Es geht bergab – aber in diesem Fall bedeutet das nichts Schlechtes. Diese Talfahrt der Corona-Inzidenzen, die sich seit mehreren Tagen in Bayern beobachten lässt, schürt leise Hoffnungen. Darauf, dass diese vierte, brachiale Welle endlich gebrochen sein könnte. Ist das tatsächlich so? Oder ist das nur eine kurze Atempause, bevor die Zahlen wieder steigen?
Vergangener Dienstag in München. Ministerpräsident Markus Söder tritt ans Mikrofon. „Die Tendenz ist fallend, der Corona-Pegel sinkt“, sagt er. Die scharfen Maßnahmen, die der Freistaat vor einigen Wochen eingeführt hat – Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte, mehr 2G, keine Weihnachtsmärkte, geschlossene Diskotheken – würden wirken, fährt Söder fort.
Ende November war die bayerische Inzidenz mehr als doppelt so hoch
Ein Blick auf die offiziellen Zahlen untermauert seine Ausführungen: Am Freitag lag die Inzidenz – die Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen – im Freistaat nach Angaben des Robert-Koch-Instituts bei 313,4. Ende November war der Wert noch mehr als doppelt so hoch. Mittlerweile liegt auch keine bayerische Stadt und kein bayerischer Landkreis mehr über einer Inzidenz von 1000. Ende Oktober noch waren die fünf Landkreise mit den bundesweit höchsten Werten allesamt im Freistaat zu finden – jetzt besetzen Städte und Landkreise aus Thüringen und Sachsen die Spitze.
Auch die Einweisungen in die Kliniken sinken, wie das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) mitteilt. Die Zahl der gemeldeten hospitalisierten Fälle war am Donnerstag um fast 23 Prozent niedriger als sieben Tage zuvor.
In den Kliniken ist die Lage nach wie vor angespannt
Das LGL schätzt die Situation in Bayern so ein: Ganz grundsätzlich sei davon auszugehen, dass die Maßnahmen, ebenso wie die Impfungen, Auswirkungen auf das bayernweite Infektionsgeschehen hätten, sagt ein Sprecher der Fachbehörde gegenüber unserer Redaktion. Er räumt allerdings ein: „Auch wenn ein grundlegend sinkender Trend der Fallzahlen in Bayern zu beobachten ist, gibt es derzeit vereinzelte Landkreise mit zunehmender Inzidenz.“ Die Infektionsdynamik sei von verschiedenen Parametern – Impfquote, Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung, lokale Ausbruchsgeschehen – abhängig, die sich regional unterscheiden könnten, „sodass sich auf kleinräumigerer geografischer Ebene durchaus eine unterschiedliche oder verzögerte Entwicklung zeigen kann“.
In den Kliniken ist die Situation nach wie vor angespannt. Noch immer liegen fast 1000 Covid-Kranke auf einer bayerischen Intensivstation. Warum schlagen sich die sinkenden Inzidenzen dort kaum nieder? Die Belegung von Intensivbetten sei zwar mit der Fallzahl verknüpft, hänge aber in hohem Maße von der Altersstruktur und dem Immunschutz ab sowie von der Liegedauer der Patientinnen und Patienten, heißt es vom LGL. „Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, dass Krankenhauseinweisungen und damit auch die Betreuung auf Intensivstationen meist verzögert nach Infektionen auftreten und daher bei sinkenden Fallzahlen mit einem nicht zeitgleichen, sondern verzögerten Rückgang der auf den Intensivstationen betreuten Fällen zu rechnen ist“, erklärt der LGL-Sprecher.
In Schwaben stehen nur vereinzelt freie Betten zur Verfügung
Hubert Mayer, der ärztliche Koordinator des Regierungsbezirks Schwaben, beobachtet die sich derzeit ändernden Zahlen genau. „Die Gesamtlage für Bayern hat sich etwas entspannt“, sagt er. In Schwaben würden sich die Zahlen aber weiterhin auf einem sehr hohen Niveau bewegen, mit einer Gesamtauslastung der Intensivbetten von 94 Prozent. (Stand Mittwoch). Der Anteil der Covid-Patienten liege zwischen 40 und 56 Prozent. „Die Belastung ist insgesamt immens hoch, es stehen tatsächlich nur vereinzelte, freie Betten zur Verfügung“, macht Mayer deutlich. „Ich hoffe, dass sich die Situation bei sinkenden Inzidenzen noch entspannt.“
Auch der Münchner Corona-Experte Professor Dr. Clemens Wendtner blickt aufmerksam auf die bayerischen Inzidenzen – und warnt, auch mit Blick auf den Rest des Landes, vor allzu viel Optimismus. „Ich glaube, es ist fast zynisch, zu spekulieren, ob wir bei sehr vielen Neuinfektionen pro Tag in Deutschland, in der Größenordnung von mehreren zehntausend Menschen, eine Welle im Griff haben. Das würde ich klar dementieren“, sagt der Chefarzt an der München Klinik Schwabing. „Wir wissen, dass wir von diesen Neuinfizierten 0,8 Prozent pro Tag verlieren werden, diese Patientinnen und Patienten werden sterben. Das sind logischerweise mehrere hundert Menschen pro Tag.“
Experte warnt: Registrierung der Neuinfektionen funktioniert nicht gut
Die Inzidenzen sind Wendtner zufolge trügerisch. „Zum einen funktioniert die Registrierung der Neuinfektionen derzeit nicht gut. Zum anderen gibt es technische Probleme, die Bereitstellung von Testkits funktioniert nicht mehr so wie man sich das wünschen würde, es gibt durchaus Engpässe.“ Derzeit würden sich vor allem diejenigen testen, die Symptome hätten. Die, die keine hätten, würden keine Abstriche machen lassen, wenn sie es nicht müssten. „Es gibt also viele Neuinfektionen, die wir gar nicht registrieren. Von daher glaube ich nicht, dass wir die Welle bereits gebrochen haben. Wir haben bestenfalls eine Lateralbewegung unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer.“
Hinzu komme, dass sich derzeit bereits die neue Omikron-Variante im Freistaat verbreitet. Das werde zwangsläufig wieder zu mehr Neuinfektionen führen, sagt Wendtner. „Die Situation erinnert an das Frühjahr 2021, als die Delta-Welle bereits versteckt im Hintergrund anrollte und man sich zu früh über eine abklingende Alpha-Welle freute“, fährt der Mediziner fort. „Man sollte daher die Delta/Omikron-Doppelwelle nicht unterschätzen, denn sie könnte schnell und heftig bereits in wenigen Wochen anrollen.“