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Industriegeschichte: Die geheimnisvolle Schmuckfabrik von Mindelheim

Industriegeschichte

Die geheimnisvolle Schmuckfabrik von Mindelheim

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    Anette Neupert steht inmitten ihrer Schmuckfabrik in Mindelheim. Das Gebäude hatte sie von ihrer Oma geerbt.
    Anette Neupert steht inmitten ihrer Schmuckfabrik in Mindelheim. Das Gebäude hatte sie von ihrer Oma geerbt. Foto: Ulrich Wagner

    Hätte Annette Neupert von ihrer Tante nur Schmuck geerbt, hätte die Frankfurterin jetzt deutlich weniger Stress, so viel ist klar. Aber es ist ja gleich eine ganze Fabrik geworden, mitten in Mindelheim. Eine, in der dieser Schmuck hergestellt wurde und die von außen nicht eben schmuck aussieht. Der gelbe Putz schlottert wie löchrige Kleidung um das seltsam unproportionale Gebäude, das drei Stockwerke hoch ist und nur ein Zimmer breit.

    Trotzdem spricht die 58-Jährige von einem Juwel. Weil das Gebäude im Innern einen wahren Schatz birgt. Weil man durch die Metalltür in eine komplett ausgestattete Fabrik tritt. Nur hat das vor Annette Neupert knapp 25 Jahre lang niemand mehr getan. Sie war nach dem Tod ihrer Tante vor zwei Jahren die Erste – und „völlig fassungslos, dass da so gar nichts passiert ist in all der Zeit“. 

    Als ob eben noch die 25 Mitarbeiter hier gearbeitet hätten

    Abgesehen von einer dicken Staubschicht auf Möbeln und Maschinen sieht immer noch alles so aus wie damals, als hier etwa 25 Mitarbeiter Trachtenschmuck, Knöpfe, Rosenkränze, die dazu passenden Aufbewahrungsdosen und Andenken für Wallfahrer produziert haben. Und es riecht auch so, nach einer Mischung aus Metall und Öl. Gerade so, als wäre der schwere Zughammer eben noch mit aller Kraft aufs Metall gerummst.

    Dabei ist das sogar schon mindestens 45 Jahre her. Seitdem ist die kleine Fabrik Stück für Stück eingeschlafen: erst die Produktion im Erdgeschoss, dann die Goldschmiede-Werkstatt im zweiten Stock, wo noch längere Zeit Reparaturen gemacht wurden, und 1991 schließlich auch der Vertrieb von Schmuck aus dem Großhandel.

    1991 gerät die Fabrik in Vergessenheit

    Damals hat Erna Schedler, die Tante der Erbin, die Metalltür zum letzten Mal ab- und offenbar nie wieder aufgesperrt. So geriet die Fabrik, die keineswegs versteckt liegt, aber von außen nicht erahnen lässt, was sich drinnen verbirgt, allmählich in Vergessenheit. Bis Annette Neupert nach Mindelheim kam, die im Sonnenlicht goldkupfern glänzenden Maschinen wiedersah und an ein kleines Wunder glaubte.

    Schwer zu erklären ist das allemal. Wenn die Betriebsaufgabe absehbar war, müssten die Schränke dann nicht leerer und vielleicht auch ein paar Maschinen verkauft sein? Gertrud Quis, die als Buchhalterin bis zuletzt im Betrieb war, nickt. „Man hat schon versucht, die Sachen an den Mann zu bringen“, sagt sie. „Aber da war wenig Interesse da und dann hat man halt alles liegen lassen.“ 

    Fast alles ist noch da: Maschinen, Bohrer, Walzen und Ölkännchen

    Sogar den Schmuck in den Tresoren. Der sei zwar nicht wahnsinnig wertvoll gewesen, sagt Annette Neupert, die nun unter anderem „300 Ringlein allerhässlichster Ausprägung“ ihr eigen nennt. Aber bei einem Einkaufspreis von 38 Mark pro Stück kommt trotzdem ein bisschen was zusammen.

    Reportage ehemalige Schmuckfabrick Demmler in Mindelheim. Besichtigung mit Erbin Anette Neupert.
Bild: Ulrich Wagner
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    34 Bilder
    Die frühere Mindelheimer Schmuckfabrik liegt seit Jahrzehnten in einem Dornröschenschlaf. So sah es zuletzt dort aus.

    Auch sonst ist noch fast alles da: die großen Maschinen aus den 20er Jahren im Erdgeschoss, Bohrer, Drehbänke, Stanzen, Walzen, Ölkännchen und Schraubenschlüssel griffbereit daneben. Würden sie den geltenden Sicherheitsnormen entsprechen, könnte man noch damit arbeiten – wenn auch kaum wirtschaftlich. Vom benachbarten Friedhof drängelt der Efeu durch die Fensterritzen und legt seine Ranken um die Maschinen wie grüne Luftschlangen. 

