Die Psychologie kennt verschiedene Phasen der Trauer: Sie reichen vom Nichtwahrhaben-Wollen über den Ausbruch von Emotionen wie Ohnmacht oder Wut bis hin zur Erkenntnis, dass es irgendwie weitergeht, ja weitergehen muss. Die evangelische und katholische Kirche in Deutschland scheinen sich bisweilen in allen Phasen gleichzeitig zu befinden – was das Thema Kirchenaustritte betrifft.
Die evangelische Kirche gab im Mai bekannt, dass 2023 gleichbleibend zum Vorjahr rund 380.000 Austritte registriert wurden. Die katholische Kirche teilte ihre Zahl an diesem Donnerstagmittag mit: Exakt 402.694 (2022: 522.821) kehrten ihr den Rücken. Es ist eine enorme Zahl. Doch anders als in den vergangenen Jahren wird sie kaum Schockwellen auslösen, und das wird nicht daran liegen, dass die Nachricht dank der Fußball-EM untergeht. Es ist eben keine Neuigkeit mehr, dass die Kirchen Mitglieder, Finanzmittel, Personal und Relevanz verlieren. Der "Ausnahmefall", als der ein Austrittsrekord nach dem anderen zunächst dargestellt wurde, ist längst zum Normalfall geworden. Es handelt sich um eine unumkehrbare Entwicklung. Mit der Folge, dass sich die "Sozialgestalt von Kirche" ändert, ja ändern muss.
Wesentlich stärker als bisher müssen die Kirchen den Weg zu den Menschen suchen
Das ist schlicht die Realität einer "Volkskirche" mit Auflösungserscheinungen. Und die Antwort darauf können nicht kleine und kleinste Gruppen sein, wie es (Erz-)Konservative propagieren: eine gesund geschrumpfte, fromme "Herde", aus der die Kirche wieder auferstehe. Das ist weder gegenwarts- noch zukunftstauglich noch unbedenklich, schließlich lässt sich die – potenzielle – Gefahr von Rückzug, Abschottung, "Versektung" und geistlichem Missbrauch nicht leugnen.
Was es braucht, ist das Gegenteil: Die Kirchen müssen in der Welt präsent sein. Wesentlich stärker als bisher müssen sie den Weg zu den Menschen suchen – wie kürzlich die Notfallseelsorger, die in die Hochwassergebiete gingen. Die Menschen jedenfalls kommen nicht mehr (selbstverständlich) zu den Kirchen. Deren Gestalt wird immer weniger die von Gottes- und Gemeindehäusern sein. Sie wird in Engagierten Gestalt annehmen, die sich für Mitglieder wie Nicht-Mitglieder auf vielfältigste Weise einsetzen und sich als aktiver Teil der Gesellschaft verstehen. Umso wichtiger ist es, dass die Kirchen alles dafür tun, jene Berührungspunkte zu erhalten, die sie zu Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern haben: Caritas, Diakonie, Schulen und Kitas, Seelsorge, Seelsorge, Seelsorge. Ansätze wie der der "Citypastoral" werden bedeutender. Dessen erklärtes Ziel ist es, Kirche auf die Straße zu bringen. Im gleichnamigen Buch zweier katholischer Theologen scheint eine Kirche auf, die "agil, beweglich, dynamisch und auf Höhe der Zeit" sein will – und kann.
Eine zunehmend polarisierte, krisengeschüttelte Gesellschaft ist auf Instanzen wie die Kirchen angewiesen
Aller Kritik an den Kirchen zum Trotz: Eine zunehmend polarisierte, krisengeschüttelte Gesellschaft ist auf Instanzen wie die Kirchen angewiesen. Welche Instanz kann denn überhaupt noch Orientierung bieten, vermitteln, moderieren, zur Mäßigung aufrufen oder die Einhaltung von Tabus anmahnen? Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fällt für viele hierbei aus – weil seine Reden blass bleiben und er unverändert als Parteipolitiker wahrgenommen wird, dessen Russlandpolitik etwa ihm nachhängt. Die Kirchen schleppen ihren eigenen Ballast mit sich und haben massiv Glaubwürdigkeit eingebüßt, das ist wahr. Aber sie stützen sich auf das Evangelium. Dessen Botschaften haben nichts an Relevanz verloren.
Im dieser Folge des Podcasts „Über Gott und die Welt“ sprechen der evangelische Regionalbischof Axel Piper und der katholische Bischof Bertram Meier über die Existenzberechtigung der Kirche.