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Gesundheit: Praxis Dr. Rendite: Wie Investoren immer mehr Arztpraxen erobern

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Praxis Dr. Rendite: Wie Investoren immer mehr Arztpraxen erobern

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    Was erwartet Patientinnen und Patienten künftig im Wartezimmer? Der Wissenschaftler Richard Bůžek fragt: „Wollen wir ein Gesundheitssystem, bei dem es um das Wohl des Patienten geht oder um die Profitinteressen von Investoren?“
    Was erwartet Patientinnen und Patienten künftig im Wartezimmer? Der Wissenschaftler Richard Bůžek fragt: „Wollen wir ein Gesundheitssystem, bei dem es um das Wohl des Patienten geht oder um die Profitinteressen von Investoren?“ Foto: Sina Schuldt, dpa

    "Die Medizin von heute hat Dollarzeichen in den Augen", sagt ein Augenarzt, der bis vor Kurzem in Bayern tätig war. Er will anonym bleiben. Zu groß ist die Angst vor Gerede bei Kollegen und Investoren. Über Letztere redet eigentlich niemand aus der Branche offen. Gemeint sind Finanzinvestoren, die das Gesundheitssystem als Geldanlage entdeckt haben und Millionengewinne erwirtschaften. 

    Die Politik will dem einen Riegel vorschieben. In seltener Eintracht kritisieren sowohl Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) als auch seine bayerische Amtskollegin Judith Gerlach (CSU) die Investoren. Gerlach sieht deren Profitorientierung als "Gefahr für Patientinnen und Patienten". Sie fürchtet, dass "bei Behandlungen ein stärkerer Fokus auf umsatzsteigernde Leistungen gelegt" werde. Lauterbach nannte die Investoren gar "Heuschrecken" und verkündete schon zu Weihnachten 2022: "Profitorientierte Ketten von Arztpraxen feiern wahrscheinlich ihr letztes schönes

    Medizinische Versorgungszentren sind als Alternativmodell zu Einzelpraxen entstanden

    Auf Drängen Bayerns und anderer Bundesländer wollte sein Ministerium im Frühjahr 2023 einen Gesetzentwurf vorstellen, um zu verhindern, dass Investoren weiterhin uneingeschränkt Medizinische Versorgungszentren (MVZ) gründen oder aufkaufen. Solche Zentren sind als Alternativmodell zu Einzelpraxen entstanden. Hier arbeiten angestellte Ärzte oft fachübergreifend unter einem Dach. Dahinter stehen immer häufiger Inhaber, die nicht aus der Gesundheitsbranche kommen. Ausländische Rentenfonds, Kaffeehersteller oder Kapitalgesellschaften zum Beispiel. Mit dem Kauf eines einzigen (oft sehr kleinen) Krankenhauses können sie unbegrenzt MVZ in ganz Deutschland gründen.

    Das Gesetz, das ein solches Vorgehen verhindern sollte, gibt es bis heute nicht. Das führt mitten hinein in einen Grundsatzstreit zwischen Politik und Medizin. Die einen betrachten branchenfremde Geldgeber als Fluch, andere als Segen. Unstrittig ist, dass Einzelpraxen unter Druck stehen: überbordende Bürokratie, Streit ums Geld und die oft vergebliche Suche nach einem Nachfolger. Medizinzentren sind da oft die angenehmere Alternative für Ärzte. Wenn das so weitergeht, gibt es immer mehr solcher Zentren, die Investoren gehören. 

    Allein zwischen 2018 und 2019 hat sich in Bayern deren Zahl von 54 auf 93 nahezu verdoppelt. Neuere Zahlen gibt es nicht. Welche Bedeutung investorengeführte Medizinzentren haben und wie viele es bundesweit gibt, weiß auch das Gesundheitsministerium in Berlin nicht: "Die von Ihnen erfragten Daten liegen dem BMG nicht vor", heißt es knapp auf Anfrage unserer Redaktion.

