Angela Merkels Amtszeit war fast zu Ende, da sprach die Kanzlerin noch einmal Klartext. Nach Jahrzehnten, wie sie heute rückblickend selbst schreibt. Am 3. Oktober 2021, bei ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit, meldete sich Merkel zu Wort, sie hatte noch etwas Wichtiges zu sagen, in aller Öffentlichkeit, bevor sie ihr Amt an Olaf Scholz übergab. „Müssen nicht Menschen meiner Generation und Herkunft aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch nach drei Jahrzehnten Deutsche Einheit gleichsam immer wieder neu beweisen“, sagte Merkel da, „so als sei die Vorgeschichte, also das Leben in der DDR, irgendwie eine Art Zumutung?“
Wenn es einen Schlüsselmoment bei der Lektüre von „Freiheit“ gibt, dem lang erwarteten Buch von Angela Merkel, wenn es etwas gibt, was womöglich einen neuen Blick auf ihre Amtszeit zulässt, dann findet es sich hier: Auch nach 16 Jahren als Kanzlerin fühlte sich Merkel im vereinigten Deutschland nicht ganz angekommen. „Bei größeren Auseinandersetzungen“, so schreibt sie, „erlebte ich immer wieder, dass meine DDR-Biographie gegen mich in Stellung gebracht wurde – wahrlich nicht erst im Zusammenhang mit meiner Flüchtlingspolitik, sondern von Beginn an, etwa bei Debatten zu Eigentumsfragen oder in der Diskussion zur Neuregelung des Paragraphen 218 in den 1990er Jahren. Meine Argumente zählten plötzlich nicht mehr.“
Angela Merkel stellt „Freiheit“ am Dienstag in Berlin vor
„Freiheit“ ist das politische Buch des Jahres. Selten wurden Memoiren mit größerer Spannung erwartet. Merkel, 70, wird ihr Buch, das in mehr als 30 Sprachen übersetzt wird, am Dienstag, dem Erscheinungstag, im Deutschen Theater in Berlin vorstellen und Anfang Dezember in Washington. Der Mann, der sie in der amerikanischen Hauptstadt befragen wird, heißt Barack Obama. Und tatsächlich scheint dieses Leben, das sich grob in zwei Hälften teilt, das bis zum Alter von 35 Jahren in der Enge der DDR spielt und sich danach in eine fast unglaubliche Karriere in der Bundesrepublik weitet, in der Tat schien diese Biographie den Amerikanern und ihrem Sinn für lebensverändernde Dramatik schon immer ein bisschen näher zu sein als den Deutschen, die Leben und Karriere der Angela Merkel etwas nüchterner, skeptischer betrachteten. Ein amerikanischer Traum, made in East Germany – auch davon erzählt „Freiheit“. Ganz nebenbei dürfte Merkel mit diesem Buch Millionärin werden.
Die erste Frau, die erste Ostdeutsche, all das allein würde die Erzählung tragen. Doch die Spannung heute rührt auch daher, dass selten ein Spitzenpolitiker nach seinem Ausscheiden so rasch in die Kritik geriet wie Angela Merkel. Putins Überfall auf die Ukraine in der Nacht des 24. Februar und die dabei schockartig deutlich werdende Abhängigkeit vom russischen Gas setzt Merkels Entscheidungen als Kanzlerin genauso unter neuen Rechtfertigungsdruck wie das Auswuchern der AfD im bundesdeutschen Parteiengeflecht. Sieht man von zwei Auftritten in Leipzig und Berlin sowie einem knappen Statement nach Putins Überfall ab, hat Merkel öffentlich bis zuletzt wenig dazu gesagt. Wie also sieht die Frau, die Deutschland alles in allem bestimmt nicht schlechter regiert hat als Olaf Scholz' Ampel, wie sieht Angela Merkel ihre Entscheidungen heute?
Merkels Buch teilt sich in zwei Hälften - wie ihr Leben
Wer nach Antworten sucht, braucht zunächst – Ausdauer. Wie Merkels Leben teilt sich auch ihr Buch in etwa in zwei Hälften. Etwas über 300 Seiten geht es über das Leben in der DDR und die frühen Ministerjahre. Dann folgen etwas mehr als 400 Seiten über die Kanzlerschaft, umwirbelt von globalen Herausforderungen, von den Zumutungen der Eurokrise bis zur Pandemie, vom Ausstieg aus der Kernkraft bis zum „Wir schaffen das“ des Jahres 2015.
