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Interview: „Etwa jeder zehnte Mensch mit HIV weiß noch nichts von seiner Infektion“

Interview

„Etwa jeder zehnte Mensch mit HIV weiß noch nichts von seiner Infektion“

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    Aktuell leben in Deutschland etwa 96.700 Menschen mit HIV. Die roten Aids-Schleifen sind ein Zeichen der Solidarität mit Betroffenen.
    Aktuell leben in Deutschland etwa 96.700 Menschen mit HIV. Die roten Aids-Schleifen sind ein Zeichen der Solidarität mit Betroffenen. Foto: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild, dpa (Archivbild)

    Über viele Jahre hat man nicht mehr groß über HIV diskutiert und Aids als Erkrankung der 80er-Jahre abgetan. Viele gingen davon aus, dass das Virus in Deutschland keine Rolle mehr spielt. Aktuelle Zahlen zeigen jedoch, dass die Infektionen steigen. Wurde die Situation unterschätzt?
    PROF. DR. CHRISTOPH SPINNER : HIV ist und bleibt unbehandelt eine lebensbedrohliche und als Ursache des erworbenen Immunschwäche-Syndroms Aids eine tödliche Erkrankung. Glücklicherweise erlaubt die moderne Medizin eine rechtzeitige Diagnose und eine sichere und effektive Therapie, sodass Menschen mit HIV heute eine normale Lebenserwartung haben können. Und ganz nebenbei verhindert die erfolgreiche antiretrovirale Therapie auch, dass Menschen mit HIV das Virus weitergeben können. Zum Glück hat Aids also seinen Schrecken verloren – harmlos ist HIV dennoch nicht. Leider wird auch in Deutschland nach wie vor mehr als jede dritte HIV-Infektion erst im Stadium eines fortgeschrittenen Immundefekts diagnostiziert, etwa jede fünfte Infektion erst nach Ausbruch der Erkrankung Aids.

    Warum ist das so? Hapert es bei der Prävention?
    SPINNER: : Gefährdet sind vor allem Männer, die Sex mit Männern haben, Drogengebrauchende, Sexarbeitende und heterosexuelle Menschen mit wechselnden Sexualpartnerinnen und Sexualpartnern. Offenbar erreichen wir in Deutschland Risikogruppen nicht gut genug für spezifische Präventionsmaßnahmen. Neben dem Kondom steht inzwischen etwa auch die vorbeugende Einnahme von HIV-Medikamenten als Prä-Expositionsprophylaxe zur Verfügung. Die größte Herausforderung in Deutschland bleibt jedoch die Diagnose: Etwa jeder zehnte Mensch mit HIV weiß nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts noch nichts von seiner Infektion.

    Wie entwickeln sich denn die Zahlen bei uns?
    SPINNER: Aktuell leben in Deutschland etwa 96.700 Menschen mit HIV. Nachdem die Neuinfektionsrate seit den 1980er Jahren von einst etwa 4000 auf zuletzt unter 2000 gesenkt werden konnte, berichtet das RKI für 2023 erstmals wieder von steigenden Neuinfektionsraten. Im vergangenen Jahr wurde eine Zunahme auf 2200 Neuinfektion pro Jahr berichtet.

    WAS PASSIERT BEI EINER INFEKTION MIT DEM HI-VIRUS IM KÖRPER?:
    SPINNER : Das HI-Virus infiziert vor allem Zellen des menschlichen Immunsystems, sogenannte T-Helferzellen. Diese werden zur Erkennung fremder Organismen wie Bakterien und Viren benötigt und spielen eine wesentliche Rolle bei der Immunantwort und Antikörperproduktion. Werden sie durch das HI-Virus zerstört, setzt ein Prozess ein, der nach und nach zu einem fortschreitenden Immundefekt führt. Unbehandelt führt dieser etwa fünf bis zehn Jahre nach Infektion zu Aids, dem erworbenen Immunschwächesyndrom. Der menschliche Körper kann sich dann kaum noch gegen gängige Umweltkeime wehren. Dann können selbst sonst harmlose Erreger lebensgefährliche Komplikationen auslösen.

    Wie werden Infizierte heute behandelt?
    SPINNER: Sofern die Diagnose der HIV-Infektion rechtzeitig erfolgt, erlaubt die moderne antivirale Therapie eine vollständige Erholung des Immunsystems Betroffener. Sie ist hocheffektiv, weil sie das HI-Virus vollständig an der Vermehrung hindert und die Viren so keinen Schaden mehr anrichten können. Da sich HI-Viren aber dauerhaft in menschlichen Zellen einnisten, ist bislang eine lebenslange Einnahme der antiviralen Therapie nötig. Das heißt leider auch, dass das Virus wiederkommt, wenn die Therapie beendet wird. Experten sprechen daher auch von einer sogenannten funktionellen Heilung.

