Herr Meier, wissen Sie noch, was die AHA-Regel ist?
KLAUS MEIER: Da ging es ums Händewaschen, oder?
Es war die Empfehlung der Bundesregierung: "Abstand einhalten, Hygieneregeln beachten, Alltagsmaske tragen".
MEIER: Ich habe in einem Interview während der Pandemie behauptet: Corona wird uns noch lange beschäftigen. Es kam anders, denn die Gesellschaft und jeder Einzelne beherrschen offensichtlich die Kunst der Verdrängung. Dabei sollten wir jetzt versuchen, die Pandemie aufzuarbeiten. Weil wir daraus etwas für andere Krisen lernen können. Und weil andere Pandemien kommen könnten. Wir sollten jedenfalls nicht wieder die gleichen Fehler begehen.
Welchen vor allem?
MEIER: Zu glauben, dass eine Demokratie zeitweise ein autoritäres System sein muss.
Wie meinen Sie das?
MEIER: Es geht mir um die Einstellung, es brauche keine kritische Öffentlichkeit, frei nach dem Motto: "Lass mich in Ruhe mit Demokratie, wir haben Pandemie!" Maßnahmen wurden als alternativlos dargestellt. Eine Demokratie, die es nicht aushält, dass verschiedene Positionen diskutiert werden und Regierungen öffentlich zur Verantwortung gezogen werden, verliert an Tiefgang und Problemlösungschancen. Macht braucht immer Kontrolle. Journalisten hätten viel deutlicher fehlgeleitete Maßnahmen kritisieren müssen, etwa die Isolation von Menschen am Ende ihres Lebens, die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Freien oder den Impfzwang für bestimmte Berufsgruppen. Zudem haben Medien den Fehler begangen, Menschen schnell zu diskreditieren. So kam zum Beispiel das Schimpfwort "Covidioten" auf, das einzelne Politiker verwendeten und das süffisant immer wieder öffentlich gebraucht wurde. Dieses Wort aus "Covid" und "Idiot" hat mich betroffen gemacht.
Sie persönlich?
MEIER: Gute Freunde gingen auf Corona-Demonstrationen, um gegen die massiven Einschränkungen von Grundrechten zu protestieren. Es stellte sich dann ja heraus, dass einzelne Maßnahmen überzogen waren. Die Freunde sind reflektierte Menschen, keine Idioten. Doch sie wurden abgestempelt und beleidigt. Für mich war früh absehbar, dass es zu Polarisierungen in der Gesellschaft kommen wird – und zu Radikalisierungen. Einen Anteil daran hatten Medien.
Unsere Redaktion traf sich im Herbst 2020 mit "Corona-Kritikern". Es war ein höfliches, aber kontroverses Gespräch. Dabei wurde klar, dass Verschwörungsmythen teils mehr vertraut wurde als seriösen Recherchen.
MEIER: Menschen, die sich in Öffentlichkeit und Politik nicht verstanden gefühlt haben, waren ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr erreichbar. Das Phänomen kannten wir schon vor der Pandemie: Man zieht sich in Social Media-Blasen zurück und bestärkt sich dort gegenseitig, was auch zu Radikalisierung führt.
Was wurde vom Journalismus richtig gemacht?
MEIER: Es wurde schnell und korrekt über die Entscheidungen der Bundesregierung oder der jeweiligen Landesregierung informiert und so Orientierung geboten. Darauf war Verlass.
Was hätte besser sein müssen?
MEIER: Eine Frage, die insgesamt zu wenig thematisiert wurde, war eben: Wie weit dürfen die Corona-Maßnahmen gehen? Das wurde nicht kritisch genug thematisiert. Und ein investigativer Journalismus fand lange Zeit gar nicht statt. Skandale um viel zu teure PCR-Tests und völlig überteuerte Impfdosen zum Beispiel wurden erst nach der Pandemie aufgedeckt und blieben bis heute ohne Konsequenzen. Dabei wurden Milliarden verschwendet, die wir noch lange als Schulden in den öffentlichen Haushalten mitschleppen.
Dabei war die Pandemie omnipräsent in der Berichterstattung.
MEIER: Anfangs war das vollkommen gerechtfertigt, Medien kommt die Funktion eines Frühwarnsystems zu. Doch wenn das Warnen zum Dauerzustand wird und jedes Detail mit einer Sondersendung bedacht wird, kann das zu Nachrichtenmüdigkeit oder Nachrichtenvermeidung führen. Das merken wir gerade in der Nach-Coronazeit, in der wir bereits mit neuen Krisen umgehen müssen: Befragungen zeigen auf dramatische Weise, dass sich immer mehr Menschen vom Nachrichtenkonsum verabschieden, weil er sie deprimiert.
Hat das Vertrauen in Medien während der Pandemie gelitten?
MEIER: Während der ersten Hochphase ist das Vertrauen in Journalismus gestiegen. Es bestand ein hoher Informationsbedarf und man fühlte sich offensichtlich gut orientiert, zum Beispiel über die politischen Entscheidungen. Später stieg die Zahl der Skeptiker wieder an.
Gibt es hierbei Unterschiede zwischen den Mediengattungen?
MEIER: Ich würde sagen: Das Fernsehen zielte eher darauf, Entscheidungen der Regierungen oder Warnungen der Pandemieforscher zu transportieren, zum Teil auch alarmistisch.
Denken Sie da an die Bilder von Särgen im italienischen Bergamo?
MEIER: Genau. Aber auch später wurden zum Beispiel immer wieder Intensivstationen gezeigt, in denen es drunter und drüber ging – zugleich gab es welche im Normalbetrieb, die man im TV nicht sah. Im Regional- und Lokaljournalismus wurde vielfältiger berichtet. Es gab neue Formate: "Sie fragen, wir recherchieren". Man war nah an den Menschen – mit kritischem Nachfragen bei lokalen Gesundheitsberufen oder Landratsämtern und in regionalen Kliniken. Ebenso wie mit Geschichten über die Probleme und Nebenwirkungen der Shutdowns für die Menschen – für Unternehmer, Selbstständige, Künstler, Sportler, Schüler, Lehrer, Eltern. Man war nah dran bei den Auswirkungen auf psychisch Kranke, Behinderte oder Familien in problematischen Verhältnissen.
Zugleich entstanden oder etablierten sich sogenannte Alternativmedien von "Querdenkern", Verschwörungsgläubigen oder Rechtspopulisten.
MEIER: Und deren Nutzerinnen und Nutzer wird der verantwortungsvolle Journalismus nicht mehr zurückgewinnen können. Diese Medienangebote erfuhren in der Pandemie einen Auftrieb. Sie finden immer wieder neue Themen, um den Mythos einer großen Verschwörung aufrechtzuerhalten, und biegen sich die Fakten zurecht. Ihre Zielgruppe bewegt sich um die 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung.
Zur Person
Klaus Meier, 1968 in der bayerischen Oberpfalz geboren und ausgebildeter Zeitungsredakteur, ist an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Journalistikprofessor und Vizepräsident für Studium und Lehre. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Wissenschaftsjournalismus.