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Diagnose: 56 Jahre, mitten im Leben, plötzlich dement

Gesundheit

56 Jahre alt, mitten im Leben, plötzlich dement

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    Kerstin Boeltzig und ihr Mann Jens. Dass er den Arm um seine Frau legen soll, muss man ihm sagen. Er kann kaum noch Gefühle zeigen, denn er ist an Frontotemporaler Demenz erkrankt. Nächstes Jahr ist das Paar 30 Jahre verheiratet.
    Kerstin Boeltzig und ihr Mann Jens. Dass er den Arm um seine Frau legen soll, muss man ihm sagen. Er kann kaum noch Gefühle zeigen, denn er ist an Frontotemporaler Demenz erkrankt. Nächstes Jahr ist das Paar 30 Jahre verheiratet. Foto: Birgit Hofmann

    Sein Händedruck ist weich und flüchtig. Kurz fixiert Jens Boeltzig sein Gegenüber, doch sein Blick bleibt leer. Als seine Frau ihn begrüßt, zeigt er zunächst keine Regung, nur kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht, das sofort erstirbt. Seine Züge werden wieder ausdruckslos. Die Hände in den Taschen seiner Jacke versenkt, läuft er wie unbeteiligt neben seiner Frau durch den sonnigen Innenhof der Tagesstätte für Demenzkranke. Er spricht nur, wenn er angesprochen wird. Doch meist nur einen kurzen Satz. Dass er keine Gefühle mehr zeigt, seinen Namen nicht mehr schreiben kann, nicht mehr weiß, welcher Wochentag ist, dass man sich morgens wäscht und die Zähne putzt und es ihm nicht auffällt, wenn er die Nähte seiner Hose nach außen trägt, hat mit seiner Erkrankung zu tun. leidet an Frontotemporaler Demenz, einer sehr frühen Demenz-Form. Ursache unbekannt. Er ist 56 Jahre alt. 

    Er wirkte unkonzentriert, planlos, arbeitete nicht mehr akkurat

    Niemand denkt in diesem Alter an Demenz. Vor drei Jahren waren seiner Chefin die ersten Unregelmäßigkeiten aufgefallen: Der Stahlbautechniker wirkte unkonzentriert, lief planlos an seinem Arbeitsplatz umher, seine Schweißnähte waren nicht mehr akkurat, sondern plötzlich wackelig und verkleckst. Sie gab den Boeltzigs die Adresse einer Neurologin in Ulm, die sie kannte – so stand rasch fest, warum sich Jens Boeltzig so seltsam verhielt.

    Die Familie lebt in Jettingen-Scheppach, ein Ort mit 7000 Einwohnern zwischen Ulm und Augsburg. Ihr Haus haben sie 2015 gebaut. "Zum Glück war er damals noch gesund“, sagt Kerstin Boeltzig. Die zierliche Frau mit der randlosen Brille streicht über das Treppengeländer, das in den ersten Stock führt. Ihr Mann hat es noch selbst gebaut.

    Im Frontallappen seines Gehirns sterben Nervenzellen ab. "Dieser Bereich ist dafür verantwortlich, dass wir uns im persönlichen Kontakt und in sozialen Situationen richtig verhalten“, sagt die Psychologin Sarah Straub, die an der Uniklinik in Ulm die Spezialsprechstunde für Frontotemporale Demenz leitet. Die Betroffenen entwickeln Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen, während bei der Alzheimer-Demenz Gedächtnisprobleme im Vordergrund stehen. Dazu zählen Teilnahmslosigkeit, aber auch Reizbarkeit, fehlende Empathie, Taktlosigkeit und Enthemmung. "Manche Betroffene sprechen wildfremde Menschen an oder gehen in einen Laden und nehmen einfach was mit, ohne zu bezahlen“, sagt

    Fehlende Krankheitseinsicht ist typisch

    Die 37-Jährige behandelt auch Jens Boeltzig. Anfangs wusste er Pin-Nummern nicht mehr, begann Alkohol zu trinken. Auch das seien typische Symptome. "Er selbst hat die Veränderungen nicht so bemerkt und versuchte kleinzureden, was seine Frau erzählt hat“, erinnert sie sich. Auch die fehlende Krankheitseinsicht ist typisch.

