Auf der Welt geht es rund um die Parlamente drunter und drüber: vor zwei Jahren der Sturm aufs Kapitol in Washington, jetzt die Ereignisse in Brasilia. Die Parlamente werden zur Zielscheibe eines wütenden Mobs. Was empfinden Sie als Präsidentin des Bayerischen Landtags, wenn Sie solche Bilder sehen?
Ilse Aigner: Es ist unglaublich, was da in Brasilien los gewesen ist. Es wühlt mich auf, auch ganz persönlich, weil ich schon vor den Gebäuden gestanden bin und die Örtlichkeiten kenne. Aber es geht nicht nur um Gefühle. Wer genauer hinschaut, erkennt zwischen beiden Ereignissen Parallelen, aber eben auch Unterschiede.
Wo sehen Sie die Unterschiede?
Aigner: Die Büros und Säle in Brasilia waren leer, in den USA haben sich frei gewählte Abgeordnete regelrecht verschanzen müssen, um diesem Mob zu entgehen. In Washington richtete sich der Aufruhr gegen das Parlament, in Brasilien gleichzeitig gegen alle staatlichen Institutionen, also gegen das demokratische System insgesamt. Und besser organisiert waren die Aufrührer in Brasilien auch.
Gefährlich sah es hier wie dort aus.
Aigner: Ja, die Bilder gleichen sich. Es ist erschreckend, dass es in demokratischen Ländern Menschen gibt, die versuchen, ihr Parlament, ihre eigene Volksvertretung zu stürmen. Besonders bedenklich aber ist zudem eine andere Parallele: Hinter beiden Ereignissen stehen narzisstische Männer, die es nicht verwunden haben, dass sie eine demokratische Wahl verloren haben, oder sich zumindest nicht klar dazu bekannt haben, dass sie verloren haben. Diese Männer haben den Konsens aufgekündigt, auf dem jede Demokratie beruht.
Haben Sie manchmal Sorge, dass es auch bei uns solche Situationen geben könnte?
Aigner: Wenn ich die Situation bei uns mit den USA vergleiche, dann sehe ich keine so große Gefahr, auch weil wir ein anderes Wahlrecht haben. Unser Verhältniswahlrecht ist zwar zugegebenermaßen etwas komplizierter, aber es schützt uns vor derart extremen Ausschlägen. In den USA gilt „The winner takes it all“, der Sieger bekommt alles. Da reichen oft schon ein oder zwei Stimmen und die Machtverhältnisse im Parlament ändern sich fundamental. Bei uns ist das zum Glück nicht möglich. Selbst wenn radikale Parteien erstarken, können sie ein Parlament nicht gleich komplett übernehmen.
Ein Sturm aufs Maximilianeum in München ist also nicht zu befürchten?
Aigner (lacht): Na ja, nicht ernsthaft. Am Tag vor Silvester 2021 gab es einen Vorfall. Da haben Ultras von 1860 München im öffentlich zugänglichen Bereich vor dem Maximilianeum Böller und Silvesterraketen gezündet – wohl um hinterher mit Bildern zu prahlen. Sie haben aber nicht versucht, reinzukommen, und sich schnell in die Isarauen davongemacht. Das war kein Spektakel von internationaler Tragweite.
In Berlin ist das schon wieder etwas anders. Der Reichstag wurde bereits zweimal ins Visier genommen. Vor zwei Jahren versuchten „Querdenker“ den Sturm, erst kürzlich flogen Umsturzpläne militanter „Reichsbürger“ auf. Haben Sie denn eine Erklärung für diese offenbar wachsende Feindschaft gegen die parlamentarische Demokratie?
Aigner: Das hat viele Gründe. Eine Erklärung ist möglicherweise, dass es ungeduldige Menschen gibt, denen es mit politischen Entscheidungen zu langsam geht. Entscheidend ist aus meiner Sicht aber: Demokratie arbeitet mit dem Kompromiss. Ihr Ziel ist es, zum Wohl der Allgemeinheit einen Kompromiss zwischen Extrempositionen zu erarbeiten. Das gefällt offenbar nicht allen. Das ist das eine. Das andere ist, dass manche Menschen sich offenbar nach einer starken Persönlichkeit sehnen, die einfach mal richtig sagt, wo es langgeht. Diese Menschen haben nicht verstanden, dass das für jeden zum Problem werden kann, der nicht auf der Seite dieser starken Persönlichkeit steht – also unter Umständen auch für sie selbst.
Was können, was sollten demokratische Parteien tun, um diesen antidemokratischen Entwicklungen entgegenzutreten?
Aigner: Wir alle haben die Pflicht, immer wieder zu erklären, welchen Wert die Demokratie an sich hat. Dass autokratische oder diktatorische Regime schlecht für die Menschen sind, kann man Tag für Tag in der Medienberichterstattung nachvollziehen. Wir sollten aber noch sehr viel mehr für die Errungenschaften der Demokratie werben: freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Freiheit der Berufswahl, Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz. Dass es all diese Freiheiten für jeden Einzelnen gibt, ist alles andere als selbstverständlich.
