Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger mag gedacht haben, dass sich die Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus den 80er Jahren mit ein paar Sätzen aus der Welt schaffen lasse – spätestens am Montag dürfte er erkannt haben, dass er damit falsch lag. Denn seine Distanzierung, via Pressemitteilung am Samstagabend verschickt, reichte weder der Opposition noch der mitregierenden CSU. Ihnen genügte auch nicht, dass sich Aiwangers Bruder als Verfasser der Hetzschrift bekannt hatte. Zu viele Fragen blieben offen, zu unglaubwürdig erschienen die Aussagen der beiden, zu heftig der Inhalt des Flugblattes, den Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle (CSU) "Hardcore-Antisemitismus" nannte.
CSU-Kritik an Söder: Er habe "Aiwanger erst stark gemacht"
Wenige Wochen vor der Landtagswahl hat die Regierungskoalition damit ein handfestes Problem – eines, dessen Folgen für den Wahlausgang noch völlig unvorhersehbar sind: Die Freien Wähler müssen um ihre Führungsfigur und ihr Zugpferd bangen; die CSU um die Freien Wähler, auf die sich Parteichef und Ministerpräsident Markus Söder schon früh als künftigen Koalitionspartner festgelegt hatte. Daran gibt es jetzt Kritik aus den eigenen Reihen an ihm, wenn auch leise. Mit seinem klaren Bekenntnis, die Koalition mit den Freien Wählern nach der Wahl fortsetzen zu wollen, habe Söder "Aiwanger erst stark gemacht". Das räche sich jetzt. hieß es.
CSU-Politikerinnen und Politiker zeigten sich am Montag vor allem aber enttäuscht über die Fraktion der Freien Wähler (FW) im Landtag. Die FW-Abgeordneten hätten am Wochenende stundenlang mit Aiwanger gesprochen, ihn jedoch offenbar nicht dazu bewegen können, alles auf den Tisch zu legen. Dass dies nun im Koalitionsausschuss nachgeholt werden müsse, sei ärgerlich – weil damit die CSU in eine Sache hineingezogen werde, mit der sie eigentlich nichts zu tun habe. Die Abgeordneten der Freien Wähler hatten sich, wie berichtet, mit Aiwangers Erklärungen über das Flugblatt zufrieden gegeben und sich hinter ihren Parteivorsitzenden gestellt.
Roland Weigert (FW): "Hubert Aiwanger ist ein Kämpfer"
Am Montag bekräftigte Aiwangers Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Roland Weigert (FW): "Hubert Aiwanger hat das nicht geschrieben." Dass Aiwanger von sich aus seinen Rücktritt erklären könnte, hält der frühere Landrat des Landkreises Neuburg-Schrobenhausen für abwegig. Ein solches Verhalten entspräche nicht Aiwangers Natur. "Hubert Aiwanger ist ein Kämpfer."
Dass die Freien Wähler ihre Reihen geschlossen halten, beobachtet auch die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Innerhalb der Partei gebe es eine ganz starke Welle der Solidarisierung. Zugleich werde eine Gruppe sichtbar, die schon immer unzufrieden war mit der Vorgehensweise Aiwangers – und die sich nun bestärkt fühle. "Aber das sind wenige", so Münch. "Zumindest im Augenblick noch."
Stützen dürfte sich Aiwanger zudem vor allem auf den Zuspruch der Wählerinnen und Wähler. Münch wies darauf hin, dass bereits nach seinem umstrittenen Auftritt in Erding ("die schweigende große Mehrheit dieses Landes" müsse "sich die Demokratie wieder zurückholen") die Umfragewerte der Freien Wähler gestiegen seien. Allerdings: In der Außenwahrnehmung seien die Freien Wähler in den vergangenen Jahren zu einer Ein-Mann-Partei geworden. Ohne Hubert Aiwanger würden sie "ganz schnell abstürzen von zwölf Prozent auf fünf Prozent".
Ursula Münch: "Söder könnte zur Bedingung machen, dass Hubert Aiwanger nicht mehr Teil des Kabinetts ist"
Mit Blick auf die für diesen Dienstag anberaumte Sondersitzung des Koalitionsausschusses sprach sie von einem Dilemma für Markus Söder: Eine Entscheidung im Falle Aiwangers dürfte ihm entweder als Überreaktion oder als zu laxes Vorgehen vorgeworfen werden. "Söder könnte zur Bedingung machen, dass Hubert Aiwanger nicht mehr Teil des Kabinetts ist – aber darauf werden sich die Freien Wähler kaum einlassen", so Münch. "Die CSU steckt in einem echten Schlamassel."
Während sich Parteistrategen mit derartigen Überlegungen zu befassen hatten, herrschte Einmütigkeit in der Beurteilung des antisemitischen Flugblattes, in dem für "Vaterlandsverräter" als "1. Preis" eines "Bundeswettbewerbs" ein "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" winkt. Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel von der Universität Augsburg sagte, nach heutiger Rechtslage könne man ein solches Flugblatt ohne Weiteres als Volksverhetzung bezeichnen. Dabei komme es gar nicht so sehr darauf an, wer es hergestellt habe, denn bereits der Besitz könne bestraft werden.
Im Schuljahr 1987/88, als Aiwanger als 17-Jähriger nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung als Urheber des Flugblattes "ausgemacht und bestraft" worden sein soll, habe aber eine enger formulierte Fassung des entsprechenden Strafrechtsparagrafen gegolten. Und: Nach damaligem Recht seien die Taten verjährt.