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Augsburger Pflegeskandal: Was läuft da schief im System der ambulanten Pflegedienste?

Augsburger Pflegeskandal

Was läuft da schief im System der ambulanten Pflegedienste?

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    3,4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Drei Viertel von ihnen werden zu Hause versorgt, viele durch ambulante Pflegedienste.
    3,4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Drei Viertel von ihnen werden zu Hause versorgt, viele durch ambulante Pflegedienste. Foto: Annette Zoepf

    Die schönsten Tage sind für Theodora Heinsch (Name geändert) die Duschtage. Montag, Mittwoch und Freitag, wenn Valeria Hochreiter oder eine andere Pflegefachkraft der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in ihre kleine Wohnung kommt, um die 82-Jährige zu waschen. Die Ganzkörperwäsche macht die Augsburgerin glücklich. Sie sagt, sie fühle sich danach zehn Jahre jünger.

    15,70 Euro rechnet der ambulante Pflegedienst für eine Ganzkörperwäsche ab. Eine Leistung, die Valeria Hochreiter auf einem Bogen Papier dokumentieren muss, samt Einsatzzeit und einem Kürzel für ihren Namen.

    Das Pflegesystem ist kompliziert. Und es ist anfällig für Betrug. Vor einem Monat hat die Kripo in Augsburg ein Netzwerk aufgedeckt, das für einen Millionenbetrug in der Branche verantwortlich sein soll. Ambulante Pflegedienste – in diesem Fall mit überwiegend russischstämmigen Betreibern und Patienten – rechneten Leistungen ab, die gar nicht erbracht wurden. Patienten wurden auf dem Papier kränker gemacht, als sie es wirklich sind.

    Drei Viertel der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt
    Drei Viertel der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt Foto: Annette Zoepf

    Und noch immer fragt man sich: Was läuft schief im Pflegesystem, dass ein derartiger Betrug möglich ist? Liegt es daran, dass die Zahl der Pflegebedürftigen immer weiter steigt – auf bundesweit derzeit 3,4 Millionen Menschen, von denen drei Viertel zu Hause versorgt werden? Weil, wer irgendwie kann, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben will.

    Theodora Heinsch ist nur eine der Klientinnen, die an diesem Mittwochmorgen auf den AWO-Pflegedienst wartet. Die alte Dame mit dem kahlen Kopf trägt noch ihr Nachthemd. Auf dem Rollator hat sie die Kleidungsstücke für den Tag zurechtgelegt. Ihre Lockenperücke thront auf dem Stapel. „Sie haben ja schon alles parat“, lobt Pflegefachkraft Valeria Hochreiter und begleitet die Frau ins Badezimmer. Hochreiter hat ein sanftes Gemüt. Sie begegnet ihren Klienten, wie die Pflegebedürftigen in der Branche genannt werden, freundlich, aber auch bestimmt. Denn Zeit bedeutet in der Pflege Geld.

    Das Geld fließt in der Pflege nicht immer dahin, wo es benötigt wird

    Und Geld gibt es in diesem System eine ganze Menge – auch wenn es scheinbar an allen Ecken und Enden fehlt. Womöglich fehlt es aber auch deshalb, weil an anderer Stelle abkassiert wird. Weil das Geld nicht dahin fließt, wo es benötigt wird. Sondern zu jenen, die am cleversten sind – oder kriminell. Allein die acht Augsburger Pflegedienste, die aktuell im Visier der Kripo sind, sollen mindestens einen hohen einstelligen Millionenbetrag zu viel abkassiert haben – von Krankenkassen, Pflegekassen und vom Staat. Martin Gleber ist der Chef der 25-köpfigen Pflege-Soko bei der Augsburger Kripo. Er sagt, das sei nur die Spitze des Eisbergs. Welche Summen so in ganz Deutschland auf den falschen Konten landen, mag auch er sich nicht ausmalen.

    Valeria Hochreiter arbeitet seit zehn Jahren als ambulante Pflegekraft für die AWO. Sie fährt zu pflegebedürftigen Menschen, wäscht sie, legt Kompressionsstrümpfe an, versorgt Wunden, gibt Medikamente aus oder tauscht Bettzeug. Zuvor verkaufte die 62-Jährige in einer Bäckerei Brot und Semmeln. „Anfangs hat mich der Pflegeberuf überfordert“, erinnert sie sich. „Ich musste lernen, die Probleme und Schicksale der Klienten nicht zu sehr an mich heranzulassen.“ Und sie musste lernen, bei welchem Handgriff welche Leistung abgerechnet werden kann. Der Katalog ist lang.

