis für unsere Bedürfnisse viel zu schwach. Wir ziehen da Opioide vor, also Mittel, die man landläufig als Opiate bezeichnen würde. Die sind in solchen Fällen viel geeigneter. Aber auch diese muss man mit Augenmaß verabreichen.

    Wann macht denn der Einsatz von Cannabis Sinn?

    Hartmann: Es gibt eigentlich nur vier konkrete Bereiche, wo der Einsatz von Cannabis nachweislich Sinn macht. Das ist zum einen bei Spastiken, die bei Multipler Sklerose auftreten. Dann bei Übelkeit und Erbrechen, die infolge der Gabe von Chemotherapien aufkommen. Eine gute Wirkung zeigt sich drittens beim Einsatz als Appetitanreger in der Palliativmedizin, sofern der Patient durch seinen Zustand noch nicht zu ausgezehrt ist. Das ist der Bereich, wo Cannabis bei uns vor allem angewendet wird. Die Patientinnen und Patienten essen wieder mit Genuss und das wirkt dem Gewichtsverlust entgegen. Und viertens: Einsatz bei chronischen Schmerzen, also ausdrücklich nicht bei akuten Schmerzen.

    Wer Cannabis zu sich nimmt, ist doch oft auch interessiert an der euphorisierenden Wirkung. Gibt es die bei medizinischem Cannabis überhaupt?

    Hartmann: Ja, durchaus. Und diese Wirkung ist als Nebeneffekt bei uns in der Palliativmedizin auch ausdrücklich erwünscht. Wir geben das Mittel in einer Lösung, der Appetit wird angeregt – und der Patient hat überdies die euphorisierende Wirkung. Für jemanden, der unheilbar krank ist, kann das gut und sinnvoll sein.

    Wie oft geben Sie dieses Medikament?

    Hartmann: Ziemlich selten. Bei etwa einem bis zwei pro 100 Patientinnen und Patienten auf unserer Palliativstation halten wir die Gabe im Schnitt für sinnvoll.

    Das ist nun wahrlich nicht oft. Was macht Sie insgesamt so zurückhaltend?

    Hartmann: Man darf beim Cannabis nicht übersehen, dass schon bei einer einmaligen Einnahme psychotische Prozesse ausgelöst werden können. Die man hinterher schwer oder vielleicht gar nicht mehr in den Griff bekommt. Das ist zwar selten, aber das gibt es. Darum bin ich auch gegen eine grundsätzliche Freigabe von Cannabis, wie sie derzeit geplant ist. Wohin eine solche Liberalisierung führen kann, sieht man – auf einem ganz anderen Medikamentengebiet – in den USA.

    Was ist dort passiert?

    Hartmann: Dort wurde vor einigen Jahren die Gabe von Opioiden forciert. Vor allem sicher auch von Unternehmen, die diese Mittel herstellten. Viele relativ junge Menschen zwischen 30 und 50, die beispielsweise an Rückenschmerzen oder Nervenschmerzen litten, erhielten – aus meiner Sicht viel zu unkritisch verordnet – Opioide. Das Ergebnis war fatal: Aus völlig normalen Menschen, die gar nicht dem Drogenmilieu zugerechnet werden konnten, wurden Junkies, deren Lebenswege durch die Abhängigkeit zerstört oder zumindest erheblich beschädigt wurden. Das kommt dabei heraus, wenn man nicht genügend abwägt.

    Aber Cannabis macht doch nicht körperlich abhängig, oder?

    Hartmann: Nein, körperlich nicht, aber die Gefahr der psychischen Abhängigkeit besteht durchaus. Auch eine Psychose kann kommen und gehen, allerdings auch für immer bleiben. Das muss man eben wissen. Außerdem beschädigt der Dauergebrauch von nicht medizinischen Cannabisprodukten vor allem bei jungen Menschen die Gehirnstrukturen. Es gibt nicht umsonst den Spruch: „Der hat sich blöd gekifft.“ Kiffen macht apathisch, antriebslos und kann neben der euphorisierenden Wirkung auch Angststörungen auslösen. Ganz davon abgesehen, dass das Kiffen – also wenn man Cannabis raucht – erheblich die Lunge schädigt.

    Sie würden also einem Menschen mit Rückenschmerzen oder Nervenschmerzen kein Cannabis empfehlen?

    Hartmann: Nein. Da würde ich eher das seit Jahrzehnten bewährte Schmerzmittel Novalgin verschreiben, dass nicht abhängig macht. Oder in leichteren Fällen für kurze Zeit auch Paracetamol.

    Wird Cannabis inzwischen oft in Bayern verschrieben?

    Hartmann: Wie oft es nun in absoluten Zahlen in Bayern verschrieben wird, kann ich nicht sagen. Es gab aber eine Studie, die zeigte, dass medizinisches Cannabis bei uns zehnmal öfter verschrieben wurde, als es medizinisch nötig wäre.

    Woher kommt das?

    Hartmann: Weil es natürlich auch von vielen Menschen nachgefragt wird. Und wenn sie es in der einen Praxis nicht bekommen, dann gehen sie in die nächste. Irgendwer verschreibt es schon, im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit – im sogenannten Off-Label-Use, also für eine nicht zugelassene Indikation. So ist das nun einmal.

    Zur Person: Dr. Bernd Hartmann, Chefarzt der Klinik für Anästhesie, Intensiv- und Palliativmedizin am Klinikum Kaufbeuren.

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