Herr Meier, Sie waren als Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz in der Ukraine. Welches Bild wird nicht mehr aus Ihrem Kopf gehen?
Bertram Meier: Es ist ein Bild, das ich von Butscha mitnehme. Dort sah ich ein Foto, das mir einen Stich ins Herz gegeben hat: Ein toter Mann neben seinem Fahrrad, das auf einem Bürgersteig liegt. Der Mann ist gefesselt. Vor seinem Tod wurde er gefoltert. Ein unschuldiger Zivilist – ums Leben gebracht. Das lässt mich nicht kalt.
Würden Sie sagen, dass Sie verändert zurückgekehrt sind? Dass sich zumindest Ihr Blick auf den Krieg noch etwas verändert hat?
Meier: Ich habe vorher viele Bilder und Filmausschnitte gesehen. Aber jetzt mit der Realität vor Ort konfrontiert zu werden, ist etwas ganz anderes. Ich habe meinen Gesprächspartnern versprochen, in meiner Heimat die Wirklichkeit wiederzugeben und die Wahrheit zu erzählen. Das möchte ich tun. Der Krieg in der Ukraine ist uns auf die Pelle gerückt. Er ist nicht weit entfernt – nur knapp drei Flugstunden! Eines ist mir klar geworden: Die Ukrainer kämpfen nicht nur für sich und ihre Souveränität, sie kämpfen auch für uns: für Freiheit und Gerechtigkeit. Ihre Resistenz und Resilienz kann ich nur bewundern. Hoffentlich halten sie durch … und zwingen dadurch Putin an den Verhandlungstisch.
Mit diesen noch frischen Eindrücken vor Augen – befremdet Sie da die in offenen Briefen und Talkshows ausgetragene, hoch emotionale deutsche Debatte um Waffenlieferungen?
Meier: Es ist immer leichter, aus einer gewissen Distanz heraus Diskussionen zu führen. Die Menschen vor Ort brauchen jetzt unsere Hilfe. Deshalb unterstütze ich Waffenlieferungen an die Ukraine. Doch trotzdem sollten wir nicht vergessen: Auch in Situationen des Krieges sind wir angehalten, Schritte des Friedens zu suchen. Darum geht es: dass zunächst einmal die Waffen schweigen und Friedensverhandlungen stattfinden. „Frieden schaffen ohne Waffen“ halte ich im Hinblick auf die Ukraine jedoch derzeit für unrealistisch.
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick sagte in der Sendung „maybrit illner“, es sei „nicht verantwortbar, die Ukraine mit unseren Waffenlieferungen immer weiter in die Lage zu bringen, einen aussichtslosen Kampf zu führen“. Wir müssten den Konflikt „einfrieren“. Was entgegnen Sie dem?
Meier: Was heißt „einfrieren“? Zum Einfrieren gehören zwei. Wenn der Aggressor weiter aktiv bleibt und seinen Expansionsfantasien nachgeht, ist das „Einfrieren“ nur eine Steilvorlage für den, der schon am 24. Februar durch einen unbegründeten Einmarsch in die Offensive gegangen ist. Das könnte Schule machen und Putin dazu bewegen, seinen Hunger nach anderen Ländern nach dem Motto zu stillen: Was ich will, das hole ich mir … Putin ist ein Aggressor Nimmersatt. Praktisch hieße das: Das Recht des Stärkeren siegt, nicht die Stärke des Rechts.
Butscha und Irpin, diese Orte bei Kiew, stehen für die Kriegsgräuel Russlands. Was genau haben Sie dort gesehen?
Meier: Erschütternde Bilder. Zerstörte Häuser, zerbombte Einrichtungen wie Schulen, Universität, Kulturstätten. Auch Gotteshäuser wurden attackiert – übrigens im ganzen Land. Man hat den Eindruck: Hier soll die Identität eines Volkes ausgelöscht werden. Fotos mit Toten, die gefesselt, geknebelt, gefoltert wurden, ehe man sie brutal tötete. Da stockt einem der Atem.
Und welche Gedanken kamen Ihnen dabei?
Meier: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Wurden Sie in Butscha und Irpin von Sicherheitsleuten begleitet? Wer zeigte Ihnen die Orte?
Meier: Wir sind ohne Begleitschutz in diese Städte gefahren; nur unsere kirchlichen Organisatoren, die uns einen sehr herzlichen Empfang bereiteten, waren dabei. Vor Ort stießen dann kommunale Verantwortliche und Zeitzeugen dazu, zum Beispiel eine Bürgermeisterin oder ein Journalist, der seinen Beruf derzeit ruhen lässt und sich als Freiwilliger engagiert. Er packt selbst an und hilft körperlich und seelisch.
Sie sprachen es schon an: In Butscha waren nach dem Abzug russischer Soldaten Massengräber entdeckt worden. In den Straßen lagen Leichen von Zivilisten, deren Hände teils gefesselt waren ...