    Die Schränke sind voll mit Kunden- und Personalakten

    Der Blick fällt auf die Transmissionen an der Decke, all das Werkzeug, die Zangen, Hammer und Pinsel, die Schränke voller Gesenke und Prägeformen, auf einen veritablen Vorrat an Werbekugelschreibern und Briefumschlägen des Modells „Sylvia“ im Lager im ersten Stock und das komplette Büro mit Rechenmaschinen, Ringmaßen und Schränken voller Kunden- und Personalakten.

    Noch eine ausgetretene Treppe höher liegen Belege für Postsendungen im Regal, eine Mark 70 hat die Zustellung damals gekostet, und Hefter mit bezahlten Rechnungen, nach Jahren sortiert. Hier oben haben auch die Goldschmiede gearbeitet, an den Werkbänken mit der charakteristischen Einbuchtung, über sich drei Pendelleuchten, die heute im Nostalgie-Warenhaus Manufactum vermutlich reißenden Absatz fänden. 

    Auf einem der Tische, deren Holz Arbeit und Alter verrät, liegt ein Schächtelchen mit filigranen Blumen, jede ungefähr so groß wie ein Zwei-Euro-Stück. Einfach stehen gelassen, obwohl sonst jeder Schrank, jede Schublade akribisch beschriftet ist. 

    Im Personalraum hängt immer noch ein grüner Kittel

    In einem Umkleideraum fürs Personal hängt immer noch ein grüner Kittel am Haken, überm Waschbecken liegt eine Bürste auf dem Regal, in einem hölzernen Spind stehen ein Glas und eine Zitronenpresse, in einem anderen ein Paar Schuhe. Lässt man das zurück, wenn man weiß, dass man nicht mehr wiederkommt?

    Im Büro stehen vier Schreibtische. Drei in einer Reihe für die Angestellten, rechts daneben, mit dem Rücken zu ihnen, ein repräsentativerer für die Chefin: Emma Demmler, Annette Neuperts Oma. An der Wand hängt ein Foto von ihr, eine Frau in den Sechzigern, sympathisch lächelnd vor blauen und rosa Lupinen. 

    Auf einem anderen ist ihr Mann Alois zu sehen. Gemeinsam haben sie die Firma 1933 gekauft, die Kontoristin aus Pforzheim, bis heute die Schmuckstadt Deutschlands, und der Goldschmied.

    Annette Neuperts Oma übernahm den Betrieb als Witwe

    Als er nur fünf Jahre später starb, wurde Emma Demmler, Mutter zweier Töchter, zur Fabrikantenwitwe – obwohl „verwitwete Fabrikantin“ wohl zutreffender wäre. Schließlich hat sie von Anfang an in der Fabrik gearbeitet und sie erfolgreich durch den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach gebracht. 

    Wie ihr das angesichts des Sortiments aus Rosenkränzen und Devotionalien gelungen ist, „darüber wurde in der Familie nicht gesprochen“, sagt Annette Neupert. „Da durfte man auch nicht fragen. Das Dritte Reich war tabu. Ich weiß nicht, wie sie sich über Wasser gehalten haben in der Zeit.“ 

    Immerhin hat sie inzwischen in Erfahrung gebracht, dass die Gebrüder Hackenmiller, nach denen der Betrieb ursprünglich benannt war und die sich auch auf einigen älteren Briefköpfen wiederfinden, wohl keine Juden waren und der Kauf rechtens.

    Über das Geschäft wurde nicht viel geredet

    Überhaupt wurde übers Geschäft nicht viel geredet. Aber man habe ihrer Oma angemerkt, dass sie die Arbeit gerne machte. „Das war ihr Leben.“ Drei ehemalige Angestellte beschreiben sie als gute, aber auch strenge Chefin. Eine großartige Frau sei sie gewesen. Wie viele Frauen schafften es in den 40er Jahren schon in den Stadtrat und wurden später mit der Bundesverdienstmedaille ausgezeichnet?