Anders als man vielleicht erwartet hätte, ist es gerade der erste Teil, die Zeit in der DDR, die einen als Leser in seinen Bann schlägt. Es ist spannend, gerade mit der künftigen Kanzlerin im Hinterkopf, der jungen Wissenschaftlerin zu folgen, die nochmal mit einem gefährlichen Rüffel davonkommt, als sie in der Marxismus-Pflichtvorlesung Physikaufgaben löst, eine junge Frau die sich ihre Unbekümmertheit zu bewahren versuchte, wie sie heute schreibt. „Dass die DDR mir das nicht nehmen konnte, empfinde ich als einen meiner größten persönlichen Siege über das System.“
Ab Seite 400 etwa wird das Buch der Altkanzlerin schwere Kost
Der Aufbruch nach dem Fall der Mauer, das atemlose Tempo dieser neuen Zeit schildet Merkel genauso lebendig wie ihre Kampfkandidatur für ihr erstes Bundestagsmandat und das Treffen mit Ostsee-Fischern, das ein Bonner Fotograph in einem berühmten Bild festhielt. Es folgen die ersten Jahre in der westdeutschen Männerpartei CDU. „Ich musste lernen, in den Sitzungen bestimmt zu sprechen und nicht verlegen zu lächeln, wenn ich angegriffen wurde.“
Der Kanzlerinnen-Teil fällt dagegen ab. Ab Seite 400 werde es unterhaltsam, bescheinigte eine Schriftstellerin zuletzt Thomas Manns Sanatoriumswälzer Zauberberg zum hundertsten Jubiläum. Bei Merkels Buch ist es genau andersherum – ab Seite 400 etwa wird es schwere Kost. Der Kanzlerteil über dramatischste Kapitel deutscher Geschichte liest sich oftmals wie eine minutiöse Abhandlung von Terminen, Treffen und Telefonaten mit den Großen der Welt. Immerhin, man erkennt, in welchen Zeitkorsett heute Spitzenpolitik gemacht wird.
Selbstkritik? Ist nicht Merkels Sache
Ein Schicksalstag der Merkelschen Kanzlerschaft etwa, der 4. September 2015, wurde in seiner Termindichte zwischen Grundschulbesuch in München, Kommunalwahlkampf in Essen und CDU-Jubiläum in Köln schon mehrfach beschrieben. Es ist der Tag, an dem Merkel entschied, die Flüchtlinge, die sich aus den Lagern in der Türkei aufgemacht hatten und nun auf österreichischen Autobahnen umherirrten, nach Deutschland zu lassen. Nun sitzt man mit Merkel im Dienstwagen und Hubschrauber und erlebt, wie die Entscheidung reifte, die das Land für lange Zeit verändern sollte, eine „Zäsur“ ihrer Kanzlerschaft, wie Merkel selbst schreibt.
Schade ist allerdings, dass Merkel ihren Blick nur selten weitet. Sicher, sie erklärt schon, wie sie etwa Guido Westerwelle in einem stillen Moment im Kanzleramt erläuterte, warum die Risiken der Kernkraft nach der Havarie in Fukushima auch im 9000 Kilometer entfernten Deutschland nicht mehr tragbar seien. Doch wer sich eine kritische Einordnung mit dem heutigen Wissen erhofft hat, etwa mit Blick auf die steigende Abhängigkeit von russischem Gas, dem bietet Merkel wenig. Selbstkritik? Ist nicht ihre Sache, auch das wohl eine Lehre aus dem Leben in der DDR.
Angela Merkel ist ein ehrliches Buch gelungen
Insofern ist Merkel ein ehrliches Buch gelungen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (ihre Rede zur Flüchtlingspolitik beim Parteitag in Karlsruhe im Dezember 2015 etwa), hat es Merkel nie vermocht, ihre Zuhörer mitzureißen. Warum soll es nun, in Schriftform, anders sein? Gerade aber wenn Merkel vom Besuch auf der Ranch bei George W. Bush in Texas ihre Sympathie für den Präsidenten durchscheinen lässt, der die USA auf der Suche nach vermeintlichen Massenvernichtungswaffen in den Irakkrieg führte, gerade in solchen Momenten blitzt der Schatz kurz auf, den Merkel hätte heben können.
Das gleiche gilt – mit Einschränkungen – für Merkels Blick auf Putin. Die beiden kennen sich lange, und in der etwas besseren Zeit, etwa beim ersten G8-Gipfel, den Merkel 2007 in Heiligendamm ausrichtete, konnten sie noch gegenseitig Witze reißen. Da ärgert sich Merkel beispielsweise, dass Putin zum Familienfoto auf der Seebrücke eine dreiviertel Stunde zu spät erschien.
„Was war los“, fragte ich ihn.
„Du bist schuld – genauer gesagt das Radeberger“, antwortete Putin.
Merkel hatte ihm auf seinem Wunsch eine Kiste des Bieres, das der Ex-KGB-Spion aus Dresden schätzte, aufs Zimmer bringen lassen und Putin hatte offenbar gleich gut zulangt. 15 Jahre später sollte er die Ukraine und damit Europas Friedensordnung frontal angreifen.
