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Befreiung vor 75 Jahren: KZ Dachau: "Es schwebte immer der Tod über den Köpfen der Häftlinge"

Befreiung vor 75 Jahren

KZ Dachau: "Es schwebte immer der Tod über den Köpfen der Häftlinge"

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    Tag der Befreiung: Sieben jüdische Frauen mit ihren Säuglingen, fotografiert am 29. April 1945 von einem amerikanischen Soldaten im Konzentrationslager Kaufering I, einem Außenlager des KZ Dachau.
    Tag der Befreiung: Sieben jüdische Frauen mit ihren Säuglingen, fotografiert am 29. April 1945 von einem amerikanischen Soldaten im Konzentrationslager Kaufering I, einem Außenlager des KZ Dachau. Foto: WDR, USHMM Washington, dpa

    Frau Raim, Sie sind Dozentin für Geschichte an der Uni Augsburg und haben sich auf das Konzentrationslager Dachau spezialisiert, dessen Befreiung durch US-Streitkräfte sich am 29. April zum 75. Mal jährt. Wie kam es, dass Sie sich auf dieses Forschungsthema konzentriert haben?

    Edith Raim: Das kam durch den lokalen Bezug. Ich bin zwar in München geboren, aber in Landsberg aufgewachsen. Das Konzentrationslager Dachau hatte rund 150 Außenlager: Etwa in Burgau, Augsburg, Steinholz bei Kaufbeuren, Kempten, aber auch Kaufering und eben Landsberg.

    Wie entstand das Konzentrationslager Dachau und wie viele Häftlinge gab es dort?

    Raim: Dachau war das erste KZ im Dritten Reich. Es wurde schon kurz nach der Machtergreifung im März 1933 vom damaligen Münchner Polizeipräsidenten Heinrich Himmler, später als Reichsführer SS der zweitmächtigste Mann nach Hitler, gegründet. Zweck des KZ war zunächst die Inhaftierung der politischen Opposition und auch die Abschreckung der Bevölkerung, sich oppositionell zu betätigen. Dachau war zwar kein Vernichtungslager wie etwa Auschwitz. Dennoch sind von den rund 200.000 Häftlingen mehr als 40.000 ermordet worden oder anderweitig, etwa durch Erschöpfung oder Krankheit, umgekommen.

    Hatte das KZ Dachau eine besondere Rolle im Dritten Reich?

    Raim: Definitiv. Es war sozusagen die Blaupause für alle anderen Konzentrationslager, die danach aufgebaut wurden. Es existierte auch am längsten – von 1933 bis 1945. Ein besonderes Kennzeichen war die totale Dominanz der SS. Der Lagerkommandant war absoluter Herr über Leben und Tod. Es gab keine Anklage, keine Rechtsgrundlage und die Häftlinge hatten keine Ahnung, wie lange sie interniert sein würden. Selbst im Dritten Reich konnte man im Gefängnis Besuch von Angehörigen empfangen oder es gab Briefverkehr. Bei einem KZ war das nicht der Fall.

    Änderten sich die Aufgaben des KZ Dachau im Laufe der Zeit?

    Raim: Nachdem die Nazis ihre Macht gefestigt hatten, war die Ausschaltung der Opposition nicht mehr zentrale Aufgabe. Die Machthaber suchten sich immer neue Gruppen, um sie zu verfolgen: Priester, Zeugen Jehovas, Homosexuelle – Juden sowieso. Mit Beginn des Krieges kamen immer mehr ausländische Häftlinge aus den besetzten Ländern aus ganz Europa dazu. Ab 1941 gab es dann in Dachau massenhafte Erschießungen von sowjetischen Kriegsgefangenen. Allerdings wurden die Häftlinge im Verlauf des Krieges auch immer mehr für Zwangsarbeit etwa für die Rüstungsindustrie gebraucht. Darum war es nicht das Ziel, einfach alle Häftlinge umkommen zu lassen.

    Inwieweit wusste die Bevölkerung von dem, was in Dachau vorging? Es gab das geflügelte Wort: „Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm…“

    Raim: Schon über die Eröffnung des KZ 1933 wurde ganz normal in der Zeitung berichtet. Es sprach sich natürlich auch herum, dass das KZ Dachau und alle anderen KZ schreckliche Orte sind. Vermutlich wussten die Menschen aber nicht genau und im Detail, was sich dort abspielte. Man vermutete eher, dass es dort in etwa wie in einem Gefängnis oder in einem Arbeitslager zugehe.

    Tatsächlich spielten sich aber sehr schreckliche Dinge in Dachau ab…

    Raim: Es gab Misshandlungen aller denkbaren Formen und natürlich schwebte immer der Tod über den Köpfen der Häftlinge. Ein besonders furchtbares Kapitel sind sicherlich die Menschenversuche, die SS-Ärzte dort vornahmen.

    Welche Versuche waren das?

