Angriffe auf Politiker: "Plakatiert wird nicht mehr allein"
Körperliche und verbale Angriffe, zerstörte Plakate: Kurz vor der Europawahl ist der Ton rau geworden. Wie Politikerinnen und Politiker aus der Region damit umgehen.
Der Mann, der aus dem gleißenden Sonnenlicht in den Schatten des Pavillons tritt, macht keinen Hehl daraus, dass er mit den Grünen nichts anfangen kann. "Dass die Wirtschaft in Deutschland darniederliegt, das liegt daran, dass Habeck nicht Prozentrechnen kann", sagt er. Hinter ihm drängen sich an diesem Maivormittag Passanten durch die Augsburger Annastraße, neben ihm drehen sich kleine Windräder – Werbematerial am Infostand der Grünen, mit denen der Mann, weißes T-Shirt, Jeans, leicht ergrautes Haar, diskutieren will. Dass die Rechenfähigkeiten des deutschen Wirtschaftsministers infrage gestellt werden, zählt an diesem Tag zu den harmlosen Kommentaren. Eine knappe halbe Stunde zuvor hatte ein Mann die Grünen, die hier Info-Material zur Europawahl in zwei Wochen anbieten, als Kriegstreiber beschimpft. Mittlerweile Alltag für die Partei.
"In letzter Zeit gab es einige Anfeindungen", sagt Joachim Sommer vom Augsburger Stadtverband der Grünen, der Flyer verteilt und Fragen beantwortet. Er trägt eine dunkle Sweatjacke – aus Vorsicht. "Meine Verlobte macht sich mittlerweile Sorgen, wenn ich mit einem grünen T-Shirt unterwegs bin", sagt Sommer. Nicht die einzige Reaktion auf die vielen Beschimpfungen. "Plakatiert wird nicht mehr allein, auch beim Haustürwahlkampf sind wir nicht allein unterwegs." Wie roh die Sitten geworden sind, zeigt ein Vorfall vor Kurzem im Augsburger Bismarckviertel. Ein Mitglied der Partei sei von einem Radfahrer absichtlich angefahren worden, die Grünen habe er als "Drecksäue" beschimpft, erzählt Sommer. "Zum Glück sind dann mehrere Passanten eingeschritten." Zu den Anfeindungen kämen die Zerstörungen. "Die letzten Plakate, die wir aufgehängt haben, haben nicht mal acht Stunden gehalten."
Zahl der Straftaten gegen Politiker auf hohem Niveau
Nach einigen Angriffen auf Politiker, etwa SPD-Mann Matthias Ecke in Dresden, ist das Thema massiv in den Fokus gerückt. Es geht freilich nicht nur um körperliche Angriffe, sondern auch um verbale Attacken, Beleidigungen, Drohungen. In Bayern ist die Zahl der Straf- und Gewalttaten gegen Politikerinnen und Politiker im vergangenen Jahr auf einem hohen Niveau geblieben – zigfach höher als in der Vor-Corona-Zeit. Insgesamt 1013 Straftaten gegen politische Amts- und Mandatsträger wurden 2023 im Freistaat gezählt, wie aus der Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Landtags-Grünen hervorgeht. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 waren lediglich 245 Straftaten gegen politische Amts- und Mandatsträger gezählt worden.
Beispiele gibt es zuhauf: Erst am Donnerstag vergangener Woche wurde ein Mann in Halblech im Ostallgäu beim Aufhängen von Wahlplakaten massiv beschimpft. Zwei Männer sollen den 79-Jährigen so derbe beleidigt haben, dass er mit seinem Auto flüchtete. Am selben Tag wurden der Polizei in Oberbayern binnen zwanzig Minuten drei brennende Wahlplakate gemeldet. Bei den Plakaten handelte es sich einem Polizeisprecher zufolge um Plakate der SPD, CSU und der Grünen.
Am Augsburger Königsplatz, ein paar Minuten vom Stand der Grünen entfernt, taumeln hellblaue Luftballons im Frühlingswind. Straßenbahnen rattern vorbei, ein Brunnen plätschert, im Café gegenüber sitzen Menschen in der Sonne. Bisher geht es am Infostand der AfD recht ruhig zu, Kinder holen sich Luftballons, die Erwachsenen Flyer und Bierdeckel mit Parteilogo. Raimond Scheirich, Stadtratsfraktionsvorsitzender und Chef des Kreisverbandes, ist eben eingetroffen und bereit zu erzählen, wie die AfD mit Anfeindungen umgeht. "Wir kriegen die ganze Zeit Anfeindungen, schon seit Jahren", sagt Scheirich – nicht ohne hinterherzuschieben, dass er deshalb die aktuelle Debatte "scheinheilig" finde. Besonders schlimm sei es kurz vor der Landtagswahl 2018 gewesen, "weil da einige Kampagnen gegen uns gefahren wurden". Auch vor der letzten Landtagswahl gab es Vorfälle – Scheirich musste das am eigenen Leib erfahren. "Mein Haus und mein Auto wurden mit Farbe beschmiert." Es habe auch schon Angriffe auf Parteimitglieder gegeben, die Wahlplakate aufhängten. "Vor einigen Jahren wurden welche mit einer Steinschleuder beschossen", sagt Scheirich.
Auch die CSU, die in Bayern einen deutlichen Heimvorteil genießt, ist nicht vor Anfeindungen gefeit. Corinna Heiss kandidiert für den CSU-Kreisverband Neu-Ulm bei der Europawahl. Zwar empfinde sie die Stimmung ihr gegenüber als "weitgehend positiv", bei persönlichen Begegnungen sei es aber vereinzelt schon zu Auseinandersetzungen gekommen. Körperliche Gewalt oder schlimme Beleidigungen hat die Lehrerin aus Illertissen noch nicht erlebt. Einen Vorfall verbaler Natur gab es hingegen auf Facebook.
Nachdem sie sich dort kritisch über die Cannabis-Legalisierung geäußert hatte, schrieb sie ein User an, der sich dem demokratischen Diskurs zunächst sehr zugewandt zeigte. "Ich bin gerne bereit, auf sachlicher Ebene zu diskutieren", sagt Heiss. Allerdings sei der Mann dann doch persönlich geworden, habe der Gymnasiallehrerin für Biologie und Französisch vorgeworfen, noch nie richtig gearbeitet zu haben. "Er wurde sehr ausfallend und beleidigend", berichtet sie. "Dann habe ich ihn blockiert."
Politisch aktiv ist Corinna Heiss seit zwölf Jahren. Und sie bemerkt, dass der Ton rauer wird. Ihrer Meinung nach liegt das am Zustand der deutschen Wirtschaft: "Wenn die Leute unzufriedener werden, werden sie natürlich emotionaler." Dass sie dennoch überwiegend positive Erfahrungen macht, erklärt sich die Politikerin durch die Beliebtheit ihrer Partei: "Ich bin bei der CSU in Bayern. Ich weiß nicht, wie es woanders wäre."
Zurück bei den Grünen in der Augsburger Innenstadt. Der Mann, der mit Joachim Sommer über Habecks Fähigkeiten im Prozentrechnen sprechen wollte, verabschiedet sich, geht aus dem Schatten des Pavillons zurück auf die sonnengeflutete Annastraße. Sommer ist solchen Gesprächen gegenüber nicht abgeneigt. Er versuche, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, mit ihnen zu diskutieren. "Es reicht ja schon, wenn die Menschen ins Nachdenken kommen."
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