Herr Nussel, Sie sind seit 2017 Beauftragter für Entbürokratisierung und leiten seit Sommer 2022 auch den Normenkontrollrat der Staatsregierung. Kennen Sie den alten Witz, dass es für Entbürokratisierung ein eigenes Landesamt braucht mit Zweigstellen, Formularen und so weiter?
WALTER NUSSEL: Ich kenne den Witz, aber es ist anders.
Wie ist es denn? Entbürokratisierung ist ein Schlagwort, das in aller Munde ist. Aber zugleich sieht es nicht so aus, als gäbe es bahnbrechende Erfolge. Erklären Sie doch bitte konkret, wie der Normenkontrollrat arbeitet und wem damit geholfen werden kann.
NUSSEL: Doch, es gibt Fortschritte. Ich habe dafür auch zwei sehr konkrete Beispiele. Das erste betrifft europaweite Ausschreibungen bei Liefer- und Dienstleistungen sowie Bauprojekten. Das ist ein wahnsinniger Aufwand für alle Beteiligten und verursacht zusätzliche Kosten. Eine Gemeinde will zum Beispiel einen neuen Kindergarten bauen, muss aber, selbst wenn es sich nur um ein kleines Bauprojekt handelt, den Planungsauftrag europaweit ausschreiben, sobald die Planungskosten über 215.000 Euro liegen. Wir haben als Normenkontrollrat vorgeschlagen, die entsprechenden Schwellenwerte zu erhöhen und an die Preisentwicklung anzupassen. Die Staatsregierung hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht und ihn in den Bundesrat gebracht. Auch dort wurde das Anliegen einstimmig unterstützt. Und jetzt geht der Weg weiter über das Bundeswirtschaftsministerium zur EU. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns auch dort durchsetzen. Dann hätten wir allein in Bayern in Tausenden von Fällen pro Jahr für Erleichterung gesorgt – in den Kommunen, bei Planern und Architekten, und auch bei vielen privaten Unternehmen.
Und das zweite Beispiel?
NUSSEL: Das ist die veraltete Garagenverordnung. Da sind die Leute vom Flughafen München an mich herangetreten. Sie haben kritisiert, dass in Parkhäusern oder Tiefgaragen eine Ausleuchtung mit einer Stärke von 20 Lux in der Benutzungszeit vorgehalten werden muss, was nach dem modernen Stand der Technik nicht mehr notwendig ist. Und sie haben angeregt, diesen Mindestwert abzusenken, um Strom und Kosten zu sparen. Wir haben vor Ort einen Praxis-Check mit allen beteiligten Ministerien und der Polizei durchgeführt und sind zu dem Schluss gekommen, dass es nur in bestimmten Bereichen – wie auf Rettungswegen und Frauenparkplätzen – besonders hell sein muss. Ansonsten reichen 15 Lux. Das Bauministerium hat daraufhin die Verordnung geändert. Das gilt jetzt in ganz Bayern für alle Parkhäuser und Tiefgaragen. Allein der Flughafen spart sich durch diese eine Maßnahme jährlich einen Millionenbetrag.
Nicht alles Übel kommt also aus Europa. Bürokratie wird offenbar auf allen Ebenen erzeugt – auch im Freistaat.
NUSSEL: So ist es. Und längst nicht immer sind es die Gesetzgeber oder Regierungen in Brüssel, Berlin oder München, die zusätzliche Belastungen verursachen. Vieles geschieht auch auf Beamtenebene in den Ministerien. Da werden manchmal Verordnungen oder Merkblätter geschrieben, die kein Politiker mehr sieht. Oder auf lokaler Ebene, wenn zum Beispiel eine Kreisbehörde für ein Schützenfest eine bestimmte Menge an Sicherheitspersonal verlangt. So etwas geschieht immer wieder, obwohl es vom Staat gar nicht vorgeschrieben ist.
Das hört sich nach einer Sisyphus-Aufgabe an. Wie viele Anregungen oder Beschwerden kommen bei Ihnen auf den Tisch?
NUSSEL: Da hat sich schon einiges angesammelt. Mehrere Tausend Vorgänge werden es insgesamt wohl schon sein. Da sind viele Einzelfälle dabei, aber auch Probleme, die fortwährend in Bearbeitung sind. Wir schauen uns zum Beispiel Merkblätter auf ihre Verständlichkeit und Praxistauglichkeit hin an, und manchmal stellen wir uns komplizierten Neuregelungen auch entgegen.
Da können Sie doch sicher auch ein Beispiel nennen.