In Ihrer Weihnachtsansprache im Landtag haben Sie die AfD zwar nicht namentlich genannt, aber Sie haben vor Hass und Hetze, Fake News und Verschwörungsmythen gewarnt. Und Sie haben darauf hingewiesen, dass „der politische Arm dieser Bewegungen“ auch bei uns schon bis in die Parlamente reicht. Wie haben Sie die AfD-Fraktion in den vergangenen vier Jahren im Landtag erlebt?
Aigner: Im persönlichen Umgang geben sich die AfD-Abgeordneten betont höflich und korrekt. Aber wenn sie am Rednerpult stehen, zeigen sie ein ganz anderes Gesicht. Da geht es stets nach demselben Muster: Sie greifen Themen auf, um die Gesellschaft zu spalten. Die Mehrheit in der AfD hat kein Interesse an gemeinsamen Lösungen. Sie sucht den Konflikt, um den Spaltpilz in die Gesellschaft zu tragen und sich über Konfliktthemen zu profilieren.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Landtagsvizepräsident Thomas Gehring (Grüne) haben in derselben Sitzung deutlich härtere Worte zur AfD gefunden. Was ist denn Ihrer Ansicht nach der richtige Weg? Wie sollen die demokratischen Parteien im bevorstehenden Landtagswahlkampf mit der AfD umgehen?
Aigner: Wir sollten sie auf der einen Seite nicht überhöhen, weil sie es darauf ja gerade anlegt. Auf der anderen Seite sollten alle Demokraten bei Grenzverletzungen zusammenstehen und klare Kante zeigen. Die AfD-Fraktion im Landtag ist zerstritten. Mein Eindruck ist, dass der extremistische Höcke-Flügel dort wieder an Bedeutung gewinnt. Dieser Flügel ist brandgefährlich. Er kann in der Tat als der parlamentarische Arm demokratiefeindlicher Bewegungen identifiziert werden.
Sie waren vergangenes Jahr mit dem Landtag „auf Tour“ durch Bayern. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht? Gelingt es Extremisten, die Gesellschaft zu spalten?
Aigner: Es gab Situationen, da konnten wir eindeutig feststellen, dass Parteien ihre Anhänger für unsere Veranstaltungen mobilisiert hatten. Die waren öfter mal auch recht laut. Aber insgesamt erlebe ich die Gesellschaft nicht als gespalten. Es gab Diskussionen, es gab kritische Fragen, aber das gehört schließlich dazu. Und es zeigt, dass Demokratien können, wozu autokratische Systeme nicht in der Lage sind. Es gibt bei uns, Gott sei Dank, eine breite, stabile Mitte. Davon bin ich überzeugt.
Frau Aigner, Sie sind nicht nur Landtagspräsidentin, sondern auch Bezirksvorsitzende der CSU in Oberbayern. Wie sehen Sie die Lage Ihrer Partei? Die CSU hat ja über die vergangenen beiden Jahrzehnte hinweg ein Drittel ihrer Wähler verloren. Einst lag die Zustimmung bei über 60, zuletzt nur noch knapp unter 40 Prozent.
Aigner: Dieser Vergleich mit der Landtagswahl 2003 ist aus meiner Sicht nicht zulässig. Das war eine Ausnahmesituation. Edmund Stoiber wäre ein Jahr zuvor fast Kanzler geworden, da hat die Mehrheit in Bayern gesagt, den wollen wir hier jetzt erst recht. Richtig aber ist, dass sich die Parteienlandschaft in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert hat. Nehmen Sie zum Beispiel die SPD: Sie hat über die Jahre fast zwei Drittel ihrer Wähler verloren.
Was sollte die Zielmarke der CSU in diesem Landtagswahlkampf sein? Besser als zuletzt mit 37,2 Prozent oder 40 Prozent plus X oder gar die absolute Mehrheit?
Aigner: 40 Prozent plus X halte ich für durchaus realistisch. Die Umfragen im Moment gehen ja auch in diese Richtung. Das ist sehr gut, und ich glaube, wir haben noch Potenzial, etwas mehr zu erreichen.
CSU-Chef Markus Söder und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger haben sich bereits für eine Fortsetzung der Koalition ausgesprochen. Ist das auch Ihr Wunsch?
Aigner: Unter den jetzigen Bedingungen halte ich diese Koalition für die am besten geeignete. Wir haben uns nicht nur aneinander gewöhnt, sondern wir arbeiten sehr gut zusammen.
Die CSU hatte mal den Anspruch, Bayern alleine zu vertreten. Ist diese Koalition für Sie ein notwendiges Übel oder soll das die nächsten 20 Jahre so weitergehen?
Aigner: Netter Versuch, mich aufs Glatteis zu führen! Für uns gilt, was immer für uns gilt: Wir wollen das bestmögliche Ergebnis bekommen.
Nehmen wir mal an, dass es so kommt, wie es aktuell in den Umfragen aussieht. Dann bleibt Söder Ministerpräsident, Aiwanger bleibt sein Vize - und Sie bleiben Landtagspräsidentin?
Aigner: Die erste Entscheidung liegt bei den Wählerinnen und Wählern. Dann schlägt die stärkste Fraktion den Präsidenten oder die Präsidentin des Landtags vor. Ich kann im Moment nur sagen, dass mir der Job wahnsinnig viel Spaß macht und meinem Naturell entspricht. Wenn mich meine Partei darum bittet, würde ich gerne weitermachen.