Meier: Ich bin tief betroffen von den Erzählungen der Augenzeugen, den Fotos – und gleichzeitig auch bewegt von der Kraft und Ruhe, die die Menschen, denen wir begegneten, ausstrahlten. Die Hoffnung scheint dort stärker als Trauer und Angst. Manche fangen schon wieder an, erste Schritte des Wiederaufbaus zu setzen, und wenn es nur ein kleines Gartenhäuschen ist.
Was haben Ihnen die Menschen erzählt?
Meier: Sie glauben an das Leben.
Und was sagten Sie diesen Menschen?
Meier: Ich habe mehr zugehört als gesprochen. Ich habe die Augen aufgemacht und das Ohr hingehalten. Das war wichtiger als Reden oder Predigten zu halten.
Wie denken Ukrainerinnen und Ukrainer eigentlich über Deutschland? Es ist vielfach zu hören, dass sie enttäuscht über die Bundesregierung und deren Umgang mit Waffenlieferungen seien.
Meier: Ich war nicht als Politiker da, sondern als Vertreter der Kirche. Wir haben mehr über Seelsorge, Caritas und Solidarität geredet.
Sie sind ja am vergangenen Mittwoch über Warschau in die Ukraine gereist. Im Nachtzug erreichten Sie über Lwiw dann am Donnerstag Kiew. Gab es Momente auf Ihrer Reise, in denen Sie Angst hatten? Vor Beschuss zum Beispiel oder vor Minen?
Meier: Es stimmt: Schon auf dem Bahnhof in Lwiw gab es Alarm. Auch später heulten immer wieder einmal die Sirenen. Die Menschen gehen ernst, aber ruhig damit um. Deshalb hatte ich keine Angst. Ich fühlte mich beschützt und gut begleitet.
In Kiew gibt es regelmäßig Luftalarm. Mussten auch Sie sich in einen Schutzraum begeben?
Meier: Nein, zum Glück nicht.
Dennoch war die Lage in Kiew eine ganz andere als im Osten des Landes, in dem die Russen weiter auf dem Vormarsch sind. Ist das nicht ein seltsames Gefühl, hier durch die Stadt gehen zu können, während dort alles zerbombt wird?
Meier: Es ist ein sonderbares Gefühl, richtig. Und es ist erschütternd. Ich frage mich: Kann sinnlose Zerstörung ein Ziel sein? Wenn von einem Land und den Menschen nur Tod und Trümmer übrig bleiben, was soll das bezwecken? Will der Angreifer damit etwa die Kultur, die Identität eines ganzen Volkes auslöschen?
Mit Politikerinnen und Politikern sprachen Sie nicht in Kiew, oder?
Meier: Nein, es war ein Solidaritätsbesuch, der mich als Bischof mit kirchlichen Partnern in Verbindung brachte.
Sie trafen sich mit hochrangigen Kirchenvertretern, darunter der katholische Erzbischof Visvaldas Kulbokas und Großerzbischof Sviatoslav Shevchuk, Oberhaupt der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche. Gibt es etwas, dass ein jeder Ihrer Gesprächspartner ganz ähnlich zu Ihnen sagte?
Meier: Uns verbindet der eine Wunsch: Friede! Auf welchen Stellen auch immer, wir sind vereint in dem Bemühen, auch in dieser Kriegssituation, deren Ende nicht abzusehen ist, auf den Frieden hin zu denken. Daher braucht es nicht nur Aufrüstung mit Waffen, sondern immer auch Abrüstung durch Worte. Am Ende muss der Moment kommen, in dem der Dialog obsiegt. Der Weg dorthin ist steinig. Es gibt kein Patentrezept. Wir müssen tastend vorangehen. Glatte Lösungen sind nicht in Sicht. Auch Rückschläge müssen wir einkalkulieren.
Was ist Ihr Eindruck: Wie wichtig ist Kirche, ist der Glaube im ukrainischen Kriegsalltag?
Meier: Nicht nur die katholische Kirche ist gefragt, sondern alle, die den Namen „Christen“ tragen. Die kirchliche Landschaft in der Ukraine ist sehr vielfältig: Schon die katholische Kirche atmet „mit zwei Lungenflügeln“, wie es Papst Johannes Paul II. gern sagte: Es gibt die römisch-katholische, das ist die lateinische Kirche, zu der ich gehöre, und die griechisch-katholische, das ist die unierte Kirche. Auch die Orthodoxie ist keine Monokultur; die orthodoxe Landschaft ist zerklüftet. Doch was ich bei meinen Gesprächen hörte, stimmt mich zuversichtlich. Der Krieg scheint ein Anstoß zu sein, dass die christlichen Kirchen zusammenrücken und diese schwere Zeit als Impuls für die Ökumene sehen.
Was genau, würden Sie sagen, hat Ihr Solidaritätsbesuch gebracht? War er deutlich mehr als ein Symbol?
