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Erziehung: "Die Kita ist häufig nur noch Aufbewahrung"

Die Kita-Situation spitzt sich zu und das zu lasten von Kita-Personal, Eltern und Kinder.
Erziehung

"Die Kita ist häufig nur noch Aufbewahrung"

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    Alicia ist vier Jahre alt. Sie geht in Mering in die Kita am Kapellenberg. Gehen ist weit gefasst. Ihre Eltern fahren Alicia jeden morgen quer durch den Ort. Mit dem Auto sind es nur wenige Minuten. Zu Fuß wäre es eine halbe Stunde. Meistens ist es bereits die zweite Fahrt, die Hans Jung oder seine Frau dorthin machen. 30 Minuten vorher setzen sie den Sohn an der nahe der Kita gelegenen Schule ab. Alicia früher in die Kita zu bringen, funktioniert nicht. Seit Corona wurden die Buchungszeiten gestrafft. Die Kita ist überfüllt. Anfragen auf einen Kitaplatz in einer näheren Einrichtung wurden abgelehnt.

    Bayern fehlen 2023 rund 62.000 Kitaplätze.

    Umfrage der Bertelsmann Stiftungundefined

    Dass die Auswahl eines Kitaplatzes kein Wunschkonzert ist, das merken viele Eltern, wenn sie ihr Kind Monate im Voraus in einer Krippe oder in einem Kindergarten anmelden wollen. Die Sorgen drehen sich aber nicht allein darum, welche Kita es wird. Sondern ob es überhaupt einen Platz für das Kind gibt. Einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung zufolge erwartet man in Bayern, dass 2023 rund 62.000 Kinder keinen Kitaplatz bekommen werden. Dabei ist das Problem kein neues. 

    Bundesweit fehlen laut Deutschem Kitaverband jetzt schon über 100.000 Erzieherinnen und Erzieher. Die Auswirkungen sind bereits spürbar: Träger können den Familien nicht ausreichend Kitaplätze zur Verfügung stellen, Betreuungszeiten müssen gekürzt werden. Die Kita-Teams arbeiten an der Belastungsgrenze. 

    Mitarbeitern in Kitas fehlt die Zeit, ihren Job richtig zu machen.
    Mitarbeitern in Kitas fehlt die Zeit, ihren Job richtig zu machen. Foto: Sebastian Gollnow, dpa

    Eine Kinderpflegerin aus Augsburg, die sich auf unseren Aufruf gemeldet hat und anonym bleiben möchte, kümmert sich um Kinder im Krippenalter. "Für mich war das immer ein Traumjob", sagt die 45-Jährige. Ein Albtraum seien aber die Umstände, unter denen zurzeit gearbeitet wird. „Man hat gar keine Zeit, mit den Kindern zu spielen, ihnen die Erziehung zu geben, die sie verdienen“, sagt sie. Der Hauptgrund: Personalmangel. „Theoretisch kümmern wir uns zu dritt um vierzehn Kinder. Besser wären wir zu viert. In der Umsetzung sind wir aufgrund von Urlaub und Krankheitsfällen oft nur zu zweit.“ Da habe sie keine Zeit, sich individuell Kindern zu widmen. Eigene Bedürfnisse werden hintangestellt. „Manchmal reicht die Zeit nicht mal für einen Schluck Wasser oder auf die Toilette zu gehen.“ Schließlich muss immer jemand die Kinder im Blick haben. Die psychische Belastung wandle sich bei vielen auch in physische Belastung um. Krankheitsfälle würden mit der Arbeitsbelastung ansteigen.