    Während sie in der Fabrik die Zügel in der Hand hielt, war ihre jüngere Tochter Erna Schedler als „Reisende“ in ganz Schwaben unterwegs, um den Juwelieren die aktuellen Kollektionen zu präsentieren. Obwohl sie im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester, einer Ärztin, wohl nicht einmal einen Schulabschluss hatte, verstand sie ihr Geschäft. „Sie war eine gute Verkäuferin. Sie hat gerne Schmuck getragen und der sah auch gut aus an ihr. Gerade die großen Klunker“, erinnert sich Annette Neupert. „Die konnte die Ringe von ihrer Hand weg verkaufen.“ 

    Schick sei die Tante gewesen und sehr selbst- und modebewusst. Ein Foto zeigt sie im Bikini, ein anderes mit schmetterlingsförmiger Sonnenbrille, dunklem Mantel und hochhackigen Schuhen. Auf denen stöckelte sie von Montag bis Freitag zu den Juwelieren, in der Hand einen Musterkoffer, der je nach Kollektion gut und gerne 25 Kilo wog. Fleißig sei sie gewesen und sehr geschäftstüchtig.

    Übergabe an einen Cousin scheiterte

    Offenbar so sehr, dass die geplante Geschäftsübergabe an einen Cousin scheiterte, weil man sich über den Preis nicht einig wurde. Noch heute schüttelt Annette Neupert darüber den Kopf. „Das ist sehr schade. Vor allem, weil meine Tante und ihr Mann es nicht nötig hatten.“

    Für sie selbst ist die Fabrik ein wunderbares Stück Kindheit. Bis zur Pubertät hat sie alle Sommerferien hier verbracht. Hat mit den Trachtenknöpfen gespielt, ehrfürchtig in die Panzerschränke geschaut und die elektrische Rechenmaschine rattern lassen. Noch heute erinnert sie sich an den nussigen Geruch des Klebers, mit dem die Paketstreifen eingestrichen wurden. 

    Später dann war die Fabrik für sie nicht mehr so interessant – und als sie es wieder war, war es zu spät. Ihre Tante, damals wohl schon dement, wollte sich nicht mehr damit befassen, daran war nicht zu rütteln. „Was willst du mit dem alten Zeug?“, fragte sie. Vielleicht war ihr durchaus bewusst, wie viel Arbeit und auch Geld die endgültige Auflösung des Betriebs erfordern würde, vielleicht hatte sie einfach genug.

    „Wenn ich mir überlege, was jetzt auf mich zukommt, kann ich sie verstehen“, sagt Annette Neupert, die als Aufnahmeleiterin beim Hessischen Rundfunk arbeitet. Das Gebäude ist statisch zwar in Ordnung, aber allemal sanierungsbedürftig. Und dann der Inhalt, ein stimmiges Ensemble, ja, ein Stück Industriegeschichte, das sie am liebsten nicht auseinanderreißen würde. 

    Riesiger Andrang beim Tag der offenen Tür

    Sie will nichts verscherbeln, den Nachlass nicht nüchtern als einen Haufen Altmetall sehen, der sich zu Geld machen lässt – einerseits. Und andererseits wäre sie auch froh um jedes Teil, um das sie sich nicht mehr zu kümmern braucht.

    Damit es nicht „ganz weg ist, nicht einfach weggeschmissen“, hat Annette Neupert vorsorglich alles dokumentiert und den Unterallgäuern die Fabrik bei einem Tag der offenen Tür noch einmal gezeigt. Der Andrang war enorm. Mehr als 400 Besucher schoben sich durch die engen Räume und waren begeistert. 

    „Wir haben die Leute fast nicht mehr rausgebracht“, sagt Christian Schedler, der Leiter des Mindelheimer Kulturamtes. Trotzdem wird sich die Stadt zurückhalten. „Das Gebäude mitsamt der Maschinen zu erhalten, wäre eine Riesenaufgabe. Dies zu übernehmen, ist das eine. Dies weiterzuführen, das andere.“

    Der Traum von einem Investor, der der Fabrik wieder Leben einhaucht

    Hinzu kommt, dass es in Mindelheim schon sechs Museen gibt. „Für eine Stadt mit rund 14500 Einwohnern ist das genug.“ Voraussichtlich wird es aber eine Ausstellung im Technikmuseum in Berlin geben, und das Deutsche Wirtschaftsarchiv will das Firmenarchiv erforschen. „Das könnte Mindelheim gar nicht leisten“, sagt Schedler.

    Annette Neupert erwartet das auch gar nicht. „Man traut sich ja immer nicht zu träumen“, sagt sie. Aber wenn sie sich traute, würde sie von einem Investor träumen, der der Fabrik wieder das Leben einhaucht, das hier immer noch spürbar ist. „Da atmet so ein Geist, da atmet Arbeit. Der Fleiß, die Akribie, das ist einfach noch da.“ Wahrscheinlich zieht die Fabrik Besucher deshalb so in ihren Bann: „Weil sie verlassen ist – und doch nicht leer.“

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