Von Wissenschaft und Politik gelobt, bei Atomgegnern von Anfang an umstritten: Vor 20 Jahren, am 2. März 2004, ging in Garching bei München der Forschungsreaktor FRM II ans Netz - als eine der wichtigsten Neutronenquellen Europas für Forschung, Medizin und Industrie. Der Reaktor war am 2. März 2004 angefahren. Seit vier Jahren steht er durchgehend still. Vor dem nächsten Jahr wird nicht mit dem Wiederanfahren gerechnet. Ob das mit dem bisherigen Brennstoff - nämlich hoch angereichertem Uran - zulässig ist, wird im Sommer den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) beschäftigen.
"Der FRM II bietet ein einzigartiges Potenzial für die Deutsche Wissenschaft", sagte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am Freitag. "Wir wollen deswegen gern konstruktiv daran mitwirken, dass durch ein baldmögliches Wiederanfahren des Forschungsreaktors und mittelfristig die Umrüstung auf niedrig angereicherte Brennstoffe wieder Neutronenforschung in Deutschland ermöglicht wird."
Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) würdigte die Anlage trotz des Stillstands als "Symbol für Bayern als Wissenschaftsstandort von Weltrang". Die Forschung mit Neutronen liefere zentrale Erkenntnisse für existenzielle Zukunftsfragen. Staatsminister Florian Herrmann (CSU) sprach von einer "Ikone für Wissenschaft und Forschung". Thomas Hofmann, Präsident der Technischen Universität München (TUM) als Betreiberin, sagte, die Forschung am FRM II - laut Hofmann die leistungsfähigste Neutronenquelle der Welt - sei wichtig für die Entwicklung zukunftsfähiger Technologieinnovationen. Unter anderem soll an hitzebeständigen Materialien für die Wände eines künftigen Fusionsreaktors geforscht werden.
Der Bund Naturschutz (BN) in Bayern hatte im Mai 2020 beim VGH Klage gegen den Betrieb mit auf bis zu 93 Prozent angereicherten Uran eingereicht. Als Termin für die mündliche Verhandlung ist nun - vier Jahre später - der 17. Juni angesetzt, wie ein Gerichtssprecher der Deutschen Presse-Agentur sagte. Beklagt ist der Freistaat. Das Umweltministerium ist als Aufsichtsbehörde für die Genehmigung des Betriebs zuständig.
Zwar ist ein neuer Brennstoff mit auf unter 20 Prozent angereichertem Uran in Arbeit - doch bis er eingesetzt werden kann, werden Jahre vergehen. Die Naturschützer halten den Betrieb der Anlage spätestens seit Ende 2018 für illegal und sprechen von waffenfähigem Material. Allerdings stand der FRM II seitdem fast permanent still. Zwischen März 2019 und Januar 2020 fehlten Brennelemente, im März 2020 wurde er wegen der Corona-Pandemie heruntergefahren - und seitdem wegen diverser Reparaturen nicht neu gestartet. Das Gerichtsverfahren war zwischenzeitlich nicht weiterbetrieben worden, da der Reaktor ohnehin nicht am Netz war. Anlass für die Festsetzung des Verhandlungstermins sei nun die Ankündigung der Betreiber des FRM II, den Reaktor wieder hochfahren zu wollen, sagte der VGH-Sprecher. Das Gericht beabsichtige, dann zeitnah über die Sache zu entscheiden.
Offen ist, was geschieht, wenn das Gericht tatsächlich der Argumentation der Naturschützer folgt. Derzeit werde daran gearbeitet, die Fertigung des niedrig angereicherten Brennstoffs zu entwickeln, sagte eine FRM II-Sprecherin auf Anfrage. Der Antrag für die Genehmigung der Umrüstung auf unter 20 Prozent angereichertem Uran müsse im nächsten Jahr gestellt werden. Bis zum Einsatz dürften Jahre vergehen.
Der Betrieb mit bis zu 93 Prozent angereichertem Uran war bis Ende 2010 genehmigt, dann sollte auf maximal 50 Prozent umgestellt werden. Auf Basis einer Vereinbarung wurde der FRM II mit hochangereichertem Uran bis Ende 2018 weiterbetrieben. Danach gab es eine weitere Vereinbarung von Freistaat und Bund, da laut FRM II weiter kein anderer genehmigter Brennstoff zur Verfügung stand. Nach Ansicht des BN reichte die Vereinbarung ab 2019 aber erneut nicht aus. "Wir gehen davon aus, dass der Betrieb schon 2011 seit Verstreichen der Umrüstungsbestimmung nicht mehr legal war", sagte der Anwalt des BN, Ulrich Wollenteit.
Die Neutronenquelle dient - sofern sie läuft - unter anderem der Medizin zur Herstellung von Radiopharmaka zur Krebsbehandlung und zur Forschung etwa an neuen Antibiotika. Außerdem wird die Quelle von der Industrie und verschiedensten Forschungszweigen genutzt, von den Materialwissenschaften, Quantentechnologien und Klimaforschung bis hin zur Archäologie. Per Neutronen-Tomografie wurden in der Vergangenheit Dino-Eier ebenso untersucht wie eine bronzene Figur des Gottes Merkur. Akkus für die E-Mobilität und Materialien für Solarzellen können getestet werden. Momentan allerdings müssen die Garchinger Wissenschaftler andere Neutronenquellen nutzen.
Mehrfach sollte der Reaktor wieder anfahren. Doch Revisionsarbeiten und Reparaturen zogen sich hin. Mitte Mai 2020 trat radioaktives C-14 aus, der Jahresgrenzwert des Nuklids wurde überschritten. Grund war ein Montagefehler bei einer Trocknungseinrichtung. Seit etwa einem Jahr arbeitet man nun darauf hin, einen neuen sogenannten Zentralkanal einzubauen. Dieses Rohr hält das Brennelement in Position und muss nach einer Leckage im Innern ausgetauscht werden; der Tausch wäre auch planmäßig nötig gewesen.
Nur: Die französische Firma, die das Originalteil 1999 hergestellt hatte, sah sich nicht mehr in der Lage, das Ersatzteil zu fertigen. Nun ist eine österreichische Firma beauftragt. Der angekündigte Termin zur Fertigstellung Ende 2023 wurde nicht gehalten. Ein Ersatzteil habe einer Prüfung nicht standgehalten. "Wir warten immer noch auf die Fertigung", sagte die FRM II-Sprecherin. Probleme bereiteten hier auch die Folgen des Atomausstiegs. Für die Firmen sei es nicht mehr lohnend, sich für Kerntechnik zertifizieren zu lassen.
Immerhin sind neue Brennelemente eingetroffen - mit dem hochangereichertem Brennstoff. Wenn der Reaktor tatsächlich wieder anfährt, kommt ein neues Problem auf die Betreiber zu: wohin mit den abgebrannten Elementen? Die Genehmigungen zum Transport nach Ahaus und zur Aufbewahrung dort stehen weiter aus. 47 Elemente lagern im Abklingbecken in Garching, Platz ist für 50. Pro Jahr werden im Schnitt drei Elemente abgebrannt. Sollte der Reaktor also mit dem bisherigen Brennstoff wieder anfahren dürfen, müsste spätestens nach einem Jahr der erste Transport nach Ahaus rollen.
(Von Sabine Dobel, dpa)