Herr Prof. Dr. Wendtner, Sie haben immer gewarnt, nun spitzt sich die Corona-Lage gerade in Bayerns Kliniken wieder massiv zu. Wie ist bei Ihnen in der München Klinik Schwabing die Lage?
Prof. Dr. Clemens Wendtner: Wir haben aktuell stationär so viele Covid-Patientinnen und -Patienten wie wir es noch nie hatten: 219. Dabei ist zwar der Anteil der Intensivpatienten geringer als in den Jahren 2020 und 2021, aber auch jetzt liegen etwa zehn Prozent der Covid-Patienten auf der Intensivstation.
Aber es sind vor allem Patienten, die wegen einer anderen Erkrankung gekommen sind und zusätzlich auch noch Covid haben, oder?
Wendtner: Nein, so ist es nicht. Denn auch Omikron ist nicht so harmlos wie es immer wieder dargestellt wird. Etwa die Hälfte von unseren 219 Covid-Patienten ist ausschließlich wegen Corona zu uns gekommen und diese Patientinnen und Patienten haben ganz massive Probleme, etwa mit ihrer Lunge oder sie leiden an Herzmuskelentzündungen.
Sind es Menschen mit Vorerkrankungen, die jetzt so schwer an Covid erkranken, dass sie in die Klinik müssen?
Wendtner: Nein, auch diese Behauptung, dass nur noch Menschen mit Vorerkrankungen schwer an Covid erkranken, stimmt nicht. Etwa Dreiviertel unserer Covid-Patienten sind 60 Jahre und älter und viele von ihnen sind nicht zum vierten Mal geimpft. Manche haben auch gar keine ausreichende Grundimmunisierung, ihnen fehlt oft ein Booster oder der Booster liegt schon sehr lange zurück. Es gibt natürlich auch immunsupprimierte Patienten, beispielsweise Tumorpatienten nach einer Stammzelltransplantation, deren Immunabwehr sehr schwach ist und die dann an Covid erkranken.
Das heißt, Sie empfehlen dringend eine vierte Impfung?
Wendtner: Ja, alle Menschen über 60 Jahre sollten sich zum vierten Mal impfen lassen. Auch im Übrigen, wenn sie eine Infektion schon überstanden haben. Denn drei bis vier Monate nach einer Infektion verlieren sie den immunologischen Effekt. Doch es lassen sich leider viel zu wenig Menschen das vierte Mal impfen.
Und es erkranken auch immer mehr Pflegekräfte an Covid…
Wendtner: Das ist ja das Hauptproblem der Kliniken aktuell: dass wir mit weniger Pflegekräften immer mehr Patienten versorgen müssen. Hatten wir im ersten Corona-Jahr 2020 noch circa 9000 Quarantäne- oder Isolationstage in unserer Mitarbeiterschaft in Folge einer Covid-Erkrankung, so sind es 2022 bisher schon 25.000 Tage – also mehr als doppelt so viele. Dadurch sind etwa 25 Prozent unserer Bettenkapazität momentan stillgelegt. Das bedeutet, dass die Notfallversorgung natürlich gewährleistet wird, dass aber beispielsweise die Patientin mit einem Mammakarzinom, also mit Brustkrebs, auf ihre Operation eventuell warten muss. Und das ist wirklich traurig, denn niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, ob aufgrund der Verschiebung von OPs nicht doch Patienten Schaden nehmen.
Der Geschäftsführer des Klinikverbunds Allgäu wünschte sich im Gespräch mit unserer Redaktion vor Kurzem einen anderen Umgang mit der Isolationspflicht in Kliniken und verwies auf unsere Nachbarländer…
Wendtner: Die Aufhebung der Isolationspflicht funktioniert in vielen Bereichen der Klinik aus meiner Sicht nicht. Das können sie vielleicht in der Verwaltung machen, wenn der Mitarbeitende in einem Einzelzimmer sitzt, in einem Großraumbüro geht es schon nicht mehr so einfach. Aber in unserem Haus sind beispielsweise viele Krebspatientinnen und Krebspatienten, die kann man doch nicht der Gefahr aussetzen, dass sie sich in der Klinik auch noch Corona holen. Daher ist es auch so wichtig, dass nur Besucher die getestet sind ins Haus dürfen und nur mit Maske.
Es werden aber verstärkt Klagen laut, dass schwer kranke Patientinnen und Patienten wieder nur zeitlich sehr begrenzt und nur von einem Angehörigen besucht werden dürfen. Und dass auch demente Patienten sehr unter den rigiden Besuchsregeln leiden.
Wendtner: Auch bei uns hier in der München Klinik Schwabing darf in der Regel täglich nur ein Besucher pro Patient für eine begrenzte Zeit kommen. Anders lässt sich die Infektionsgefahr bei diesem dynamischen Infektionsgeschehen einfach nicht eindämmen.
Wie lässt sich das Infektionsgeschehen denn in der Gesellschaft eindämmen?
