Der bayerischen Schule wird ein epochaler Wandel verordnet: Mit einer amtlichen Verlautbarung aus dem Kultusministerium werden pädagogische Fakten geschaffen, die Handlungsspielräume von Lehrkräften eingeschränkt und „Digitalität“ als Heilsbringer beschworen. Die Rede ist von der finanziell bezuschussten, flächendeckenden 1:1-Ausstattung der Schüler ab Klasse 5 mit mobilen Endgeräten.
Rückblickend war es eine politisch gesetzte Entscheidung, die aber von der empirischen Bildungsforschung nicht gedeckt ist: Eine 1:1-Ausstattung der Schüler bringt kaum positive Effekte auf die Lernleistungen, erhöht dafür das Ablenkungspotenzial. Zudem wird die Wirtschaftlichkeit solcher Technologie-Offensiven infrage gestellt. Der Bundesrechnungshof forderte gar, den Digitalpakt einzustellen, in dem Bund und Länder sich eine umfassende Ausstattung der Schulen mit digitaler Infrastruktur zum Ziel gesetzt haben. Andere Länder weltweit, Dänemark etwa, verbannen bereits digitale Endgeräte aus den Klassenzimmern. All diesen Warnungen zum Trotz wird in Bayern bildungspolitisch Kurs gehalten.
Aus der im Amtsblatt genannten Zielsetzung, „die Bildungs- und Chancengerechtigkeit zu erhöhen sowie die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden zu unterstützen“, folgt aus empirischer Sicht nicht, allen Schülern ein mobiles Endgerät zu geben. Die internationale Schulstudie ICILS belegt, dass sich in Deutschland kein Unterschied zwischen Achtklässlern aus bildungsfernen und bildungsnahen Familien hinsichtlich der Verfügbarkeit von digitalen Medien zeigt. Entscheidend ist die Frage der sinnvollen Nutzung – und diese entsteht nicht durch das Aushändigen von Technik. Geradezu zynisch ist es, Persönlichkeitsentwicklung mit digitalen Endgeräten steuern zu wollen. Dass (a)soziale Medien wie Tiktok und Co. der Entwicklung von Kindern schaden, ist mittlerweile unbestritten. In einer Welt, die immer mehr von digitalen Zeiten dominiert wird und in der gerade Jugendliche bis zu acht Stunden täglich vor Bildschirmen sitzen, sind Primärerfahrungen und Beziehungen zwischen Schülern und Lehrkräften wichtiger denn je.
Abschaffung des pädagogischen Freiraums der Lehrkräfte
In der Schule geht es um Menschen – was soll eine „digitale“ Schule sein? Das Amtsblatt gibt hierzu keine Auskunft: „Potenziale des digital gestützten Lernens“ ist eine Leerformel; das Ziel einer „Verbindung formaler und informeller Lernkontexte durch schulische und private Nutzung“ ist substanzlos; die „Steigerung der Motivation und Lernfreude sowie Aktivierung der Lernenden“ durch digitale Medien ist empirisch widerlegt.
Bedenklich ist die Abschaffung des pädagogischen Freiraums der Lehrkräfte. Bisher heißt es in Paragraf 2 der Bayerischen Lehrerdienstordnung: „Die Lehrkraft trägt (…) die unmittelbare pädagogische Verantwortung für die Erziehung und den Unterricht ihrer Schülerinnen und Schüler.“ Nun soll die Didaktik ganz auf Digitalisierung ausgerichtet werden. Unterrichtstechnologischer Zentralismus statt pädagogischer Freiraum – ein Paradigmenwechsel im Berufsethos der Lehrkräfte.
Mit dieser Weichenstellung ist Schulentwicklung kein pädagogischer Prozess mehr, sondern ein Feigenblatt für die Anbiederung an den ökonomischen Zeitgeist. Bildungspolitik macht sich zum Handlanger der Wirtschaft, wenn milliardenschwere Investitionen mit gigantischer Umweltbelastung und enormem Energiehunger in die Schulen gelangen. Hinzu kommt, dass Eltern und Schüler gezwungen werden, sich diesen Vorgaben zu beugen. Wer ein Buch lesen und in einem Heft schreiben will, wird zum Außenseiter – trotz der eindeutigen Datenlage, dass beides in der Schule analog besser klappt als digital.
Diese Einwände gegen die bildungspolitischen Maßnahmen verstehen sich nicht als Digitalapokalypse. Die Lebenswelt ist von digitalen Medien bestimmt und Schule muss sich dazu auch verhalten. Aber Schule darf nicht dem Diktat der Technik und Ökonomie folgen. Nicht nur Wissen und Können ist zu vermitteln, sondern auch und vor allem Herz und Charakter sind zu bilden. Somit geht es vor allem um Werte. In Artikel 131 der Bayerischen Verfassung ist das Gesagte als Bildungsauftrag grundgelegt. Mit der Digitaloffensive wird der Blick nur noch auf Medien gelenkt und eine Tendenz fortgeführt, die seit Jahren anhält: Inhalte werden ausgeblendet.
Will Bildungspolitik die nachwachsende Generation für die Zukunft vorbereiten, so ist sie gut beraten, die gegenwärtigen Probleme zu lösen, die z. B. PISA offenlegte. Geräte haben Kinder mehr als genug. Sie brauchen aber mehr Menschen, die sich ihnen zuwenden, ihnen etwas beibringen, sie anleiten und ermutigen, sie an Grenzen führen. Schule kann nicht digital sein, vielmehr muss sie human sein. Dafür braucht es aber keine politisch initiierte 1:1-Ausstattung der Schüler, sondern allem voran qualifizierte Lehrkräfte, die mit pädagogischer Vernunft einen guten Unterricht geben, der je nach Ziel digitale oder analoge Medien aufgreift, aber immer persönlich, kritisch, reflektiert, demokratisch ist.
Zur Person: Klaus Zierer, 48, ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Buchautor. Mit seinem Mitarbeiter Thomas Gottfried analysiert er die bayerischen Digitalpläne.