    Die Psychologin Sarah Straub leitet an der Uni-Klinik in Ulm die Spezialsprechstunde für Frontotemporale Demenz.
    Die Psychologin Sarah Straub leitet an der Uni-Klinik in Ulm die Spezialsprechstunde für Frontotemporale Demenz. Foto: Peter Neher

    Ihre Patienten kommen aus Süddeutschland, aber auch aus dem gesamten Bundesgebiet, weil Ansprechpartner vor Ort fehlen. "Wir versuchen, diese komplexe Erkrankung wissenschaftlich zu erforschen“, sagt sie, "denn im Moment gibt es ebenso wie bei der Alzheimer-Demenz kein wirksames Medikament dagegen.

    Bei einer zweiten Variante der Frontotemporalen Demenz sterben Zellen im Schläfenlappen des Gehirns ab. Diese Patienten zeigen vor allem sprachliche Auffälligkeiten. "Das ist die Form der Demenz, die der US-Schauspieler Bruce Willis hat“, sagt die Psychologin. Er ist erst mit Ende 60 erkrankt, doch Sarah Straub ist sich sicher, dass die Krankheit bereits vorher ausgebrochen ist, aber nicht bemerkt wurde. "Die Krux ist, dass Menschen mit hohem Bildungsniveau teilweise über Jahre eine Fassade aufrechterhalten und verstecken können, dass sich etwas verändert.“

    Im Flur zwischen den Kinderzimmern im Haus der Boeltzigs liegen Windeln und Matratzenschoner neben den Gesellschaftsspielen im Regal, die sie früher zusammen mit ihren beiden Töchtern gespielt haben. Jens Boeltzig ist inkontinent. Seine Frau bringt ihn jeden Abend zu Bett, weckt ihn morgens um 6.30 Uhr und steht neben ihm, wenn er sich wäscht. Noch geht das, doch sie muss ihn an alles erinnern, ihm die Wäsche reichen, schauen, dass er seine Socken so anzieht, dass sie sitzen. Sie schläft inzwischen in einem der Kinderzimmer.

    Geldsorgen belasten sie noch zusätzlich

    Im Alltag ist die 56-Jährige auf sich allein gestellt und muss alles regeln: mit der Kranken- und Pflegekasse, dem Medizinischen Dienst, der Erwerbsunfähigkeitsrente. Hinzu kommen Geldsorgen, denn noch ist das Haus nicht abbezahlt. Im Moment ist die Steuerfachangestellte krankgeschrieben und auf Arbeitssuche. Die Sorge um ihren Mann zehrt an ihren Kräften. Sie muss ihn versorgen wie ein Kind. Wie schafft sie das alles? "Meine Töchter geben mir Kraft“, sagt sie mit Tränen in den Augen. "Am meisten vermisse ich, dass wir uns nicht mehr unterhalten können.“ Mit Wehmut denkt sie an die gemeinsamen Urlaube mit dem Motorrad und die Rockkonzerte, die sie besuchten. Einen Urlaub nach Island hatten sie noch geplant, doch dazu kam es nicht mehr. Nächstes Jahr sind sie 30 Jahre verheiratet.

    Kerstin Boeltzig muss Essen im Kühlschrank auch wegsperren, denn ihr schwer kranker Mann isst unkontrolliert.
    Kerstin Boeltzig muss Essen im Kühlschrank auch wegsperren, denn ihr schwer kranker Mann isst unkontrolliert. Foto: Birgit Hofmann

    Auf die Frage, wie alt seine Töchter seien, antwortet Jens Boeltzig: "Keine Ahnung.“ Für die 18- und die 24-Jährige war die Diagnose 2021 ein Schock. Als die Jüngere im vergangenen Jahr ihr Abitur mit einem Einserschnitt ablegte, verlor ihr Vater darüber kein Wort. Erst als seine Frau ihn darauf aufmerksam machte, sagte er: "Ich soll dir gratulieren.“ Mehr nicht. Die Namen der beiden sollen hier nicht stehen. Zu groß ist die Scham, von der Situation zu Hause zu erzählen.