    Währenddessen geht in einigen Regionen Bayerns mehr als die Hälfte der Krankenversicherten bei Zahnschmerzen in ein investorengeführtes MVZ. München, Passau, Würzburg und Bad Kissingen nennt das bayerische Gesundheitsministerium als Hotspots. Das Ministerium beklagt, dass es "teilweise auch bewusst verdeckte Inhaberstrukturen" bei solchen Medizinzentren gebe. Wo und in welchem Umfang sich private Investoren einkauften, sei schwer zu durchschauen. Daher wisse man nicht, "wohin die Gelder fließen". 

    Ein Wissenschaftler fragt: "Wollen wir ein Gesundheitssystem, bei dem es um das Wohl des Patienten geht?"

    Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stützen diese Kritik. „Fast alle Private-Equity-Fonds sind in Steueroasen registriert, sodass die Investoren kaum Steuern zahlen und Gewinne aus dem Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung entzogen werden“, sagt Richard Bůžek, der an der Universität Münster zu investorengeführten Medizinzentren und ihren Steuertricks forscht. Für Bůžek geht es um die Grundfrage: "Wollen wir ein Gesundheitssystem, bei dem es um das Wohl des Patienten geht oder um die Profitinteressen von Investoren?"

    Der Augenarzt aus Bayern, der anonym bleiben möchte, findet, dass Profit schon jetzt an erster Stelle steht. Immer wieder seien Patientinnen und Patienten zu ihm gekommen, denen von investorengeführten Medizinzentren zu teuren Linsen oder nicht notwendigen Operationen geraten worden sei. Teure Maßnahmen, die gar nicht nötig sind, um Kasse zu machen? Das ist ein schwerer Vorwurf, für den es bislang keine harten Belege gibt. 

    Investoren fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Sie sehen ihr Kapital als Beitrag zum chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystem. "Die Einzelpraxis ist ein Auslaufmodell", sagt Sibylle Stauch-Eckmann, die Vorsitzende des Bundesverbandes der Betreiber medizinischer Versorgungszentren. Der Verband vertritt die Interessen privater MVZ-Investoren. "Dennoch führen einige Politikerinnen und Politiker, angestachelt durch falsche Behauptungen von Ärzte-Lobbyisten, einen Kampf gegen das MVZ." Doch die Kritik vonseiten der Politik richtet sich nicht gegen die Medizinzentren per se. "Wir sind nicht gegen MVZ grundsätzlich", betont das bayerische Gesundheitsministerium. "Das Problem sind die investorengetragenen MVZ." 

    Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) sieht die Profitorientierung von Investoren als "Gefahr für Patientinnen und Patienten".
    Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) sieht die Profitorientierung von Investoren als "Gefahr für Patientinnen und Patienten". Foto: Sven Hoppe, dpa

    Gesundheitspolitikern zufolge sind private Investoren besonders in lukrativen Facharztbereichen wie der Zahnmedizin, Augenheilkunde oder Radiologie aktiv. Damit lässt sich viel Geld verdienen. Das Private-Equity-Unternehmen Capital Papers etwa gibt an, mit der Ober Scharrer Gruppe (OSG), einer der größten deutschen Augenarzt-Ketten mit Sitz im fränkischen Fürth, rund 21 Prozent Rendite pro Jahr erzielt zu haben. Die OSG, deren Träger mittlerweile ein kanadischer Pensionsfonds und eine französische Private-Equity-Gesellschaft sind, verweist darauf, dass sie zum Vorteil ihrer Patienten profitabel sein müsse: "Bestmögliche medizinische Versorgung erfordert kontinuierlich hohe Investitionen, welche wir erwirtschaften müssen." Hunderttausende Euro nur für ein Gerät – Einzelpraxen können sich das oft nicht mehr leisten, viele Investoren schon. 

    Kommunen sind in Zeiten von massivem Ärztemangel über jede Investition froh

    Der Vorwurf nach Gewinnorientierung reicht noch weiter. Weil Ballungszentren lukrativer seien, drohe auf dem Land eine Unterversorgung, während in der Stadt ein weiteres Augenarzt-MVZ öffne. Gegen diesen Generalverdacht wehren sich Investoren. So betont die Ober Scharrer Gruppe, mehr als 50 Prozent ihrer Medizinzentren befänden sich im ländlichen Raum. 