Wendtner: Ich halte den Vorschlag für eine sofortige Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen für sehr richtig. Auch in Bayern müsste aus meiner Sicht eine Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen erwogen werden. Hier auf Freiwilligkeit zu setzen, bringt wenig. Das sehen wir doch beispielsweise auf vielen Veranstaltungen: Wer eine Maske trägt, wird derzeit fast schon wie ein Aussätziger behandelt. Dabei ist eigentlich derjenige unsolidarisch, der keine Maske trägt. Es muss meines Erachtens ja nicht immer eine FFP2-Maske sein, ich wäre schon froh, wenn wieder alle Menschen in Innenräumen eine OP-Maske richtig tragen würden.
Würden Sie auch in Schulen wieder eine Maskenpflicht anordnen?
Wendtner: Ja, auch in den Innenräumen von Schulen müssten wir wieder eine Maskenpflicht haben. Und ich habe selbst eine schulpflichtige Tochter, ich weiß also, wie es in Schulen ist. Dort fallen doch aktuell sowohl wieder reihenweise Schülerinnen und Schüler als auch Lehrerinnen und Lehrer in Folge einer Covid-Erkrankung oder anderen Atemwegsinfektionen aus.
Aber bei Kindern steht das Maskentragen besonders in der Kritik.
Wendtner: Ab der fünften Klasse halte ich eine Maskenpflicht in Innenräumen auch an Schulen für einen zumutbaren Schutz für die Schüler und für die Lehrer.
Bevor ich Ihre Klinik betrete, muss ich mich testen lassen. Generell gehen die Coronatests aber stark zurück. Brauchen wir wieder kostenlose Tests?
Wendtner: Ich bedaure es sehr, dass die Testpflicht für Veranstaltungen weitestgehend abgeschafft wurde. Bei diesem Infektionsgeschehen, das wir jetzt haben, wären Zugangsbeschränkungen in Form von Tests sehr wichtig, aber beispielsweise auch eine Bestuhlung mit mehr Abstand. Bei den Tests ist es wie mit den Masken: Allein auf die Freiwilligkeit und die Eigenverantwortung zu setzen, bringt wenig. Doch die kostenlosen Bürgertests scheinen zu teuer zu sein. Die Folgen sehen wir jetzt: Wir haben Superinzidenzen und eine Superhospitalisierung. Und einen Wendepunkt der Welle sehe ich noch gar nicht: Zu uns kommen jeden Tag mehr Patienten. Ich fürchte, wir müssen davon ausgehen, dass dies wieder ein harter Herbst wird, vielleicht ein noch härterer als der vorherige.
Müssen wir auch mit neuen Varianten rechnen?
Wendtner: Das kann zum jetzigen Zeitpunkt keiner seriös ausschließen. Aktuell ist noch die Omikron-Variante BA.5 mit etwa 95 Prozent vorherrschend. Zu befürchten ist aktuell vor allem, dass sich die Variante BA.2.75.2 durchsetzen wird, die vor Kurzem ja auch im Münchner Abwasser nachgewiesen werden konnte. Sie hat 30 Mutationen mehr als das ursprüngliche Wildtyp-Virus und besitzt vor allem die Eigenschaften, die bisherigen Immunisierungen zu unterlaufen, sie könnte wirklich sehr gefährlich werden, wenn sie sich denn wirklich durchsetzen sollte.
Was nach wie vor auch noch als großes Problem gilt, ist Long-Covid. Im Deutschen Ärzteblatt war nun allerdings zu lesen, dass sich einer Studie zufolge die Beschwerden meist innerhalb eines Jahres bessern.
Wendtner: Ein Jahr ist aber eine sehr lange Zeit, zumal nicht wenige in Folge ihrer Beschwerden auch nicht arbeiten können. Long- oder Post-Covid ist daher nach wie vor ein großes Problem und ein Risiko auch bei einem milden Infektionsverlauf. Etwa ein Prozent aller an Covid Erkrankten entwickelt Long- oder Post-Covid, das sind sehr viele Menschen.
Herr Hirschhausen hat jetzt mit der Empfehlung, an Long-Covid-Patienten eine Blutwäsche durchführen zu lassen, für Schlagzeilen und auch für Kritik gesorgt. Wie sehen Sie diesen Rat?
Wendtner: Long-Covid-Patienten eine Blutwäsche zu empfehlen, halte ich für absolut unseriös. Dafür gibt es keinerlei wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise und Transfusionsmediziner warnen zu Recht vor diesem Eingriff. Denn anders als von Hirschhausen dargestellt, ist eine Blutwäsche alles andere als eine harmlose Therapie, denn sie kann z.B. den Kreislauf stark belasten. Hinzu kommt, dass sie sehr viel Geld für die Patienten kostet, da sie in der Regel nicht von den Krankenkassen erstattet wird. Nein, dazu kann ich auf der Basis der aktuellen Faktenlage keine Empfehlung aussprechen.
Zur Person: Prof. Dr. Clemens Wendtner, 57, ist Chefarzt an der München Klinik Schwabing, Immunologe, Onkologe und Corona-Experte. Er berät die Bayerische Staatsregierung und erhielt kürzlich den Bayerischen Verdienstorden für seinen Einsatz in der Corona-Pandemie.