    Melanie Liebsch kennt diese Gefühle. Sie war erst zehn Jahre alt, als im Jahr 2000 bei ihrem Vater die ersten Auffälligkeiten begannen. Doch es sollte 13 Jahre dauern, bis feststand, dass er an Frontotemporaler Demenz erkrankt war. "Er war physisch anwesend, aber nicht greifbar für mich“, sagt die 33-Jährige heute, die als Biolaborantin an der Uni Hohenheim arbeitet. Sie schämte sich für ihren Vater, über den eine Nachbarin erzählte, dass er am Bahndamm öffentlich urinierte. In der S-Bahn ließ er sich laut darüber aus, wie dick die Frau neben ihm sei. Manfred Liebsch war damals gerade 55 Jahre alt und arbeitete als Industriekaufmann bei einem Automobilzulieferer in der Nähe des Wohnorts der Familie im Remstal. "Er wollte am liebsten den ganzen Tag in Ruhe gelassen werden und nur noch rumsitzen“, erinnert sich die Tochter bei einem Gespräch am Telefon. Die Ärzte schoben die Verhaltensveränderungen zunächst auf die Darmkrebserkrankung ihres Vaters. Doch obwohl Operation und Bestrahlung erfolgreich verliefen, blieben seine Wesensveränderungen. Sie verstärkten sich sogar.

    Das Interesse an seiner Familie erlosch komplett

    "Reg mi net uf“, schleuderte er seiner Tochter entgegen, wenn sie fragte, ob er nicht mal etwas machen wolle, statt nur rumzusitzen. Außer "Lass mir meine Ruhe“ kam nichts. "Ich war so wütend auf ihn“, sagt Melanie Liebsch heute. Als Teenager schrie sie ihn an, beschimpfte ihn, doch von ihm kam keine Reaktion – nichts. Sein Interesse für seine Familie erlosch, auch das Interesse für Geschichte. Er ging nicht mehr auf den Sportplatz, um beim Fußball zuzuschauen. "Schon zuvor war er ein eher strenger Vater, der wenig emotional war“, erinnert sie sich. Wenn sie funktionierte, war alles in Ordnung. Doch zuvor hatte er mit ihr auch Ausflüge gemacht und war mit ihr schwimmen gegangen. Davon blieb nichts.

    "Wenn der Arzt meinen Vater fragte, wie es ihm geht, sagte er ‚gut’. Was will er da auch machen?“ Er sprach normal, konnte sich orientieren, nur war da diese emotionale Kälte. So fallen die Erkrankten nicht nur als Vater oder Mutter, sondern auch als Partner aus. Doch viele Ärzte kennen die Erkrankung nicht. Sie schreiben die Probleme einer Depression, einem "Burn-out“ oder einer Ehekrise zu. Oft sieht die Psychologin Sarah Straub zerrüttete Ehen. Steht die Diagnose Demenz fest, sagt sie oft: "Bleiben Sie bei Ihrem Partner. Ich bin mir sicher, dass er nichts dafür kann.“

    Erst nach einer jahrelangen Leidensgeschichte kam die Diagnose

    Melanie Liebschs Vater war Alleinverdiener. Sie half der Mutter, den Alltag zu stemmen. Als diese 2012 an Brustkrebs erkrankte und meinte, sie könne nicht in die Reha, weil sie einen kranken Mann habe, bestärkten die Ärzte Melanie Liebsch, doch noch einmal nachzuhaken. Ein neuer Arzt am Zentrum für Psychiatrie in Winnenden machte sich die Mühe, die Befunde genauer durchzuschauen und überwies sie an die Uniklinik in Ulm. Das war das Ende einer langen Odyssee. Plötzlich hatten Mutter und Tochter eine Erklärung für ihre jahrelange Leidensgeschichte.