    Wie Pfleger mit den Schicksalen umgehen
    Wie Pfleger mit den Schicksalen umgehen Foto: Annette Zoepf

    Hochreiter öffnet die Abrechnungs-App auf ihrem Diensthandy, gibt die Ganzkörperwäsche für 15,70 Euro ein. So weit, so einfach. Doch nicht immer sind erbrachte Leistungen so klar abzuhaken. Schließlich hat man es mit hilfsbedürftigen Menschen zu tun. Nicht alle zeigen sich kooperativ. Vielleicht haben sie einen schlechten Tag, sind verwirrt oder antriebslos. Die Gründe sind so verschieden, wie es Menschen nun mal sein können. Kollegin Sonja Prause, die Hochreiter heute begleitet, gibt ein Beispiel. „Man will einem Klienten ein Medikament verabreichen, aber er weigert sich. Man nimmt sich Zeit, redet ihm gut zu, motiviert ihn. Doch es ist nichts zu machen. Zum Schluss lässt man ihm das Medikament einfach da und fährt wieder.“ Lässt sich die Medikamentenabgabe nun abrechnen? Nein, sagt Prause, die bei der AWO für Qualitätskontrolle zuständig ist. Solche Situationen, in denen es zur Auslegungssache werden kann, ob eine Leistung erbracht wurde oder nicht, sind in der Pflege keine Seltenheit. Klar, dass hier auch unsauber gearbeitet wird.

    "In der Pflege wird sicherlich niemand reich"

    Eckard Rasehorn, Leiter der Augsburger AWO, kritisiert: „Die Regelungen, die am grünen Tisch gemacht wurden, stimmen oft nicht mit der realen Welt überein.“ Für Pflegedienste stelle sich oft die Frage, was leistbar ist, um den Betrieb wirtschaftlich aufrechtzuhalten. „In der Pflege wird sicherlich niemand reich.“ Außer man hat kriminelle Energie.

    Patricia Kerry ist die Frau, die solche Fälle aufdecken soll. Sie steht, wenn man so will, auf der anderen Seite des Systems. Kerry, 57, ist gelernte Krankenschwester, war Pflegedirektorin in einer Klinik. Seit sechs Jahren arbeitet sie als Prüferin beim MDK, dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Der MDK begutachtet nicht nur Versicherte und entscheidet, welche Pflegegrade sie bekommen. Er überprüft auch die Arbeit von Pflegeheimen und ambulanten Diensten. Ein Mal im Jahr wird Kerry bei Firmen vorstellig, kontrolliert, ob sie die vereinbarte Leistung erbringen, ob die Pflege richtig ausgeführt und abgerechnet wird. Kerry und ihre Kollegen überprüfen Dienst- und Tourenpläne, führen Gespräche mit Patienten, kontrollieren Abrechnungen. Nur: Dafür müssen sie sich einen Tag vorher anmelden.

    Johanna Sell, stellvertretende Geschäftsführerin des MDK Bayern, sagt: „Das ist wichtig, damit wir unserem Auftrag nachkommen können. Es nützt nichts, wenn unsere Mitarbeiter jeden Tag vor verschlossenen Türen stehen.“ Hans Kornprobst, Chef der Staatsanwaltschaft München I, die in ganz Südbayern für den Betrug im Gesundheitswesen zuständig ist, sieht es anders. Deutschlands Gesundheitssystem sei in Teilen ein „Schlaraffenland für Kriminelle“. Denn die Ermittler im Pflegeskandal stellten fest, dass bei vielen ambulanten Diensten hektische Betriebsamkeit ausbrach, sobald sich die MDK-Prüfer anmeldeten. Dokumente wurden neu erstellt, Rollatoren zu Patienten gebracht, die gar keinen benötigen, einige Senioren sollen sogar gegen ihren Willen Beruhigungsmittel bekommen haben. Auch Johanna Sell kennt die Geschichten von der „MDK-Pille“, mit der Versicherte außer Gefecht gesetzt wurden, ebenso wie man die schwarzen Schafe der Branche kenne. „Aber uns als MDK fehlt die Handhabe.“

    Bei der Razzia fanden die Ermittler in einer Wohnung drei Millionen Euro Bargeld

    Die Augsburger Ermittler sind überzeugt, einige schwarze Schafe gefunden zu haben. Etwa den Geschäftsführer eines Augsburger Pflegedienstes, in dessen Wohnung sie drei Millionen Euro Bargeld in zwei Koffern fanden. Bei der Großrazzia gegen die sogenannte Pflegemafia im Oktober in Augsburg wurden 13 Verdächtige verhaftet. Die Ermittlungen richten sich gegen rund 70 Beschuldigte. Die meisten sind Betreiber. Auch Mitarbeiter von Pflegediensten und Patienten selbst sind darunter. Sogar Angehörige und Ärzte sollen zu Komplizen gemacht worden sein.

