Frau Scharf, Sie sind bayerische Sozialministerin und gehören einer Partei an, die den Begriff „sozial“ im Namen trägt. Trotzdem machen Sie und Ihr Parteichef Markus Söder gegen die geplante Bürgergelderhöhung mobil. Sollte eine Sozialministerin nicht eher auf der Seite der Bedürftigen stehen?
ULRIKE SCHARF: Ich stehe immer auf der Seite der Bedürftigen. Wir haben aber auch eine große Verantwortung, die richtige Balance herzustellen zwischen jenen, die jeden Tag aufstehen, zur Arbeit gehen, Steuern zahlen, und jenen, die Bürgergeld beziehen. Nur wenn diese Balance stimmt und die Wirtschaft stark ist, kann auch der Sozialstaat stark sein und jenen helfen, die sich nicht selbst helfen können. Das Bürgergeld darf nicht dazu führen, dass sich Arbeit nicht mehr lohnt. Es muss grundsätzlich neu gedacht werden. Aktuell setzt es die falschen Anreize. Die ganze Richtung stimmt nicht.
In dem, was Sie sagen, schwingt die Erzählung mit, dass der Abstand zwischen Bürgergeld und Mindestlohn so gering wird, dass viele Menschen, die sehr wohl arbeiten könnten, lieber zu Hause bleiben und vom Bürgergeld leben. Das ist aber durch Fakten offenbar nicht gedeckt. Die Hans-Böckler-Stiftung hat errechnet, dass zum Beispiel ein Single, der Vollzeit für den Mindestlohn arbeitet, 531 Euro mehr zur Verfügung hat als ein Single, der Bürgergeld bekommt. Der Lohnabstand ist damit doch gewahrt?
SCHARF: Ja, aber mit Blick auf die Erhöhung des Bürgergelds um zwölf Prozent, wie sie von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil anvisiert ist, wird dieser Abstand schon wesentlich geringer. Sie werden keinen Tarifabschluss mit einer zwölfprozentigen Erhöhung finden. Das Wesentliche ist aber, dass die Grundlage für eine derart starke Erhöhung der Regelsätze entfallen ist. Die Inflation ist längst nicht so stark gestiegen wie angenommen. Sie liegt nicht bei knapp zehn, sondern mittlerweile nur noch bei 3,2 Prozent. Die Erhöhung muss verschoben werden. Unser Sozialstaat muss stark bleiben. Er kann hilfsbedürftige Menschen aber nur dann unterstützen, wenn unsere Wirtschaft stark ist und wenn es Menschen gibt, die arbeiten und Steuern zahlen.
Die Preise sind aber bereits kräftig gestiegen, insbesondere für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs. Das trifft Menschen mit niedrigen Einkommen besonders hart. Da ist es doch nicht übertrieben, dass ein Single statt bisher rund 500 künftig rund 560 Euro bekommt.
SCHARF: Trotzdem wird der Abstand zu all jenen, die für den Mindestlohn arbeiten, immer geringer. Das widerspricht der Grundidee des Bürgergelds. Aus der Praxis ist mir bereits öfter berichtet worden, dass es immer mehr Beschäftigte gibt, die genau nachrechnen, ob sie ohne Arbeit, mit etwas weniger Geld und etwas mehr Verzicht nicht besser leben. Das wird im jetzigen System leider auch noch durch andere Faktoren begünstigt. Das beginnt schon damit, dass beim Bürgergeld die Anrechnung von Vermögen viel zu großzügig ausgelegt ist.
Was kritisieren Sie konkret an der Ausgestaltung des Bürgergelds? Was würden Sie anders machen?
SCHARF: Meine Hauptkritik ist, dass das Prinzip „Fördern und Fordern“ nicht ausreichend in der Praxis verankert ist. Als Erstes müsste die Mitwirkungspflicht verschärft werden - und zwar vom ersten Tag an. Es darf nicht folgenlos bleiben, wenn jemand zum ersten Termin im Jobcenter nicht erscheint. Das muss sofort sanktioniert werden. Das nächste Problem ist die Angemessenheit der Unterkunft. Aktuell wird das laut Gesetz ein Jahr lang nicht geprüft. Sie können als Bürgergeldempfänger sogar ein Jahr in einer Luxusvilla wohnen und müssen nicht raus. Diese Frist muss meiner Ansicht nach auf ein halbes Jahr verkürzt werden. Und dann, wie bereits genannt, die Vermögensanrechnung. Es ist meines Erachtens der hart arbeitenden Bevölkerung nicht zu vermitteln, dass beim Bürgergeld innerhalb des ersten Jahres nur „erhebliche Vermögen“ eingerechnet werden - bei alleinigen Leistungsbeziehenden 40.000 Euro, bei einer vierköpfigen Familie erst ab 85.000 Euro. Diese - unterschiedslos für alle gewährten - Freibeträge sollten komplett gestrichen werden. Für bestimmte Personengruppen, die bereits eine bestimmte Lebensleistung erbracht haben, sollte stattdessen ein Grundfreibetrag von 15.000 Euro für sechs Monate gelten. Für alle anderen ein deutlich reduzierter Betrag von lediglich 2.000 Euro.
Noch einmal zur geplanten Erhöhung der Regelsätze: Sie haben mit Ihrer Forderung nach einer Korrektur längst nicht all ihre Kolleginnen und Kollegen in der Union hinter sich. Karl-Josef Laumann, Ihr Ministerkollege aus Nordrhein-Westfalen und Repräsentant des Sozialflügels der CDU, vertritt eine andere Auffassung.
SCHARF: Das stimmt. Wir haben intensiv diskutiert und sind nicht einer Meinung. Aber mir ist noch etwas Anderes wichtig: Bei der Einführung des Bürgergelds war es das erklärte Hauptziel, Menschen intensiver zu betreuen und schneller in Arbeit zu bringen, zum Beispiel durch mehr Schulungsmaßnahmen und besserer Unterstützung bei der Suche nach Arbeit. All das ist gescheitert, weil es die Bundesregierung versäumt hat, die Jobcenter personell besser auszustatten. Wenn nicht genügend Personal da ist, um Arbeitssuchende zu begleiten, dann können diese selbst gesteckten Ziele nicht erreicht werden.
Diese Woche kommen die Arbeits- und Sozialminister der Länder zu ihrer Konferenz zusammen. Das Thema steht bisher nicht auf der Tagesordnung.
SCHARF: Ja, leider nicht. Das wird mich aber nicht daran hindern, das Thema im Rahmen der Konferenz, beim Kaminabend, anzusprechen. Dort wird über drängende aktuelle Fragen geredet. Ich werde dort um Unterstützung der Bundesratsinitiative der bayerischen Staatsregierung für eine Neuausrichtung des Bürgergeldes werben. Darin sind jene Punkte enthalten, die ich gerade genannt habe. Außerdem fordern wir, dass neu ankommende Geflüchtete aus der Ukraine nicht mehr privilegiert in den Bürgergeldbezug fallen.
Von wie viel Empfängern reden wir in Bayern?
SCHARF: Insgesamt beziehen in Bayern rund 445.000 Menschen Bürgergeld. Unter ihnen sind rund 91.000 Geflüchtete aus der Ukraine.
Zur Person
Ulrike Scharf, 55, wurde bereits vergangenes Jahr als Sozialministerin berufen und bei der Neubildung der Staatsregierung im Amt bestätigt. Die gelernte Bankkauffrau (geschieden, ein Sohn) aus dem Landkreis Erding ist zugleich stellvertretende bayerische Ministerpräsidentin.