NUSSEL: Selbstverständlich. Vergangenes Jahr wurde viel über Wasserknappheit und den Schutz des Grundwasserstocks und des Tiefengrundwassers diskutiert. Das bis dahin gültige Merkblatt über die Entnahme von Tiefengrundwasser des Landesamts für Umwelt hatte acht Seiten. Es sollte durch ein neues Merkblatt mit 53 Seiten ersetzt werden. Da sind wir dazwischen gegangen.
Ihnen wurde damals vorgeworfen, Lobbyist für die großen Mineralbrunnen zu sein.
NUSSEL: Dieser Vorwurf ist Unsinn. Mir ging es grundsätzlich erst einmal darum, dass über den Zugang zum Grundwasser weiterhin der Staat entscheidet und nicht die Kommunen oder Zweckverbände. Der Schutz unseres Wassers muss eine hoheitliche Aufgabe bleiben. Die Kommunen haben da manchmal andere Interessen, und deswegen wurde da auch Stimmung gegen mich gemacht. Ich will Vereinfachungen und Klarheit in der Praxis durchsetzen. Nix wird besser, wenn man Merkblätter von acht auf 53 Seiten hochpuscht.
Ihre Arbeit geht naturgemäß sehr ins Detail. Sind Sie denn mit Ihren kleinen Erfolgen schon zufrieden?
NUSSEL: Nein. Mein Ziel ist, dass wir uns als Staat wieder mehr auf die Grundversorgung der Bevölkerung konzentrieren: Gesundheit, Nahrung, Wasser, Bildung, Wohnen, Energie, Arbeit und so weiter. Hier sollten wir uns fragen, was unbedingt nötig ist und wo wir nachjustieren müssen. Dafür bereiten wir zur Zeit ein Entlastungsgesetz vor.
Worum geht es dabei konkret?
NUSSEL: Konkret geht es dabei etwa um die Frage, ob wir bestimmte Bauvorschriften aussetzen können, um auf diese Weise mehr Wohnungsbau zu generieren. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr zum Beispiel entschieden, die Energieversorgung als höherwertiges öffentliches Interesse einzustufen. Seither können Windräder auch dort gebaut werden, wo ein Rotmilan rumfliegt. Diese Entscheidung war möglich, weil man festgestellt hatte, dass sich der Bestand dieser Vögel erholt hatte.
Als Paradebeispiel für belastende Bürokratie gilt der Brandschutz.
NUSSEL: Das ist tatsächlich ein Problem für sich, weil hier nicht in erster Linie der Staat, sondern oft andere Institutionen die technischen Normen setzen, deren Nichteinhaltung nicht nur im Unglücksfall sogar rechtliche Konsequenzen haben kann. Der Aufwand, der in Büros für den Brandschutz betrieben wird, ist der pure Wahnsinn – vor allem, wenn man bedenkt, dass es in Büros nur selten brennt. Planer treiben die Kosten nicht selten zusätzlich in die Höhe, indem sie Dinge in den Plan schreiben, die laut Gesetz gar nicht erforderlich sind. Wenn sie aber in dem genehmigten Plan stehen, dann müssen sie auch umgesetzt werden.
Wie wollen Sie derart komplexen Ärgernissen beikommen?
NUSSEL: Dazu ein letztes Beispiel: Direktvermarkter, die einen Hofladen eröffnen wollen, haben kaum eine Chance, die Fülle von Vorschriften zu durchdringen, die sie beachten müssen. Wir sind gerade dabei, in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien Merkblätter für sie zu erarbeiten, wo das alles kurz und knapp zusammengefasst ist. Diese Merkblätter dienen den Direktvermarktern als eine Art Checkliste für die Eigenkontrolle, aber auch für Prüfungen durch Aufsichtsbehörden.
Wenn man hört, was Sie so tun, dann ist der Witz vom Landesamt für Entbürokratisierung vielleicht doch nicht so daneben. Denken Sie, dass Sie im Kampf gegen die Bürokratiemonster spürbare Erfolge haben werden?
NUSSEL: Zumindest ist es schon jetzt so, dass andere Bundesländer mit größtem Interesse auf Bayern und auf unseren Normenkontrollrat schauen. Auch ein EU-Kommissar hat sich schon gemeldet.
Zur Person
Walter Nussel, 59, hat drei Berufe erlernt: Mechaniker, Landwirt und Forstwirt. Das kommt dem mittelfränkischen CSU-Landtagsabgeordneten im Kampf gegen die bayerische Bürokratie jetzt zugute.