In 16 Dienstjahren hat sich die Kanzlerin kaum ins Herz blicken lassen
Zumeist bleiben die Akteure aber nüchtern - und blass. Aus einer Kanzlerin, die sich in 16 Dienstjahren kaum ins Herz blicken ließ, wird jetzt, in ihren Erinnerungen, keine Plaudertasche. Wenn Merkel einmal einen Blick ins Schlüsselloch zulässt, dann mit Personal im engsten Umfeld, Beate Baumann etwa. Die Frau, die seit Merkels Tagen als stellvertretende CDU-Chefin nicht von ihrer Seite weicht und folgerichtig als Co-Autorin des Buches auftritt, ist Merkels Sparringspartner bei allen wichtigen Fragen.
„Ich beende das“, sagte ich.
„Was beenden Sie?“, fragte Beate Baumann.
„Die Kanzlerkandidatur“, antwortete ich.
„Gut, dann ist das so“, erwiderte sie.
Was folgte war das Frühstück von Wolfratshausen im Januar 2002. Manche Weggefährten ignoriert Merkel beinahe komplett. Horst Seehofer etwa, der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident, der die Regierung Merkel in der Flüchtlingsdebatte mehrfach bis an den Abgrund trieb, schrumpft auf rund 740 Seiten fast zur Fußnote. Eine Ausnahme ist die legendäre Szene, in der Seehofer Merkel beim CSU-Parteitag im Herbst 2015 abkanzelte.
„Ich flog nach München und hielt eine kurze, lustlose Rede“, erinnert sich Merkel. Dann polterte Seehofer, Merkel stand daneben, auf offener Bühne. „Minutenlang ging es weiter. Ich dachte: hier stehst Du jetzt als Parteivorsitzende, das ficht dich nicht an, das bekommst Du hin. Aber du bist auch Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Was wird das in Brüssel, was wird das in der Türkei für einen Eindruck machen, wenn die dich hier sehen?“
Die Idee zum Buch entstand ursprünglich in der Flüchtlingskrise
Ursprünglich sei die Idee zum Buch in der Flüchtlingskrise entstanden, schreiben Merkel und Baumann, doch mit der Pandemie war klar, dass es um mehr gehen sollte als eine Reflexion über das „Wir schaffen das“. Als Putin in der Nacht des 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, weitete sich das Themenfeld noch einmal. Immerhin war es dieser Überfall, der Merkels Ruf als Altkanzlerin schon kurz nach ihrem Amtsende schwer zu beschädigen drohte.
Anders als viele heute sagen, sei es kein Fehler gewesen, der Ukraine beim Gipfel in Bukarest 2008 den Status als Nato-Beitrittsland zu verweigern, schreibt Merkel heute. Die USA drängten darauf, viele kritisieren in der Rückschau, dass eine solche Entscheidung 2008 Putin 2022 von seinem Überfall abgehalten hätte. Merkel sieht das anders. „Ich hielt es für eine Illusion anzunehmen, dass der MAP-Status (Beitrittskandidaten-Status) der Ukraine und Georgien Schutz vor Putins Aggression gegeben hätte, dass also dieser Status so abschreckend gewirkt hätte, dass Putin die Entwicklungen tatenlos hingenommen hätte.“
„Freiheit“ ist der spannende Rückblick auf eine junge Frau, die in der DDR ihren Weg findet
Wenn Merkel über den Ukrainekrieg schreibt, dann liest sich das so, wie sich ihr Nachfolger Scholz heute anhört. Sicher, Merkel verkneift sich jeden Hinweis, ob sie der Ukraine Taurus-Marschflugkörper liefern würde. Aber man ahnt die Antwort, auch, weil sie ähnlich wie Scholz die Verantwortung für einen möglichen Frieden nicht nur beim Aggressor Putin sieht, sondern auch bei der Ukraine. Der richtige Zeitpunkt für Diplomatie? „Wann der gekommen ist, kann nicht allein von der Ukraine entschieden werden“ schreibt Merkel, „sondern nur gemeinsam mit ihren Unterstützern“.
Angela Merkel und Beate Baumann haben auf einen Ghostwriter verzichtet. Auch in diesem Sinne ist es ein ehrliches Buch. „Freiheit“ ist der spannende Rückblick auf eine junge Frau, die in der DDR ihren Weg findet. Und eine akribische Nacherzählung einer Kanzlerschaft, die weniger durch eine klare Handschrift der Regierungschefin in Erinnerung bleiben wird als durch die Vielzahl von Krisen, die der Amtszeit den Stempel aufdrückten. Bessere Zeiten als beim aktuellen Ampel-Theater allerdings, auch das merkt man beim Lesen fast ein wenig nostalgisch, bessere Zeiten als bei der Ampel waren es allemal.
Angela Merkel mit Beate Baumann, Freiheit: Erinnerungen 1954 - 2021, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 736 Seiten, ISBN: 978-3-462-00513-4, 42 Euro.
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