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Gesundheit: "Das jetzige Gesetz zur Organspende ist auf der ganzen Linie gescheitert"

Gesundheit

"Das jetzige Gesetz zur Organspende ist auf der ganzen Linie gescheitert"

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    Obwohl sich in Umfragen rund 80 Prozent der Menschen in Deutschland für die Organspende aussprechen, haben nur wenige wirklich einen Organspendeausweis.
    Obwohl sich in Umfragen rund 80 Prozent der Menschen in Deutschland für die Organspende aussprechen, haben nur wenige wirklich einen Organspendeausweis. Foto: Hendrik Schmidt

    Die Zahl der Organspender geht weiter zurück. Herr Prof. Anthuber, Sie sind der Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Uniklinikum Augsburg, Herr Dr. Sommer, Sie sind dort Oberarzt – ist das aktuelle Gesetz, die sogenannte erweiterte Entscheidungslösung, gescheitert?

    Prof. Dr. Matthias Anthuber: Das jetzige Gesetz zur Organspende ist auf der ganzen Linie gescheitert. Und das habe ich prophezeit. Schon als man sich 2020 im Bundestag leider wieder nicht für die Widerspruchslösung entschieden, sondern nur auf mehr Aufklärung gesetzt hat, habe ich gewarnt: Man kann diese wichtige, zeitaufwendige Aufklärungsarbeit zu so einem hochsensiblen und komplexen Thema nicht auch noch auf die Hausärzte abwälzen, die ohnehin mit Aufgaben überfrachtet sind. Auch Laien in irgendwelchen Ämtern können dies nicht leisten. Das musste scheitern. Zumal es uns, wie ich auch vorhergesagt habe, nicht einmal gelungen ist, ein Organspenden-Register aufzubauen.

    Dr. Florian Sommer: Und unsere jetzige Regelung hat auch weitreichende negative medizinische Folgen: So sind wir bei Innovationen, also was die medizinische Entwicklung angeht, im Vergleich zu unseren Nachbarländern, die fast alle die Widerspruchslösung haben, abgehängt.

    Kurz zur Erklärung: Bei der Widerspruchslösung ist die Organspende der Normalfall. Jeder ist Organspender, es sei denn, er widerspricht. Bei der deutschen Regelung ist nur derjenige Organspender, der sich aktiv einen Ausweis besorgt und bei dem die Angehörigen zustimmen.

    Sommer: Die Angehörigen werden immer gefragt. Auch bei der Widerspruchslösung. Der entscheidende Unterschied ist aber: Bei der deutschen Lösung liegt auf den Angehörigen ein ungleich höherer Druck, weil sie für den Angehörigen entscheiden müssen, dessen Einstellung sie aber oft nicht kennen und sich überdies in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden. Bei der Widerspruchslösung müssen die Angehörigen nur den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen bestätigen. Oder sie können, wenn sich etwas in dessen Einstellung geändert hat, dies auch sagen. Denn wir handeln nie gegen den Willen der Angehörigen.

    Doch gerade an der fehlenden Einwilligung der Angehörigen scheitern oft Organspenden.

    Anthuber: Weil bei uns leider die Themen Tod und Organspende noch immer Tabuthemen sind. Man spricht in den Familien, aber auch im Freundeskreis nicht darüber. Und wenn es dann so weit ist und Angehörige über die Organspende entscheiden müssen, sind sie maximal überfordert. Denn es ist ja nicht ihre eigene Meinung gefragt, sondern die vermutete Meinung des Verstorbenen, das ist eine enorme Belastung.

    Prof. Dr. Matthias Anthuber ist der Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Uniklinikum Augsburg. Er wünscht sich noch mal einen Anlauf für eine Widerspruchslösung.
    Prof. Dr. Matthias Anthuber ist der Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Uniklinikum Augsburg. Er wünscht sich noch mal einen Anlauf für eine Widerspruchslösung. Foto: Bernhard Weizenegger

    Aber viele haben auch Bedenken. Der diagnostizierte Hirntod ist in Deutschland die Voraussetzung für eine Organentnahme, doch manche fürchten, dass früher lebensverlängernde Maßnahmen beendet werden, damit Organe entnommen werden können.