    Dort sind die Kommunen in Zeiten von massivem Ärztemangel über jede Investition froh. "Private Investoren sind mir lieber, als wenn ich keinen Termin bekomme", sagt Eva von Vietinghoff-Scheel. Die Juristin ist Vorständin des Kommunalunternehmens des Landkreises Würzburg. Dieser hat im vergangenen Oktober ein kommunales Hausarzt-MVZ eröffnet, weil sich für Praxen weder Nachfolger noch Investoren fanden und eine Unterversorgung drohte. 

    "Wir machen das nicht, um Geld zu verdienen", betont von Vietinghoff-Scheel. "Wenn bei uns eine schwarze Null herauskommt, ist das gut." Zwar kommt das Engagement des Kreises vor Ort gut an, auf politischer Ebene löst es jedoch Missfallen aus. Die Bezirksregierung zieht die Verantwortlichkeit des Landkreises in Zweifel. Auf Nachfrage teilt das übergeordnete Innenministerium mit, es gebe "bei der hausärztlichen Versorgung keine Anhaltspunkte", die "eine Zuständigkeit des Landkreises begründen" würden. Gemäß Landkreisordnung seien die Gemeinden zuständig. 

    Etwas wohlmeinender klingt das bayerische Gesundheitsministerium: Kommunale MVZ könnten "generell durchaus einen Beitrag zu einer wohnortnahen Ärzteversorgung leisten", teilt es zum Fall Würzburg mit. Auch wenn es sich für die Verantwortlichen dort so anfühlt, als würde ihr Bemühen durch Bürokratie ausgebremst, machen sie weiter. Seit der Gründung des Landkreis-MVZ im Herbst konnten die drei angestellten Ärztinnen in Waldbrunn mehr als 2000 Patientinnen und Patienten aufnehmen und behandeln; jede Woche kommen zehn weitere dazu. 

    Bayern startete im Sommer 2023 erfolgreich eine Bundesratsinitiative

    Bleibt die Frage, warum die von Lauterbach angekündigte Regulierung der Medizinzentren bis heute nicht existiert. In Bayern will man nicht länger warten: Im Sommer 2023 veranlasste der Freistaat eine Bundesratsinitiative, die von der Bundesregierung eine strengere Regulierung fordert und mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Seither sei jedoch "nichts zu diesem Thema geschehen", klagt ein Sprecher des Gesundheitsministeriums in München. Auf Anfrage eines Bundestagsabgeordneten erklärte Lauterbachs Haus, man wolle erst die Diskussionsprozesse in den Ländern abwarten. Das Ministerium von Judith Gerlach kann das "nicht im Geringsten nachvollziehen". Auch andere Länder sehen das Abwarten in Berlin kritisch. Rheinland-Pfalz, wie der Bund von einer Ampel regiert, bedauert nach Aussage des dortigen Gesundheitsministeriums, bei der Ausarbeitung der angekündigten Regeln nicht einbezogen zu sein. Und auch auf wiederholte Nachfrage unserer Redaktion hüllt sich Lauterbachs Ministerium in Schweigen: Weder zum Inhalt noch zum Zeitplan könne man etwas sagen, heißt es aus Berlin. 

    Dabei steht viel auf dem Spiel. Es geht um viel Geld und um die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems. "Der Markt wird es in diesem Fall nicht richten. Marktmechanismen sind kein Garant für eine ausgewogene medizinische Versorgung", sagt ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums. Während man in München auf eine schnelle Regulierung drängt, hat der Augenarzt aus dem Freistaat seinen Glauben an politische Reformen verloren. "Das System ist nicht mehr reformierbar", meint er. "Es geht nur noch ums Geld." Doch in einem ist er sich sicher: An Investoren will er seine Praxis nicht verkaufen.

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