    Welche Chancen bestehen noch nach Ausbruch der Aids-Erkrankung?
    SPINNER: Die moderne Therapie erlaubt selbst im Stadium Aids noch eine vollständige Wiederherstellung des Immunsystems. Allerdings treten im Stadium des fortgeschrittenen Immundefekts sehr viel häufiger Komplikationen auf. Dazu gehören neben Komplikationen durch Infektionserkrankungen auch häufiger Herzinfarkte, Schlaganfälle und Krebserkrankungen. Deshalb ist es entscheidend für Betroffene, dass die Diagnose HIV überhaupt gestellt wird, um die Ursache zu bekämpfen. Häufig dauert es zu lange, bis an die Möglichkeit HIV gedacht wird.  

    Was hat sich bei der Behandlung in den vergangenen Jahren getan?
    SPINNER: Die antivirale Therapie hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht. Heute können Betroffene einfach einmal täglich eine Tablette mit einer gut verträglichen Wirkstoff-Kombination einnehmen. Eine neue Therapie bietet sogar die Option einer Depotspritze, die nur alle acht Wochen injiziert werden muss. Das ist vor allem für Menschen sehr hilfreich, die Probleme mit der regelmäßigen Tabletteneinnahme oder Angst vor Entdeckung der Tabletten und dem damit verbundenen Stigma haben.

    Vor welchen Fragen steht die Forschung aktuell?
    SPINNER: Die größte Herausforderung ist neben dem Ziel einer dauerhaften Heilung von HIV die Entwicklung noch wirksamerer präventiver Ansätze. Eine neue Studie, die im Rahmen der 25. Welt-Aids-Konferenz in München präsentiert werden wird, zeigt die Option eines hundertprozentigen Schutzes vor HIV durch eine Präventionsspritze, die alle sechs Monate verabreicht wird. Das macht Hoffnung – auch wenn noch viel zu tun bleibt, bis diese Präventionsoption allen zur Verfügung stehen kann, die sie benötigen.

    Die größten Sorgen muss man sich um viele afrikanische Länder machen. In Südafrika ist jeder fünfte Erwachsene infiziert. Besteht die Gefahr, dass sich das Virus dort durch die massenhaften Ansteckungen verändert?
    SPINNER: Das größte Problem ist, dass nach wie vor etwa ein Viertel aller mit HIV lebenden Menschen keinen ausreichenden Zugang zur Therapie hat, bei Kindern ist es sogar nicht mal jedes Zweite. HIV ist unbehandelt tödlich und wir müssen einen Weg finden, wie wir auch Menschen mit weniger Ressourcen Zugang zur lebensrettenden Therapie ermöglichen können. Dabei macht mich weniger die Gefahr einer Veränderung des Virus in Afrika betroffen, sondern die Tatsache weiter steigender HIV-Neuinfektionsraten in Osteuropa, Asien und Afrika: Denn eigentlich hätten wir alles, was es braucht, um die Zahl der Neuinfektionen wirksam zu senken.

    Sie sprachen gerade von keinem ausreichenden Zugang zu Medikamenten. Gilt das auch für Deutschland?
    SPINNER: Für intensiv vorbehandelte Menschen mit deutlich weniger Therapie-Optionen braucht es weitere Forschung, um die Behandlung weiterzuentwickeln und neue Optionen zu schaffen. Vor diesem Hintergrund stimmt es mich sehr nachdenklich, dass Therapie-Optionen für intensiv vorbehandelte Menschen in Deutschland zuletzt durch die pharmazeutischen Unternehmer nicht mehr eingeführt wurden und wir allein in diesem Jahr mehrfach von relevanten Versorgungsproblemen mit HIV-Medikamenten und Antibiotika betroffen waren. Offenbar sind die ökonomischen Rahmenbedingungen nicht mehr so, dass sich die Arzneimittelversorgung in Deutschland für pharmazeutische Unternehmer lohnt. Hier muss die Politik dringend gegensteuern.

    Christoph Spinner ist HIV-Experte und Oberarzt am Universitätsklinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. 
    Christoph Spinner ist HIV-Experte und Oberarzt am Universitätsklinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.  Foto: Angelika Warmuth, dpa

    Zur Person: Christoph Spinner ist HIV-Experte und Oberarzt am Universitätsklinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.

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