    Sommer: Das Gegenteil ist aber der Fall. Dazu muss man wissen, dass in Deutschland, bevor es überhaupt zu einer Organtransplantation kommen kann, zwei völlig unabhängige Ärzte, die auch nichts mit der Transplantation zu tun haben, den Hirntod diagnostizieren müssen. Meist diagnostizieren Anästhesisten, Neurologen oder Neurochirurgen den Hirntod. Wird der Hirntod festgestellt, dann laufen die lebensunterstützenden Maschinen bei dem Patienten, der Organspender ist, weiter, bis die Organe entnommen werden. Bei dem Patienten, der kein Organspender ist, diagnostiziert nur ein Arzt den Hirntod und danach werden die lebensunterstützenden Geräte sofort abgestellt. Das heißt, Organspender haben sogar mehr Sicherheit durch die doppelte unabhängige Expertendiagnose.

    Aber es gibt Ängste, der Hirntod ist doch noch nicht das Ende.

    Anthuber: Wenn man dem Laien so einen Untersuchungsprozess vorführen würde, bei dem der Hirntod diagnostiziert wird, könnte er nachvollziehen, dass der Mensch verstorben ist. Denn dazu gibt es eine ganze Reihe von klinischen Tests, die deutlich machen, dass dieser Mensch verstorben ist.

    Sommer: Ich sage immer: Dass ein Mensch tot ist, kann hundertprozentig sicher festgestellt werden. Daran lässt sich dann leider nichts mehr ändern. Entscheiden können wir aber noch, ob die Organe des toten Menschen einem anderen das Weiterleben ermöglichen.

    Es fehlt also an Informationen.

    Anthuber: Ja natürlich! Daher plädiere ich auch dafür, dass die Aufklärung über die Organspende fest in den Schulunterricht etwa in Biologie oder Ethik verankert werden muss. Alle Jugendlichen ab einem Alter von 16 Jahren müssen darüber informiert werden. Dann wird Organspende auch verstanden und zum Normalfall. Und zum Normalfall muss sie werden. Schließlich sprechen sich auch über 80 Prozent der Bürger bei Umfragen für eine Organspende aus.

    Sommer: Es ist traurig zu beobachten, dass beispielsweise bei einem handwerklichen Problem doch auch dem Fachmann vertraut wird. Aber bei der Diagnose des Hirntods glauben offenbar viele irgendeiner Information aus dem Internet mehr als einem Facharzt, der mit seiner medizinischen Expertise doch vor allem eines will: Menschenleben retten.

    Dr. Florian Sommer ist Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsklinikums Augsburg.
    Dr. Florian Sommer ist Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsklinikums Augsburg. Foto: Peter Fastl

    Anthuber: Und warum bitte sollte ein Arzt überhaupt einen Menschen zu Tode bringen, um einen anderen am Leben zu erhalten – das macht doch gar keinen Sinn!

    Wie sehr spüren Sie hier in Augsburg, wo Sie sich auf die Transplantation von Nieren spezialisiert haben, den Rückgang der Organspender?

    Anthuber: Wir spüren das sehr: Es warten immer mehr schwer kranke Menschen auf eine Niere, und vor allem warten sie immer länger. Aktuell liegt die Wartezeit bei uns zwischen acht und zehn Jahren.

    Sommer: Diese Wartezeit ist überhaupt nur möglich, weil an der Niere erkrankte Menschen über die Dialyse, anders als bei anderen lebenswichtigen Organen, am Leben erhalten werden können – allerdings oft mit massiven Einschränkungen der Lebensqualität.

    Bei der Niere gibt es auch Lebendspenden. Wie verbreitet sind sie?

