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Debatte: Wenn die Kirche Mitglieder verliert, ist das ein Verlust für die ganze Gesellschaft

Debatte

Wenn die Kirche Mitglieder verliert, ist das ein Verlust für die ganze Gesellschaft

Daniel Wirsching
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    Gläubige bei einer Fronleichnams-Messe mit dem Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx.
    Gläubige bei einer Fronleichnams-Messe mit dem Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Am Montag, wenn die katholische Kirche ihre offiziellen Austrittszahlen für das Jahr 2021 bekannt geben will, wird man wieder Bischöfe von "schmerzlichen Zahlen" (2009), von "einem Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust" (2014) und nun notwendigen "mutigen Veränderungen" (2020) sprechen hören.

    In "sozialen" Medien wird Hohn und Spott auf die Kirche herab hageln, und mancher Kirchenmann (es sind ja weit überwiegend Männer), könnte da an die alttestamentliche Heuschreckenplage denken. Als Bild für die gegenwärtige Situation wäre das natürlich vollkommen schief. Aber dass laut Bibel dereinst nichts Grünes übrig geblieben sei, das ist auch in diesen Tagen ein recht verbreitetes Gefühl in Kirchenkreisen: Kirche werde ja nur noch wegen ihrer oder als Skandal(e) wahrgenommen! Sie tue doch so viel Gutes! Viel Schwarzmalerei also, die alles Grüne und Blühende mit grobem Pinsel übertünche.

    Anderen werden die Austrittszahlen allenfalls ein müdes Kopfnicken (oder -schütteln) wert sein, wenn überhaupt. Und das ist das Schlimmste, das der katholischen Kirche in Deutschland widerfahren kann – dass ihr mit Gleichgültigkeit begegnet wird.

    Wehklagen und Beteuerungen. Spott und Indifferenz. Das wird das Spektrum der Reaktionen am Montag sein. Und im Strudel der Nachrichten und Kommentare, im Abwärtsstrudel, in dem sich das "Schifflein Petri" zu großen Teilen aus eigenem Verschulden befindet, wird eine ganz entscheidende Frage untergehen: Was fehlt (in) unserer Gesellschaft, wenn Kirche mit immer mehr Mitgliedern auch zunehmend an Relevanz verliert? Es ist angesichts der "Kernschmelze", die jetzt häufig konstatiert wird, die "Kernfrage" – die Frage nach dem Kern.

    "Wo die Kirche verschwindet, verschwindet über kurz oder lang auch der christliche Glaube", sagt der katholische Pfarrer Bernd Weidner

    Spötter werden die Frage nach dem, was fehlt, mit einem schlichten "nichts" beantworten. Doch das ist deutlich zu schlicht. Denn der was die Austrittszahlen angeht bedenkliche Zustand von evangelisch-lutherischer und römisch-katholischer Kirche – der beiden trotz allem überaus mitgliederstarken christlichen Kirchen in Deutschland – muss jeder und jedem zu denken geben, und zwar ernsthaft. Was fehlt? Was wird fehlen?

    Fragt man Bernd Weidner, den katholischen Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft Oberhausen-Bärenkeller in Augsburg, antwortet der: "Wo die Kirche verschwindet, verschwindet über kurz oder lang auch der christliche Glaube. Und ohne Glauben wird unsere Gesellschaft noch 'hoffnungsärmer'. Weil die Kirche eine Trägerin der Hoffnung ist."

    Auch so kann Kirche aussehen: Eine Frau im Dirndl auf einem Stand-Up-Paddling-Board während der Seeprozession zu Fronleichnam auf dem Staffelsee.
    Auch so kann Kirche aussehen: Eine Frau im Dirndl auf einem Stand-Up-Paddling-Board während der Seeprozession zu Fronleichnam auf dem Staffelsee. Foto: Angelika Warmuth, dpa

    Weidner kann sehr konkret benennen, was fehlen wird – weil es schon teilweise fehlt. Und das im relativ "katholischen Bayern". "In meiner Pfarreiengemeinschaft stehen gerade viele Gruppen wegen Überalterung auf der Kippe", erklärt Weidner und spricht von einem materiellen und immateriellen Verlust – von Gebäuden, Strukturen und Traditionen. Vom Verschwinden von Arbeitskreisen, Gruppen, Initiativen. Vom Wegfall von Dienstleistungen für die Gesellschaft mangels Personal und mangels Geldes: "Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime etc." – und die Lasten würden dann auf die Allgemeinheit, auf die Kommunen übergehen, so Weidner. "Das werden alle spüren."

