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Interview: Schwaben kämpft mit Rekorddefizit: Warum Sozialausgaben und Personalkosten explodieren

Interview

Schwaben kämpft mit Rekorddefizit: Warum Sozialausgaben und Personalkosten explodieren

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    In Schwaben ist die Zahl der Kinder, die eine Schulbegleitung benötigen, stark gestiegen.
    In Schwaben ist die Zahl der Kinder, die eine Schulbegleitung benötigen, stark gestiegen. Foto: Maurizio Gambarini, dpa

    Am 22. Oktober berät der Bezirkstag erstmals über den Haushalt für das kommende Jahr. Doch die Ausgangslage ist alles andere als einfach. Wie groß ist die Finanzlücke, vor der Sie stehen?
    MARTIN SAILER: Wir werden kommende Woche einen Haushalt einbringen, der das größte Defizit aufweist, das wir in der Geschichte des Bezirks Schwaben jemals hatten. Wir gehen mit einem ungedeckten Bedarf von etwa 250 Millionen Euro in die Haushaltsberatungen. Wenn wir dieses Defizit ausgleichen wollen, müssten wir die Bezirksumlage um acht Prozentpunkte anheben. Rechtlich könnten wir das, politisch aber wäre das unglaublich schwer durchzusetzen, weil wir damit in die Finanzhoheit unserer Umlagezahler – also der Landkreise und kreisfreien Städte in Schwaben – eingreifen. Die Landkreise müssen wiederum einen großen Teil über die Kreisumlage an ihre jeweiligen Kommunen weitergeben. Wir stehen vor einer zentralen Weichenstellung, wie die kommunalen Finanzen in Zukunft auskömmlich durch den Freistaat mitfinanziert sein sollen.

    Wenn die Bezirksumlage um acht Prozentpunkte steigt, was hieße das etwa für den Landkreis Augsburg?
    SAILER: Der Landkreis Augsburg, der im vergangenen Jahr 80 Millionen Euro an den Bezirk gezahlt hat, müssten dann im nächsten Jahr 30 Millionen mehr aufbringen. Das ist nicht darstellbar. Bei derartigen Kostenexplosionen stellt sich die Frage, ob wir uns diesen Sozialstaat in dieser Form überhaupt noch leisten können. Es ist an der Zeit, dass die Politik eine ehrliche Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber beginnt.

    Wodurch kommt denn dieses Finanzloch zustande?
    SAILER: Die Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst waren üppig. Und die Träger geben die entsprechenden Mehrkosten eins zu eins an uns weiter. Nimmt man einen Platz in einer Behinderteneinrichtung, machen die Personalkosten etwa 80 Prozent des Tagessatzes aus. Auch in anderen Bereichen explodieren die Ausgaben: Die Kosten für die Eingliederungshilfe – zum Beispiel Werkstätten und besondere Wohnformen für Menschen mit Behinderung – lagen im Jahr 2020 noch bei 513 Millionen Euro, fünf Jahre später rechnen wir mit 780 Millionen Euro. Im ambulanten Bereich sind die Fallzahlen für die Hilfe zur Pflege um etwa 15 Prozent gestiegen, im Kinder- und Jugendbereich so stark wie noch nie. Die Schulbegleitungen haben sich binnen eines Jahres um mehr als 30 Prozent erhöht, auch Individualbegleitungen im Kindergarten haben stark zugenommen. Und während die Kosten in die Höhe schnellen, stagnieren nun die Steuereinnahmen. 

    In welchen Bereichen kann der Bezirk Kosten einsparen?
    SAILER: Das ist tatsächlich schwierig. Von einer Milliarde Euro, die der Bezirk pro Jahr ausgibt, sind etwa 950 Millionen Euro Pflichtaufgaben im Sozialbereich, für die die Leistungsempfänger einen Rechtsanspruch haben. Unsere Handlungsoptionen sind also begrenzt, schon, weil der Bereich der freiwilligen Leistungen klein ist. Wir können uns überlegen, ob wir im Bereich der Kulturarbeit ein Stück weit reduzieren. Aber wenn man ehrlich ist, sind das im Vergleich zum Sozialetat Kleckerlesbeträge. Auf die Spitze gebracht: Würde ich den gesamten Kulturbereich zum Jahresende stilllegen, würde das nur 17 Millionen Euro ausmachen – und die Folgen für unser kulturelles und gesellschaftliches Leben wären enorm. Also schließen wir das aus. Natürlich versuchen wir auch, Personalkosten einzusparen. Aber damit bekommen wir das Loch von 250 Millionen Euro nicht gestopft.