    Anthuber: Medizinisch möglich ist auch die Übertragung eines Teils der Leber, der Lunge, der Bauchspeicheldrüse. Und bei uns im Haus ist die Lebendnierenspende die Exit-Strategie, der Ausweg also, weil eben nicht genügend postmortale Organspenden vorhanden sind. Wir fragen diesen Punkt immer ab, das ist verpflichtend. Und die Zahl der Lebendspenden nimmt zu. Das ist auch eine Folge des medizinischen Fortschritts: So müssen heute beispielsweise Spender und Empfänger nicht mehr die gleiche Blutgruppe haben. Der Anteil der Lebendspenden in unserem Haus macht etwa 20 bis 25 Prozent aus. Allerdings muss man auch hier dazusagen: in anderen Ländern, etwa in den USA oder in den skandinavischen Ländern, ist dieser Anteil wesentlich höher.

    Was gibt es hier für Gründe?

    Anthuber: Schwer zu sagen, meines Erachtens ist es eine Mentalitätssache: In den USA habe ich beobachtet, dass einfach mehr Menschen bereit sind, dieses Risiko für einen anderen einzugehen.

    Sommer: Wobei wir mittlerweile wissen, dass für die Spender im Hinblick auf deren Lebenserwartung und Lebensqualität keine Einschränkungen vorliegen. Es müssen ja auch viele Voraussetzungen stimmen, damit dieser Schritt überhaupt infrage kommt. Der Spender muss beispielsweise wirklich ganz gesund sein. Unterschätzen darf man aber auch nicht die psychische Belastung, die mit so einer Frage in Familien oder in Beziehungen kommt, die ist oft enorm.

    Was meinen Sie, wie geht es weiter: kommt noch mal ein Anlauf für eine Widerspruchslösung?

    Anthuber: Bundesgesundheitsminister Lauterbach hatte zum Jahresanfang einen nochmaligen Vorstoß im Bundestag angekündigt. Und wir wissen, dass Bayerns Gesundheitsminister, Herr Holetschek, ganz klar für eine Widerspruchslösung ist. Er hat gemeint, man könne das Thema vielleicht über eine Initiative im Bundesrat noch einmal auf die politische Agenda bringen, das wäre natürlich sehr gut, denn wir brauchen noch einmal einen politischen Anlauf für die Widerspruchslösung. Ich finde, wir müssen als Land hier eine Verpflichtung spüren, dass wir wie die Länder um uns herum auch die Widerspruchslösung einführen. Denn wir sind das Land, das am meisten davon profitiert, dass in anderen Ländern eine Widerspruchslösung existiert. Denn wir importieren aus diesen Ländern Organe.

    Sommer: Eigentlich ist es doch so: Wenn man die Widerspruchslösung nicht akzeptiert, dann müsste man konsequenterweise auch die Organe, die im Verbund von Eurotransplant mithilfe der Widerspruchsregelung aus anderen Ländern eingebracht werden, nicht akzeptieren.

    Das würde aber heißen, dass noch mehr Menschen hierzulande sterben müssen, weil es noch weniger Organe geben würde, oder?

    Anthuber: Ja, aber das wäre konsequent.

    Sommer: Hinzu kommt: Dieser Verbund Eurotransplant basiert auf einem Austausch. Und dieser Austausch ist aus medizinischer Sicht sehr wichtig, da es auch nur so gelingen kann, dass Spenderorgane und Empfänger immer besser zusammenpassen, was wiederum die Überlebenschance und die Lebensqualität der transplantierten Patientinnen und Patienten deutlich erhöht.

    Zu den Personen: Prof. Dr. Matthias Anthuber, 64, ist der Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Uniklinikum Augsburg. Dr. Florian Sommer, 47, ist Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie des Uniklinikums Augsburg. 

    Organspendelauf: Laufen für die, die es am nötigsten haben – mit dieser Botschaft wirbt der Organspendelauf jetzt wieder für Teilnehmende. Der Präsenzlauf findet am 25. April in München statt. Doch man kann mithilfe einer Lauf-App auch in virtueller Form daran teilnehmen. Das Ziel ist klar: Das Thema Organspende ins Bewusstsein von mehr Menschen zu bringen und sie zu motivieren, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der „Corza Medical Organspendelauf“, so der vollständige Name, ist eine Initiative der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und findet heuer zum zwölften Mal statt. Weitere Informationen online unter www.organspendelauf.de; wer sich für einen Organspendeausweis interessiert, findet ihn und viele Informationen unter www.organspende-info.de 

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