    Jugendforscher Simon Schnetzer spricht von Kirche als "moralische Autorität, an der Menschen sich wertemäßig orientieren können"

    Bevor sich an dieser Stelle die Spötter melden: Klar, kirchliche Einrichtungen werden vom Staat verschiedentlich mitfinanziert. Und bei mancher Einrichtung muss man schon nach dem speziell "katholischen Profil" suchen. Und selbstverständlich leisten auch nicht-kirchliche Einrichtungen wertvolle Dienste für unsere Gesellschaft. Das "Aber" folgt, erst einmal weiter - zu Jugendforscher Simon Schnetzer aus Kempten. Der hat ebenfalls einen guten Blick auf Gegenwart und Zukunft von Kirche und Gesellschaft, einen Blick von außen. Und aus dieser Perspektive - aus der mit Klaus Hurrelmann verfassten "Jugend in Deutschland – Trendstudie Sommer 2022" - sieht es so aus:

    "Die religiöse Bindung der jungen Generation ist schwach. Es bekennen sich insgesamt nur 56% der Befragten zu einer Religion, allen voran der christlichen Religionmit 43%. (...) Auffällig ist der im Vergleich zu älteren Generationen sehr hohe Wert von 44 % der jungen Menschen, die sichkeinem religiösen Glauben zuordnen. Dieser Wert macht deutlich, dass vor allem die christlichen Kirchen eine nur noch geringe Bedeutung für die Sinn- und Lebensorientierung junger Menschen haben." Repräsentativ befragt wurden 14- bis 29-Jährige.

    Schnetzer beantwortet die Frage, was (in) unserer Gesellschaft fehlt, wenn Kirche mit immer mehr Mitgliedern auch zunehmend an Relevanz verliert, mit diesem Satz: "Es fehlt in unserer Gesellschaft eine moralische Autorität, an der Menschen sich wertemäßig orientieren können und sich durch die entsprechende Gemeinschaft in ihrem werteorientierten Verhalten bestätigt fühlen."

    Werte, Moral, Orientierung, würden Spötter jetzt wohl sagen, vermitteln und bieten auch andere! Das ist so, und – genau – das "Aber" folgt, ein wenig Geduld...

    Fragt man den Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack nach den Folgen des kirchlichen Relevanzverlusts, listet er ein Bündel an Antworten auf

    Zunächst weiter, dieses Mal nach Münster und zu Professor Detlef Pollack, einem der bekanntesten und renommiertesten Religionssoziologien des Landes. Er verweist auf Ostdeutschland, wo sich ansatzweise erkennen lasse, was in der Gesellschaft fehle, wenn Kirche an Relevanz verliere: "ein geringeres historisches Bewusstsein von dem, was unsere Kultur geprägt hat, weniger Respekt vor Traditionen, Religionen und

    Das ist einiges, auch wenn Pollack ergänzt: "Die Effekte von Religiosität und Kirchlichkeit sind jeweils nicht stark, aber signifikant. Insofern fehlt in der Gesellschaft vielleicht nicht viel, wenn sich die Bedeutung der Kirchen abschwächt, aber möglicherweise doch etwas."

    Das "Aber" ist, mit Blick auf die Antworten von Weidner, Schnetzer, Pollack nicht eines, es sind mehrere "Aber". Vor allem aber: Unserer Gesellschaft wird Kirche zunehmend fehlen als ein Ort, der "mehr" ist, erst recht mehr als Steine und Skandale – als ein Ort des (praktizierten) Glaubens an Gott, der Glaubens-Gewissheiten oder zumindest der Suche nach ihnen sowie einem Sinn des Lebens. Als eine "Weggemeinschaft", in der Millionen Menschen nach wie vor Halt, Trost oder Begleitung finden, in Gottesdiensten wie durch den Besuch einer Seelsorgerin oder eines Seelsorgers am Kranken- oder Sterbebett. Kirche ist selbstverständlich da, in guten wie in schlechten Zeiten, nicht bloß für ihre Mitglieder. Auf dieses Selbstverständnis und diese Selbstverständlichkeit kann man bauen. Und das wiederum ist nichts Selbstverständliches in einer unberechenbaren, überfordernden Welt.

    Evangelische und katholische Christen sind zur Minderheit geworden - doch auch Minderheiten können eine große Relevanz entfalten

    Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte bereits im März ihre Austrittszahlen für 2021 bekannt gegeben: 280.000 Mitglieder kehrten ihr demnach den Rücken. Wenn am Montag die offiziellen

    Schild mit der Aufschrift "Wartezone Kirchenaustritte" im Standesamt München: Die Zahl der Austritte erreichte in den vergangenen Jahren in der evangelischen und katholischen Kirche immer wieder Rekordwerte.
    Schild mit der Aufschrift "Wartezone Kirchenaustritte" im Standesamt München: Die Zahl der Austritte erreichte in den vergangenen Jahren in der evangelischen und katholischen Kirche immer wieder Rekordwerte. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Dass etwa junge Menschen "nach einer übergeordneten Sinnorientierung" suchen und für entsprechende Angebote zu gewinnen seien ("Jugend in Deutschland – Trendstudie Sommer 2022"). Oder dass auch Minderheiten eine große Relevanz entfalten können – "wenn sie kreativ sind und eine Botschaft haben, die relevant ist für die Menschen", wie Bernd Weidner, der katholische Pfarrer aus Augsburg, sagt. Der zweite Teil seines Satzes – das ist der Kern, die Frohe Botschaft. Und die ist zweifellos relevant, seit mehr als 2000 Jahren, in aller Welt. Es würde Entscheidendes fehlen, würde sie nicht mehr Menschen und Gesellschaft erreichen – verkündet von den christlichen Kirchen, deren Auftrag das ist.

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