    Melanie Liebschs Vater war früh an Demenz erkrankt. Sie weiß, wie schwer diese Erkrankung gerade auch für Kinder der Betroffenen ist. Daher macht sie heute in einer Online-Selbsthilfegruppe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft jungen Menschen Mut, die ähnliche Erfahrungen machen wie sie damals.
    Melanie Liebschs Vater war früh an Demenz erkrankt. Sie weiß, wie schwer diese Erkrankung gerade auch für Kinder der Betroffenen ist. Daher macht sie heute in einer Online-Selbsthilfegruppe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft jungen Menschen Mut, die ähnliche Erfahrungen machen wie sie damals.

    Gierig beißt Jens Boeltzig in seinen Berliner. Dass seine Hände voller Zucker und Marmelade sind, stört ihn nicht. Immer wieder fährt er sich mit den klebrigen Fingern durch die Haare, seine Frau wischt sie ihm ab. Die übersteigerte Lust auf Süßes ist auch ein Symptom der Krankheit. Seine Frau gibt ihm eine Kindergabel zum Essen, damit er nicht so viel auf einmal in den Mund nimmt. In der Küche und im Kühlschrank stehen kleine Tresore, um die Lebensmittel vor ihm zu sichern. Kerstin Boeltzig legt ein Tuch über die Banane im Obstkorb. "Wenn er sie sieht, kann es sein, dass er sie mit Schale isst“, sagt sie. Neulich kaute er auf einem Radiergummi herum. Gerade noch konnte sie ihm die zerkauten Stücke aus dem Mund nehmen. "Viele Patienten können ihr Essverhalten nicht mehr kontrollieren“, sagt Sarah Straub. "Gefährlich wird es, wenn sie auch Sachen essen, die man gar nicht essen kann, wie Spülmittel oder rohe Kartoffeln.“

    Im Laufe der Erkrankung sterben immer mehr Zellen im Gehirn ab. Die Betroffenen brauchen zunehmend Hilfe im Alltag, am Ende sind sie pflegebedürftig. Sie werden anfällig für Infekte, manche sterben an einer Lungenentzündung infolge einer Aspiration, also des Verschluckens von Essen. "Im Schnitt leben die Erkrankten sechs Jahre mit der Krankheit“, sagt Sarah Straub.

    Diese Familien fallen durchs pflegerische Versorgungssystem

    Das Herausfordernde sei, dass diese Menschen durchs Raster des pflegerischen Versorgungssystems fallen. Viele Einrichtungen nehmen Menschen mit Frontotemporaler Demenz nicht auf, weil sie wegen ihrer Verhaltensauffälligkeiten und ihrem starken Bewegungsdrang eine Eins-zu-eins-Betreuung bräuchten. Die meisten Betroffenen werden zu Hause betreut, weil es keine spezialisierten Betreuungseinrichtungen für sie gibt. Sarah Straub versucht deshalb, mit Politikern ins Gespräch zu kommen: "Diese Menschen werden komplett vergessen.“ Würden junge Demenzkranke als Menschen mit Behinderung anerkannt, hätten sie Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe, was auch eine individuelle Assistenz im Alltag bedeuten könnte. So geht der Kampf weiter, und jede Familie muss ihre Ansprüche allein durchfechten – sofern die Kraft dafür reicht.

    Melanie Liebschs Vater starb 2020 mit 75 Jahren. Sie blickt mit Trauer auf die schweren Jahre und ist dankbar für ein paar innige Momente am Ende seines Lebens. Heute macht sie in einer Online-Selbsthilfegruppe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft jungen Menschen Mut, die ähnliche Erfahrungen machen wie sie damals. Jungen Frauen wie den Töchtern von Jens Boeltzig.

    Bis zu 30.000 Menschen der 1,8 Millionen Demenzkranken in Deutschland sind von Frontotemporaler Demenz (FTD) betroffen, die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen, weil die Krankheit oft nicht erkannt wird. Die

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