    Kinderpflegerin aus Augsburg macht nebenbei noch einen Minijob

    „Es gibt Eltern, die geben ihr Kind morgens um 7 Uhr ab und kommen erst gegen 17 Uhr wieder, in manchen Einrichtungen noch länger.“ Die Kinderpflegerin will sich nicht beschweren, schließlich liebe sie die Arbeit mit den Kleinkindern. Es sei eine Berufung. Doch sollten Eltern eben auch akzeptieren, wenn es mal nicht geht. „Es ist schon ein Witz unter uns, dass Eltern dann sagen, zu Hause sei das Kind noch ganz gesund gewesen und hätte keine Symptome gehabt. Die Kita ist häufig nur noch Aufbewahrung.“

    Und die Bezahlung? Eine ausgebildete Erzieherin verdient rund 3000 Euro brutto pro Monat. Eine Kinderpflegerin durchschnittlich 2500 Euro. Die Kinderpflegerin arbeitet nebenbei noch in einem Minijob. „Anders kann man sich gerade jetzt nichts mehr leisten.“ Am Gehalt könne man auch erkennen, wie der Beruf anerkannt ist. „Wieso ist mein Job, in dem ich mich um Kinder, um unsere Zukunft kümmere und Verantwortung für Leben trage, weniger wert als ein Bankangestellter zum Beispiel.“ Dass immer weniger Menschen die Ausbildung machen, wundere sie nicht.

    Kitas und Personal jetzt schon an der Grenze
    Kitas und Personal jetzt schon an der Grenze Foto: Marijan Murat, dpa

    Andere Erzieher und Erzieherinnen aus Bayern haben sich ebenfalls mit ihren Sorgen und Gedanken an die Augsburger Allgemeinegewandt. Es gibt Personal, das finanzielle Nöte in den Einrichtungen nicht mit den Trägern lösen kann. Eine Erzieherin schreibt: "Um meine Gruppe einigermaßen annehmbar am Laufen zu halten, investiere ich vieles aus eigener Tasche oder bitte Eltern um Hilfe." Fälle, in denen das Personal seine Gesundheit hintanstellt, sind ebenfalls kein Einzelfall. „Es muss gehen, da ja sonst keiner mehr in der Gruppe ist.“ Wählerisch könne man als Leitung nicht sein. "Habe ich früher Leute mit einem Durchschnitt von mindestens einer Zwei eingestellt, bin ich heute gezwungen, Leute mit einem Dreier- oder Viererschnitt zu nehmen. Das Stammpersonal muss schlechte Kolleginnen mittragen, da diese ihre Arbeit nicht ordentlich machen oder im pädagogischen Bereich nicht tragbar sind." 

    "Ausgebrannt und enttäuscht."

    Erzieherin aus dem Augsburger Umlandundefined

    Ein Lösungsansatz aus Sicht der bayerischen Sozialministerin Ulrike Scharf ist, die tägliche Arbeitszeit des Kitapersonals zu erhöhen. "Undenkbar", sagt Gerd Schnellinger, der stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Schilderungen wie die des Kitapersonals aus Augsburg und Region seien keine Einzelfälle. Die jahrelang verfehlte Sozial- und Bildungspolitik dürfe nicht weiter auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. 

    Sozialministerium: "Alle Beteiligten sind gefragt."

    Eine Pressesprecherin des Sozialministeriums erklärt, dass es unterschiedliche Ansätze vonseiten der Staatsregierung gäbe. Man wolle zuerst einmal die Ausbildung an sich attraktiver machen. Anstatt in fünf Jahren kann man bereits in vier die Ausbildung zur Erzieherin abschließen. Die Zahl der Beschäftigten in den Kitas sei in den vergangenen zehn Jahren von rund 64.000 auf über 110.000 um rund 73 Prozent gestiegen. Allerdings ist auch die Anzahl an zu betreuenden Kindern gewachsen. Besonders im Krippen- und Grundschulalter. 

    Im Beruf will das Ministerium mehr Personen die Tätigkeit in Kindertageseinrichtungen ermöglichen und ein modulares, durchlässiges und aufeinander aufbauendes System schaffen. Bereits beschlossen ist die Experimentierklausel. So soll das ausgebildete Kitapersonal entlastet werden. Das heißt, während Fremdpersonal die Arbeiten übernimmt, die nichts mit der Erziehung zu tun haben, sollen Pädagogen sich um die Bildung kümmern. Laut Bayerischem Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz fällt darunter unter anderem die Entwicklung von freiheitlich-demokratischen und sozialen Werthaltungen. Eine mathematische und naturwissenschaftliche Bildung, eine kreative und kulturelle Erziehung und weitere pädagogische Anforderungen in Form von Paragrafen. 