    Bezirkstagspräsident Martin Sailer sagt: „Meine große Sorge ist, dass es die kommunale Familie auf Dauer zerreißt.“
    Bezirkstagspräsident Martin Sailer sagt: „Meine große Sorge ist, dass es die kommunale Familie auf Dauer zerreißt.“ Foto: Bernhard Weizenegger

    Was muss aus Ihrer Sicht also passieren?
    SAILER: Es gibt nur zwei Optionen: Der Freistaat muss den Bezirken dauerhaft und signifikant mehr Geld zur Verfügung stellen. Denn zusammengerechnet haben alle bayerischen Bezirke für das kommende Jahr einen Finanzloch von etwa 800 Millionen Euro. Das ist also kein schwäbisches Problem. Zum zweiten müssen wir endlich Standards reduzieren. Mein Paradebeispiel ist die AVPfleWoqG, die Verordnung zur Ausführung des Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes und Weiterbildung in der Pflege und Hebammenkunde, wo bauliche und personelle Mindeststandards definiert sind, die die Kosten zum Teil unheimlich in die Höhe treiben. Auch die landesrechtlichen Vorgaben im Kinder- und Jugendbereich führen zu erheblichen Einschränkungen und Kostensteigerungen. Das Dominikus-Ringeisen-Werk in Ursberg etwa muss ein Kinder- und Jugendheim sanieren. Will man die staatliche Förderung in Anspruch nehmen, müssten allerdings von rund 100 Plätzen etwa 30 wegfallen – und in der Folge wäre jeder einzelne Platz teurer als zuvor. Da leisten wir uns zum Teil echten Unsinn. Wenn man einen schwerst pflegebedürftigen Menschen hat, der das Bett nicht mehr verlassen und nur mit Unterstützung das große Pflegebad nutzen kann, warum muss dessen Bad barrierefrei sein?

    Tun sich die Bezirke schwerer als Städte und Gemeinden, in der öffentlichen Wahrnehmung durchzudringen?
    SAILER: Natürlich, wir tun uns am allerschwersten. Das sieht man allein daran, dass die Bezirke seit zehn Jahren nicht mehr Geld vom Freistaat bekommen haben. 13,5 Prozent unserer Ausgaben können wir durch den Zuschuss des Freistaats decken. Vor zehn Jahren waren es noch 22,5 Prozent. Jetzt ist der Zeitpunkt da, wo wir Bezirke sehr deutlich und laut werden. Meine große Sorge ist, dass es die kommunale Familie auf Dauer zerreißt. Deswegen kämpfen wir auch gemeinsam mit dem Städtetag, mit dem Landkreistag für eine adäquate Refinanzierung durch den Freistaat.

    Wie versuchen Sie, gemeinsam mit den anderen Bezirken tätig zu werden?
    SAILER: Wir hatten vergangene Woche ein gemeinsames Gespräch mit dem bayerischen Finanzminister Albert Füracker. Das war eher ernüchternd. Wir haben auch gemeinsam an den bayerischen Ministerpräsidenten geschrieben, um unsere Lage klarzumachen.

    Die Eingliederungshilfe, wie sie der Bezirk Schwaben leistet, soll Menschen mit Behinderung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Doch die Kosten dafür sind stark gestiegen.
    Die Eingliederungshilfe, wie sie der Bezirk Schwaben leistet, soll Menschen mit Behinderung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Doch die Kosten dafür sind stark gestiegen. Foto: Elisabeth Heisig, Bezirk Schwaben

    Auch die Kommunen ächzen unter stark steigenden Ausgaben für Personal und Soziales, defizitären Kliniken und stagnierenden Steuereinnahmen. Wie stark können Sie die Landkreise tatsächlich belasten?
    SAILER: Wir werden nicht umhinkommen, die Bezirksumlage spürbar zu erhöhen. Die Frage wird sein, wie stark. Nach einem Grundsatzurteil sind Bezirke und Landkreise verpflichtet, immer die finanzielle Leistungsfähigkeit der Umlagezahler zur berücksichtigen. Erhöht sich das Umlagesoll der Bezirks- oder Kreisumlage um mehr als 20 Prozent, ist dies darüber hinaus genehmigungspflichtig. Wir haben die Sorge, dass wir eine Zeit lang ohne genehmigten Haushalt dastehen, weil Kommunen gegen eine Kreisumlage klagen und Landkreise gegen die Bezirksumlage klagen könnten.

    Wie groß ist das Verständnis unter Ihren Landratskollegen?
    SAILER: Im Grunde ist das Verständnis da, weil es uns in den Landkreisen ähnlich geht. In der Zuständigkeit der Landkreise gibt es ähnliche Kostenexplosionen in der Kinder- und Jugendhilfe. Steigt dann noch die Bezirksumlage in beträchtlichem Maß, könnte das manchen Landkreis erdrücken. Wenn diese dann die Kreisumlage entsprechend erhöhen, trifft das wiederum die Kommunen. Wir haben schon jetzt eine Reihe von Gemeinden, die aufgrund einer prekären Finanzlage nur noch ihre Pflichtaufgaben erfüllen können. Das aber merken die Bürgerinnen und Bürger sofort – wenn die Vereine keine Zuschüsse mehr erhalten, wenn Kommunen sich nur noch um Kita und Abwasser kümmern dürfen. Dann kommt jegliches gesellschaftliches Leben vor Ort zum Erliegen.

    Zur Person: Martin Sailer, 54, ist seit 2018 Präsident des schwäbischen Bezirkstags. Seit 2008 ist der CSU-Politiker Landrat des Landkreises Augsburg.

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