    Vermutet hat AWO-Chef Rasehorn solch kriminelle Machenschaften schon lange. „Man weiß seit Jahren, dass bei manchen Diensten nicht nur etwas getrickst, sondern systematisch betrogen wird.“ Mit der Folge, dass die Kriminellen damit die gesamte Branche in ein schlechtes Licht rücken. Seine Mitarbeiter müssten sich nun Fragen gefallen lassen, wo sie denn ihre Millionen versteckt hielten. „Dabei haben wir Dienste sowieso schon Probleme, genügend Kollegen zu finden.“ Mindestens genauso schlimm findet er, dass diese Fälle das Misstrauen zwischen Krankenkassen, Pflegediensten, Patienten und Angehörigen schürten. Dabei sei gerade gegenseitiges Vertrauen in der Branche immens wichtig. Vor allem wünscht sich Rasehorn mehr Vertrauen zwischen Kostenträgern und Pflegediensten, um den Bürokratieaufwand zu minimieren. „Man könnte sich hier so vieles leichter machen.“ Betrügereien, bedauert der 62-Jährige, werde man jedoch nie ausschließen können.

    Pflegedienste sollen mit Belohnungen gearbeitet haben

    Vor allem, wenn die Pflegebedürftigen mitspielen, so wie das in Augsburg gewesen sein soll. Senioren wurden kränker gemacht, als sie es tatsächlich waren, gesunde Menschen zu scheinbar Pflegebedürftigen. So konnten Leistungen abgerechnet werden, die nicht erbracht wurden – das An- und Ausziehen von Stützstrümpfen oder die Gabe bestimmter Medikamente. Die Begutachtung durch die MDI-Prüfer lehnten die Patienten einfach ab. Das ist zulässig, betont Sell, aber eine klare Manipulationsgefahr. „Wenn ich nicht will, dass mir jemand unter die Bettdecke schaut, muss ich das auch nicht zulassen. Für uns bedeutet das, wir kommen da nicht ran.“

    Um die Klienten als Komplizen zu gewinnen, sollen kriminelle Pflegedienste mit Belohnungen gearbeitet haben. Bisweilen reichte dafür regelmäßig ein Stück Kuchen, manchmal waren es monatliche Zahlungen zwischen 20 und 120 Euro – für Sozialhilfe-Empfänger viel Geld. Zugleich nahmen bestimmte Anbieter Patienten nur unter der Bedingung auf, dass diese eine Prüfung durch den MDK verweigern, sagt Sell. „Und es ist nicht so leicht, heute einen Pflegedienst zu finden.“

    Der Mangel, der im Pflegesystem regiert, sagen Experten, macht Familien und Kassen erpressbar. Familien, weil sie Angst haben, ohne Hilfe für einen Pflegebedürftigen dazustehen. Kassen, weil sie sich schwertun, Konsequenzen zu ziehen – selbst wenn Verstöße aufgedeckt werden. Denn wenn man einem Dienst kündigt, der 100 Patienten versorgt – welcher soll die dann übernehmen? Je größer der Fachkräftemangel, desto größer wird auch das Problem. Bundesweit dürften bis zum Jahr 2030 rund 130.000 Pflegekräfte fehlen.

    Valeria Hochreiter, die fleißige Frau mit den kurzen blonden Haaren, ist froh, wenn sie bis zur Rente durchhält. Sie will ihre Arbeit nach bestem Gewissen erledigen, den Menschen eine Hilfe sein. Wenn eine Klientin wie Theodora Heinsch Dankbarkeit zeigt, ist das für sie ein Geschenk. Die Pflegerin und die Patientin scherzen. Dafür haben sie immer Zeit. „Sie sagt oft, ich sei 28 und nicht 82 Jahre alt“, sagt Heinsch. Der Besuch des Pflegedienstes ist mehr für sie als eine bloße Dienstleistung. Die kleine Wohnung im großen Wohnblock füllt sich mit menschlicher Wärme.

    Hochreiter und ihre Kollegin Prause verabschieden sich. Die nächste Klientin wartet. Auf dem Weg nach draußen sprechen sie über den Pflegebetrug. Schlimm finden sie das. Nicht nachvollziehbar, vor allem, weil Pflegekräfte bei dem miesen Spiel mitgemacht haben. „Man übt den Beruf doch nicht aus, um sich zu bereichern“, sagt Prause und schüttelt den Kopf. „Man hat doch einen Ehrenkodex und achtet darauf, dass man in einem serösen Betrieb arbeitet.“ Schon, weil Pflegekräfte händeringend gesucht werden und man sich den Arbeitgeber aussuchen kann. „Da werden Arbeitsverträge sogar am Telefon abgeschlossen.“

    Die beiden steigen ins Dienstauto. Übermorgen wird Valeria Hochreiter oder eine Kollegin in der Früh wieder bei Theodora Heinsch klingeln, um die Seniorin zu duschen. Sie kann sich gewiss sein, dass die Tür mit einem Lächeln geöffnet wird.

    Hören Sie sich dazu unseren Podcast zu den Hintergründen des Pflegeskandals an. Sie finden den Podcast "Augsburg, meine Stadt" auch bei Spotify, iTunes und überall, wo es Podcasts gibt.

    Lesen Sie dazu auch:  So finden Sie einen seriösen ambulanten Pflegedienst

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