Meier: Sie haben Recht: Die Reise war weder Kaffeefahrt noch Betroffenheitstourismus. Für unsere Gastgeber war es Freude und Ehre, dass ich mit einer kleinen Delegation aus Deutschland gekommen bin. Die Solidarität ist mehr als ein Symbol. Sie besteht aus drei Säulen: geistliche Gemeinschaft mit Gottesdiensten und Gebet – ich durfte auch predigen. Planung von Projekten – ich habe bei Lwiw den Grundstein gelegt für eine neue Pfarrkirche. Weiterknüpfen am Netz der Kirche mit der Zusicherung: Ihr Ukrainer seid nicht allein. Ihr fallt nicht durch die Ritzen. Wir stehen euch bei – in der Ukraine und hier bei uns, etwa in der Flüchtlingshilfe.
Sie sind meines Wissens nach nun bald auch wieder in Rom. Werden Sie Papst Franziskus von Ihrer Reise berichten?
Meier: Anlass für meine Reise nach Rom ist, dass ich nach der Teilnahme an einer großen Familienwallfahrt des Bistums Augsburg nach Assisi einen Abstecher in die Ewige Stadt mache, um dort in der deutschen Gemeinde die Firmung zu spenden.
Wie finden Sie denn die Kritik an ihm, er benenne den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den Moskauer Patriarchen Kyrill I., Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche, nicht klar als Aggressoren?
Meier: Der Papst hat eine klare Position, die er aber nicht ganz so pointiert aussprechen kann, wie wir uns das vielleicht in Deutschland wünschen. Doch wir wissen, wo der Papst steht. Er hat klar gesagt, dass der Schlüssel für den Frieden in Moskau liegt. Zudem hat er dem Moskauer Patriarchen Kyrill dringend geraten, sich nicht zum „Oberministranten“ Putins zu machen. Das sind doch klare Botschaften. Jedenfalls sind der Papst und der Heilige Stuhl nicht tatenlose Zuschauer. Doch Brückenbau geschieht oft im Hintergrund.
Kyrill, der wie Putin KGB-Agent gewesen und überaus reich sein soll, steht fest an dessen Seite. Den Überfall auf die Ukraine rechtfertigte er als „metaphysischen“ Kampf des Guten gegen das Böse aus dem angeblich dekadenten Westen mit seinen „Schwulenparaden“. Kann so jemand wirklich ein Mann Gottes sein?
Meier: Hier geht es nicht um Gut und Böse, sondern um kalte Imperialpolitik, die Gewalt und Krieg als Mittel zum Zweck sieht, die Kultur der Freiheit, der Gerechtigkeit und Selbstbestimmung eines souveränen Volkes anzugreifen. In solche Ideen, wie sie Patriarch Kyrill äußert, dürfen wir uns als Kirche nicht hineinziehen lassen. Das ist nicht Theologie der Geschichte, sondern Ideologie.
Während Sie in der Ukraine waren, wurde bekannt, dass Ungarn Partei für Kyrill ergriff. Mit Erfolg: Er bleibt zunächst von Sanktionen der EU verschont. Eine fatale Entwicklung?
Meier: Der Schutzmantel über Kyrill zeigt, wohin es führen kann, wenn Geschichte instrumentalisiert wird.
Sie haben auch Epiphanius gesprochen, den Metropoliten – das Oberhaupt – der Orthodoxen Kirche der Ukraine. Was sagt er über Kyrill?
Meier: Das war kein Thema. Wichtiger für Epiphanius und seine Kirche ist es derzeit, klar beim Patriarchen Bartholomaios von Konstantinopel zu stehen und an seiner Seite den Weg zu suchen, den die noch junge orthodoxe Kirche der Ukraine gehen soll.
Neben der orthodoxen Kirche der Ukraine gibt es die ukrainisch-orthodoxe Kirche, die bislang zum Moskauer Patriarchat gehörte. Sie hat sich nun von Moskau losgesagt. Haben Sie Sorge, dass sich der Krieg Putins auch noch zu einem Krieg der Kirchen entwickeln könnte? Dass er zu einer Spaltung des orthodoxen Christentums führt?
Meier: Das wäre ein Schauen in die Glaskugel. Ich bin kein Prophet. Entscheidend wird sein, wie und ob der Synodenbeschluss vom 27. Mai, sich vom Moskauer Patriarchat abzugrenzen, umgesetzt wird. Die Synode hat sich dazu durchgerungen, doch Details für die Konkretisierung fehlen noch. Ich konnte auch hören, dass es durchaus auch Spannungen dazu innerhalb der dem Moskauer Patriarchat zugeordneten ukrainisch-orthodoxen Kirche gibt.
Ich möchte Sie abschließend etwas Persönliches fragen: Ihre Mutter ist 91 Jahre alt und hat den Zweiten Weltkrieg erlebt. Was werden Sie ihr über den Krieg in der Ukraine erzählen?
Meier: Ich habe ihr vor der Reise nichts erzählt, um zu vermeiden, dass sie Angst um ihren Sohn hat. Aber jetzt werde ich ihr schon von meinen Erfahrungen berichten. Als ehemalige Heimatvertriebene aus dem Sudetenland kann sie sicher gut damit umgehen. Meine Mutter ist interessiert und aufmerksam.