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Die älteste Sozialsiedlung der Welt: Fuggerei: Leben im Denkmal

Die älteste Sozialsiedlung der Welt

Fuggerei: Leben im Denkmal

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    Fuggerei: Leben im Denkmal
    Fuggerei: Leben im Denkmal Foto: Ulrich Wagner

    Augsburg Das Bild hängt im Flur, zwischen Eingangstür und Badezimmer. Jeden Tag geht Hertha Schweier daran vorbei, tausende Male werden es mittlerweile schon gewesen sein.

    Oft fällt ihr der Kunstdruck dabei gar nicht mehr auf: der Mann mit den silbernen Augenbrauen, dem freundlichen Blick und den schmalen Lippen. Manchmal aber, wenn ihre Augen wieder an dem Gemalten hängen bleiben, spricht sie mit ihm. "Jakob, das hast Du sehr gut gemacht", sagt Hertha Schweier dann. Und muss ein bisschen über sich selbst lächeln. Das ist ihre Art, danke zu sagen.

    Jakob Fugger der Reiche, der Mann mit den silbernen Augenbrauen, wäre heuer 550 Jahre alt geworden. Augsburg, seine Heimatstadt, überschlägt sich deshalb in diesem Jahr mit Feierlichkeiten: Es gibt Festakte und Sonderausstellungen, Vorträge, Bücher und Filme. Das Gemälde, in dem Albrecht Dürer den reichen Kaufmann verewigte, taucht in diesem Jahr an den verschiedensten Ecken der Stadt auf.

    In den Wohnungen der Fuggereibewohner hängt es immer. Seit Oktober 2000 wohnt auch Hertha Schweier hinter den ockergelben Wänden der ältesten Sozialsiedlung der Welt: Fuggerei, Ochsengasse 54, Erdgeschoss. Eine Adresse wie ein Offenbarungseid: In der Fuggerei leben die Ärmsten der Armen, das war so, als Jakob Fugger die Siedlung 1521 stiftete, und das ist bis heute so.

    Eine eigene Stadtmauer trennt die 67 Häuser und die kleine Markuskirche vom Rest Augsburgs. Die Wohnungen sind zwischen 40 und 65 Quadratmeter groß, zwei pro Haus, eine oben, eine unten. Küche, Bad, Schlafzimmer und ein bis zwei Zimmer zum Leben, eingerichtet von den Bewohnern, vollgestellt mit Keramikfiguren, Plüschtieren oder Erinnerungsfotos.

    Die Miete ist seit dem Mittelalter gleich geblieben. Die Touristen werden von Jahr zu Jahr mehr. "88 Cent pro Jahr - da haben wir ja mehr Eintritt bezahlt", sagt Dirk Marquardt, mit Frau und Kindern macht der Duisburger eine Städtetour durch Augsburg und ist so auch in der Fuggerei gelandet. "88 Cent pro Jahr und drei Gebete am Tag", sagt Anna Trinkl, sie wohnt in der Mittleren Gasse, erster Stock. Ein Vater Unser, ein Glaubensbekenntnis, ein Ave Maria - "jeden Tag", sagt die 75-Jährige, das ist Ehrensache, dazu haben sich alle Fuggereibewohner verpflichtet.

    Von den Touristen steht nichts in dem Vertrag, doch auch darauf haben sie alle sich eingelassen: Jeden Tag, ob Sommer oder Winter, hunderttausende sind es im Jahr.

    Bayerische Schulklassen, norddeutsche Städtereisende, italienische Liebespaare oder japanische Hobbyfotografen begutachten die niedrigen Häuschen mit den grünen Fensterläden. Und sie bestaunen jeden, der eine Einkaufstüte durch die schmalen Gassen trägt oder gar eine Haustür aufschließt und sich so als Bewohner outet. Wer in der Fuggerei lebt, lebt im Denkmal.

    Anna Trinkl sagt, ihr mache das nichts aus: Im ersten Stock kann keiner so leicht durchs Fenster kucken. Hertha Schweier hat, wie die meisten anderen Erdgeschoss-Bewohner, dichte weiße Gardinen hinter die Fenster gezogen. "Manchmal fühlt man sich schon wie im Zoo", sagt sie. Die Blumen in ihrem kleinen Garten gießt sie deshalb am liebsten früh am Morgen oder spät am Abend. Wenn jemand zu neugierig fragt oder zu nah kommt mit seinem Fotoapparat, wehrt sie mit einem Witz ab: "Mögen Sie auch keine Paparazzi?", sagt sie dann mit einem Augenzwinkern, oder: "Eine Frage hat jeder gratis, aber ab der Zweiten kostet es."

    Das mit dem Geld ist sowieso so eine Sache in der Fuggerei. Wer dort lebt, hat keins. Wie es zum Einzug in die Siedlung kam, mag deshalb keiner gern erzählen. "Wir haben keine große Rente gehabt", sagt Hertha Schweier nur, sie ist ein fröhlicher Mensch, Geld oder kein Geld, hin oder her. In Haunstetten und Steppach habe sie zuvor mit ihrem Mann gewohnt, erzählt sie. Beim Umzug in die Fuggerei haben Verwandte und Freunde mitgeholfen - haben gleich am Anfang die Couch ins Wohnzimmer geschleppt, damit ihr Mann sich hinlegen konnte, weil der doch schon damals krank war und müde vom Leben.

    Heute lebt Hertha Schweier allein, wie die meisten in der Sozialsiedlung: 145 Menschen in 142 Wohnungen, Durchschnittsalter über 70, der Großteil Frauen.

    "Es sind schon viele Witwen hier", sagt Anna Trinkl. Auch ihr Mann ist vor einem guten Jahr gestorben, auch sie lebt seither allein in ihrer kleinen Wohnung. Auch deshalb ist sie froh, hier zu sein: Weil nachts die Pforte geschlossen wird, von 22 bis 5 Uhr darf die Siedlung nur betreten, wer sich als Bewohner ausweisen kann. Weil es Nachbarn gibt, die mal zu Kaffee oder Tee vorbeikommen. Menschen, die auch nicht gerne über Geld reden. Freunde, mit denen man sich bei gutem Wetter in den engen Gassen auf eine Bank setzen kann. Die Touristen beobachten, die sich durch die engen Gassen drängen. Und: der Fugger-Büste Gesellschaft leisten, die mit diesmal bronzebraunen Augenbrauen aber dem gewohnt freundlichen Blick das Treiben bewacht.

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