Mit festem Blick schaut sie in die Objektive der Kameras, die sich wie eine Wand vor ihr aufgebaut haben. "Frau Wagenknecht, bitte hier." "Noch mal hier nach links bitte." Rechts und links von ihr stehen je zwei ihrer Mitstreiter, doch das Blitzlicht gilt vor allem ihr. Sahra Wagenknecht genießt den Augenblick sichtlich. Es ist lange her, dass der Saal der Bundespressekonferenz so gut gefüllt war wie an diesem Montagmorgen. Ein politisches Spektakel wird hier, in der nüchternen Umgebung aus Furnierholz, schmutzabweisendem Teppichboden und aufgereihten Polsterstühlen, begangen. Im limettengrünen Kostüm verkündet Wagenknecht das, was ihr säuerliche Mienen nicht nur bei ihren einstigen Parteifreunden garantiert.
"Wir haben uns zur Gründung einer neuen Partei entschieden, weil wir überzeugt sind, so wie es derzeit läuft, darf es nicht weitergehen", sagt die 54-Jährige. "Denn sonst werden wir unser Land in zehn Jahren wahrscheinlich nicht wiedererkennen." Wenige Stunden vorher ist sie aus der Linkspartei ausgetreten. Wagenknecht hat sich von der stärksten Stimme der Linken zu deren schärfsten innerparteilichen Kritikerin entwickelt – und wird nun womöglich zu ihrer Totengräberin. Obwohl seit Monaten darüber spekuliert worden war, ist das, was an diesem 23. Oktober 2023 geschieht, eine politische Wegmarke, die Deutschland dauerhaft aufwühlen könnte. "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) heißt der Verein, aus dem zum Januar 2024 die neue Partei hervorgehen soll. Der Zeitpunkt erscheint ihr fast zwingend: Die Bundesrepublik habe die schlechteste Regierung ihrer Geschichte. Die Ampel arbeite planlos, kurzsichtig und inkompetent. Sie selbst wolle "zurück zur Vernunft", weg "von einem blinden, planlosen Ökoaktivismus" – es ist der Sound, der vielfach zu hören ist in diesen Zeiten, egal ob in Berlin, München oder Erding.
Zehn Abgeordnete der Linken schließen sich Sahra Wagenknechts "BSW" an
Wagenknecht ist sich ihrer Wirkung, der Polarisierung ihrer Person, deutlich bewusst. Immer wieder schaut sie mit einem zufriedenen beinahe selbstgefälligen Lächeln durch den vollen Saal. Auf dem Podium sitzen die bisherige Co-Vorsitzende der Linksfraktion Amira Mohamed Ali, Wagenknechts Vertrauter und Fraktionskollege Christian Leye, der ehemalige Geschäftsführer der Linken in Nordrhein-Westfalen, Lukas Schön, und der Unternehmer Ralph Suikat. In der Bundestagsfraktion der Linken zählen zudem die Abgeordneten Alexander Ulrich, Sevim Dagdelen und Jessica Tatti zu ihrem Umfeld. Zehn Abgeordnete und sechs Mitglieder sollen Wagenknecht folgen. Selbst Klaus Ernst ist einer von ihnen. "Es tut mir in der Seele weh, die Partei zu verlassen, die ich selbst mitgegründet habe und deren Vorsitzender ich war", sagt er. "Doch es geht nicht anders, die aktuelle Spitze hat keine Gelegenheit ausgelassen, den Flügel um Sahra Wagenknecht, dem auch ich angehöre, zu verprellen und eine Politik zu betreiben, die ausschließt." Es sind die gleichen Argumente, die auch Mohamed Ali vorbringt. "Die Linke war viele Jahrzehnte unsere politische Heimat. Aber wir sind überzeugt, dass es notwendig und richtig ist." Sie habe lange darum gekämpft, dass die Parteiführung ihren Kurs ändere. Wahlniederlagen der vergangenen Jahre und auch der diesjährigen Hessenwahlen seien nicht ergründet worden, man habe die Schuld immer nur Sahra Wagenknecht zugeschoben. "Wir gehen ohne Groll und nehmen viele gute Erinnerungen mit", sagt sie.