    "Eine Ausbildung zum Erzieher, zur Erzieherin dauert fünf Jahre", sagt Schnellinger. Nach Regelstudienzeit schafft man in der gleichen Zeit einen Bachelor und einen Master. Da könnte man vom Gehalt her doch ähnlich ansetzen. Auch das Ministerium räumt ein, dass Kitapersonal angemessener bezahlt werden müsse. Allerdings läge das Gehalt in den Händen der Träger. "Eine angemessene Vergütung, unbefristete Arbeitsverträge, Arbeitszeitpläne, die genug Zeit für mittelbare Arbeit beinhalten und viele weitere Rahmenbedingungen liegen in deren Händen", so die Pressestelle des Sozialministeriums.

    Arbeit und Kind: doch nur Wunschdenken?

    In der Theorie hat jedes Kind ab dem vollendeten ersten Lebensjahr rechtlichen Anspruch auf einen Kitaplatz. Mindestens drei Monate im Voraus müssen die Eltern die Gemeinde oder die Träger in Kenntnis setzen. Dass man für das Jahr dann einen Platz bekommt, ist nicht sicher. Judit Majtenyi aus Königsbrunn wollte ihren fast zweijährigen Sohn ab September 2022 in der Kita anmelden. Die Fristen hat die 38-Jährige eingehalten. "Ich habe mich ehrlich gesagt darauf verlassen." 

    Darauf verlassen, dass sie ab diesem Jahr eine duale Ausbildung zur Erzieherin machen kann. Daraus wurde dann schließlich nichts. "Ich wollte schon immer mit Kindern arbeiten, die Praxisstelle hatte ich bereits." Jetzt müssen die Pläne erst einmal hintangestellt werden. Zeitlich schafft sie es gerade, nur einen abendlichen Minijob zu machen und einen Teil zum Haushaltseinkommen beizusteuern. Finanziell reicht es, um ein bisschen Geld zur Seite zu legen. Mit ihrer Tochter sei das alles noch einfacher und unkomplizierter gelaufen, sagt Majtenyi. 

    "Ich hab mich ehrlich gesagt darauf verlassen."

    judit Majtenyi - Ihr Sohn steht auf einer kita-Wartelisteundefined

    Zurück bei Familie Jung aus Mering, hat man ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Söhne, die jetzt schon im Schulalter sind, wurden problemlos in der Kita untergebracht. Die Kita zu dem Zeitpunkt noch nicht überfüllt, das Personal nicht unterbesetzt und das Problem mit den unterschiedlichen Zeiten gab es auch noch nicht. "Ich kann die Kinder nicht mehr gleichzeitig zur Schule und in die Kita bringen", sagt Hans Jung. Während der Sohn um 8 Uhr in der Schule sein muss, kann die Tochter erst um 8.30 Uhr in die Kita. "Ein vierjähriges Kind allein warten lassen, das geht nicht", sagt Jung. "So ist es eigentlich jeden Tag eine Tragödie. Meine Frau und ich arbeiten beide und man muss sich entscheiden, wer die Kinder hinbringt." 

    Das Ganze koste sie nur Zeit, Sprit und sei auch noch schlecht für die Umwelt. Einen Platz in der 250 Meter entfernten Kita bekommen sie nicht. Mittlerweile hätten neu zugezogene Familien eine höhere Zusage-Rate. "Denen wird ein Platz versprochen, während Bestandskinder benachteiligt werden." Gleichzeitig sei den Eltern aber auch bewusst, dass aufgrund des Personalmangels und der schlechten Bezahlung viele Erzieherinnen und Erzieher kündigen. "Was dazu führt, dass die Kinder häufig gar keine feste Bezugsperson in den Kitas haben", sagt Jung. Eine Beschreibung der Situation, die man sowohl von der Gewerkschaft, von Eltern, Erziehern und Trägern hört: Es ist ein Teufelskreis.

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