    Raim: Sie hatten alle mehr oder weniger damit zu tun, dass man Erkenntnisse für den Krieg und die Überlebensfähigkeit der Soldaten herausfinden wollte. So setzte man rund 200 Menschen starkem Unterdruck aus, von denen bis zu 80 daran starben. Die Erkenntnisse waren für die Luftfahrt oder den U-Boot-Krieg von Bedeutung. Zudem gab es etwa Versuche mit Unterkühlung. 1100 Häftlinge wurden mit Malaria infiziert. Die Analysen sollten dem Afrikafeldzug zugutekommen.

    Wie sahen die letzten Monate vor der Befreiung aus?

    Raim: Die Situation war extrem chaotisch. Es gab Todeszüge von evakuierten KZ im Osten, die mit Häftlingen nach Dachau hinführten. Viele kamen auf der Reise elendiglich um. Dann wieder gab es Todesmärsche von Dachau am Starnberger See entlang nach Süden. So entstand das Mysterium „Alpenfestung“. Angeblich sollten die Häftlinge dorthin verlagert werden. Aber eine solche Festung gab es nicht. Bis heute ist nicht genau bekannt, was es damit auf sich hatte. Vielleicht wollte man die Häftlinge in abgelegene Täler führen, um sie als „Verhandlungsmasse“ mit den Alliierten zu verwenden. Von den rund 60.000 Häftlingen, die am Kriegsende dem KZ Dachau zugerechnet wurden, befand sich der größere Teil in den Außenlagern.

    Was passierte am Tag der Befreiung?

    Raim: Die US-Truppen fanden neben dem Lager den Todeszug aus Buchenwald, der voller Leichen war. Etwa 2300 Tote. Die amerikanischen Soldaten waren darüber so entsetzt, dass sie spontan Selbstjustiz verübten und SS-Männer töteten, die sich schon ergeben hatten.

    Was geschah in den Folgejahren?

    Raim: Das KZ Dachau war von 1945 bis 1948 Ort der sogenannten „Dachauprozesse“, wo viele NS-Kriegsverbrecher verurteilt wurden – teils zum „Tod durch den Strang“.

    Inzwischen ist das KZ eine wichtige Gedenkstätte. Wie kam das?

    Raim: 1965 – also 20 Jahre nach Kriegsende – wurden Stimmen laut, dass das ehemalige KZ in einen Ort des Gedenkens an das Grauen verwandelt werden sollte. Insbesondere viele bayerische Überlebende der Anfangszeit des Lagers hatten dies gefordert. Ihre Stimme wog viel. Ohne sie hätte es sicher nicht geklappt. Denn die Grundstimmung in der Gesellschaft war damals eher: „Jetzt reicht’s. Wir wollen nicht immer auf die Nazizeit reduziert werden.“

    Heute besuchen pro Jahr 800.000 Menschen die Gedenkstätte.

    Raim: Damit ist das KZ Dachau die Nummer zwei der „touristischen“ Ziele in Bayern – nach Schloss Neuschwanstein. Das wissen viele nicht. Viele Besucher sind Schulklassen. Aber es kommen Menschen aus aller Welt. Oft sind es ganze Familienverbände.

    Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Welchen Einfluss hat das auf die Erinnerungsarbeit?

    Raim: Aus Sicht der Geschichtsforschung ist es relativ normal, dass man viele Sachverhalte bearbeitet, bei denen man keine Zeitzeugen mehr befragen kann. Aber natürlich ist es traurig, dass es bald keine Überlebenden mehr gibt. Gerade für Schulklassen ist ihr Wert unschätzbar. Das kann durch nichts ersetzt werden. Da kann die Gedenkstätte noch so gut informieren. In Zukunft wird man die Zeitzeugen vermehrt etwa in Videos zu Wort kommen lassen.

    Vor kurzem haben Sie die Erinnerungsarbeit in Kaufering kritisiert. Warum?

    Raim: Kaufering und auch Landsberg sind in der NS-Geschichte keine unbedeutenden Orte. Im Landsberger Gefängnis schrieb Hitler 1923/24 „Mein Kampf“. Die Stadt wurde 1937 zu einer Art NS-Wallfahrtsort, wohin Angehörige der Hitlerjugend reisten, um dort das Buch des „Führers“ in Empfang zu nehmen. In Kaufering starben tausende von jüdischen KZ-Häftlingen beim Bau von Bunkern, in denen Kampfflugzeuge produziert werden sollten, wozu es aber nicht kam. Bloß: Wo findet man Hinweise darauf in Kaufering und Landsberg? Nirgends so richtig. Das sollte sich ändern. Nun hat ja die Staatsregierung Geld zugesagt. Mal sehen, ob das jetzt im Zuge der Corona-Krise so bleibt.

    Zur Person: Edith Raim, 54, ist Dozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Sie wohnt in Landsberg.

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