Doch ohne Groll, so viel ist schon jetzt klar, wird auch diese politische Trennung nicht ablaufen. Mit dem Austritt der Wagenknecht-Truppe aus der Fraktion der Linkspartei steht die vor der Abwicklung. Die Abgeordneten selbst bleiben zwar im Bundestag. Aber für die vielen Mitarbeiter in den Büros bedeutet das Ende der Fraktion die Entlassung. "An dem Punkt bin ich richtig sauer", sagt Susanne Ferschl. Es ist so etwas wie der Treppenwitz dieses Tages: Die Allgäuer Linken-Bundestagsabgeordnete setzt sich für soziale Fragen und den Schutz von Arbeitnehmern ein - nun muss die Fraktion selbst einen Sozialplan ausarbeiten. Mehr als 100 Menschen könnten noch vor Weihnachten die Kündigung im Briefkasten haben. "Das macht mich echt betroffen", sagt Ferschl. "Vor allem, wenn man sich dann in eine Pressekonferenz setzt und behauptet, man wolle die arbeitende Bevölkerung in den Vordergrund stellen." Sie rät ihrer Fraktion deshalb, auf das Angebot von Wagenknecht einzugehen und die Abweichler zumindest vorübergehend in der Fraktion zu belassen - ein Aufschub, aber immerhin. "Ich glaube, dass es durchaus möglich ist, die paar Wochen noch gemeinsam zu arbeiten", sagt sie. "Das sind ja nicht unsere Feinde, sondern waren bis vor Kurzem unsere Genossinnen und Genossen."
Wagenknecht umgibt der Mythos der Unangepassten
Ob ihre Parteifreunde das genauso sehen, ist offen. Denn die Entfremdung der Genossinnen und Genossen hat schon vor Jahren eingesetzt, um sich zuletzt im Angesicht der schlechten Wahlergebnisse zusehends zu beschleunigen. Dass Wagenknecht als die kühle Schöne in den Talkshows saß und dort Positionen vertrat, die der Parteilinie widerstrebten, stieß so manchem sauer auf. Anpassen wollte sich Wagenknecht nie. Weder in der DDR, wo sie vom Regime als "nicht genügend aufgeschlossen fürs Kollektiv" beschrieben wurde, noch in der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), in der Gregor Gysi sogar den Rücktritt erwog, sollte Wagenknecht 1995 erneut in den Vorstand gewählt werden. Und auch nicht in der Linken, wo sie von Mitgliedern als scheu und unnahbar empfunden wird. Der Verfassungsschutz beobachtete sie 2008 wegen ihrer "offen extremistischen Ansichten", in ihrem Buch "Die Selbstgerechten" drehte sie den politischen Betrieb, dem sie selbst angehört, regelrecht durch den Fleischwolf.
Gerade dieser Mythos des Unangepassten ist es, der viele fasziniert. Und der nun Wählerinnen und Wähler anlocken soll. Einer Insa-Umfrage für Bild am Sonntag zufolge könnten sich 27 Prozent der Befragten in Deutschland vorstellen, eine Wagenknecht-Partei zu wählen. Albrecht von Lucke muss lachen, wenn er solche Zahlen hört. Der Politikwissenschaftler ("Blätter für deutsche und internationale Politik") beobachtet die Linkspartei und Sahra Wagenknecht seit vielen Jahren. "Aber ein Potenzial von gut zehn Prozent traue ich ihr durchaus zu", sagt er. Seinen Abgleich mit der Wirklichkeit muss das BSW schon im kommenden Jahr bestehen. Neben der Europawahl stehen drei Landtagswahlen im Kalender, alle drei finden im Osten der Republik statt. Thüringen, Brandenburg, Sachsen. Dort, wo die AfD ihre Machtzentren hat. Das Potenzial bei derzeitigen AfD-Unterstützern ist laut Umfragen besonders hoch. Auf schmerzhafte Einschnitte für die Rechtsaußen-Partei hoffen deshalb einige und freuen sich über die neue Partei. Doch, so mahnt von Lucke, das könnte zu kurz gedacht sein. "Wenn es nun mit der AfD und einer Wagenknecht-Partei zwei populistische Gruppierungen gibt, die die Mitte in die Zange nehmen, wird das Regieren für die vernünftigen Parteien immer schwieriger", sagt er. "Wir werden bald erleben, dass Parteien zu Koalitionen zusammengezwungen werden, die noch weniger zusammenpassen als jetzt bereits die Ampelregierung. Für die Demokratie wird das ein echtes Problem."
Wird das BSW zum Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker?
Das glaubt auch Volker Ullrich, CSU-Abgeordneter aus Augsburg: "Eine weitere Zersplitterung der deutschen Parteienlandschaft ist keine gute Nachricht für unser Land." Es sei zu befürchten, dass nach Linke und AfD nun eine dritte moskaufreundliche, europafeindliche Partei entstehe. "Und wie Linke und AfD wird Sahra Wagenknechts Partei ein Sammelbecken von Querdenkern und Verschwörungstheoretikern sein." Die Neugründung ist also nicht nur ein Risiko für die Linkspartei – sie ist auch eines für Wagenknecht selbst. Schon 2018 war sie mit ihrer Sammlungsbewegung "Aufstehen" gescheitert. Viele Weggefährten beschreiben sie als Einzelgängerin, als wenig teamfähig, als Politikerin, die die Theorie in den Talkshows besser beherrscht als die bisweilen mühsame Praxis des täglichen Parteien-Kleinkleins.
Koalitionsfähig, so viel zeigt sich bereits jetzt, dürfte dieses Bündnis für die anderen Parteien kaum sein. Die Politik, die Wagenknecht vorantreibt, würde dafür sorgen, dass das Deutschland von morgen nicht mehr das Deutschland von heute wäre. Partner wären nicht mehr die USA und die EU, sondern Russland und China. Statt auf Globalisierung setzt sie auf Protektionismus. Pazifismus hieße nicht mehr, sich autokratischen Systemen entgegenzustellen, sondern um einer Grabesstille willen deren Wünsche zu erfüllen. Schluss mit den Russland-Sanktionen, eine deutliche Begrenzung der Flüchtlingszahlen, keine Waffen für die Ukraine, Klimaschutz nur mit "Zukunftstechnologien". Gregor Gysi, wie Wagenknecht eine der schillerndsten linken Figuren, fasst das so zusammen: "Sie will Flüchtlingspolitik wie die AfD machen, Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard und Sozialpolitik ein bisschen wie die Linke. Und dann hat man immer die Hoffnung, man kriegt von allen drei Wählerinnen und Wählern."
Schwarzer Tag für die Linkspartei
Weh tut das allen Parteien, tödlich könnte es für die Linke sein. Bei der letzten Bundestagswahl schaffte sie nicht einmal fünf Prozent, nur durch Direktmandate gelang ihr der Einzug in den Bundestag. "Trotzdem gibt es auch bei uns in der Partei einige, die meinen, sie müssten sich darüber freuen, dass Sahra Wagenknecht endlich weg ist", sagt die Allgäuer Abgeordnete Ferschl. Sie selbst hat sich vorgenommen, nun erst recht die Ärmel hochzukrempeln und auch die Fehler aus der Vergangenheit aufzuarbeiten. Diese Selbstreflexion und Fehleranalyse erwartet sie aber insbesondere auch von der Parteispitze. Und doch weiß auch sie, dass dieser Einschnitt ein großer ist. "Heute ist ein trauriger Tag, denn heute ist der Tag, an dem sich die Linke aufspaltet", sagt sie. Und eine Aufspaltung, das sei doch nie etwas Gutes.